8. Januar 2020

Verwirrspiel mit der Wahrheit





Den Schriftsteller Gustav Meyrink kennt man von seinem berühmten Roman „Der Golem“. Viel mehr ist mir von diesem Autor nicht bekannt, und allein aus diesem Grund lohnt es sich, den Roman von Christoph Poschenrieder „ Der unsichtbare Roman“ zu lesen, denn mich regt die Verknüpfung von Historie und Fiktion, die hier auf ungewöhnliche Weise und sehr gut gelungen ist, zu weiteren Nachforschungen an. 

Gegen Ende des Ersten Weltkrieges ist die Schuldfrage zu klären, und zu diesem Zweck beauftragt das Auswärtige Amt aus Berlin den damaligen Bestsellerautor Gustav Meyrink mit dem Schreiben eines Romans, der die Schuld den Freimaurern in die Schuhe schiebt. Meyrink, am Starnberger See mehr dem Yoga und Rudern als der Politik zugetan, kassiert trotz anfänglicher Bedenken, den reichlichen Vorschuss und bringt sich damit in Zugzwang.

Der Autor entspinnt nach diesem Auftakt, der auf einer Tatsache beruht, auf höchst amüsante und unterhaltsame Weise die Lebensgeschichte des Autors und die Geschichte des unsichtbaren Romans um die Schuld am Krieg, der von Meyrink nie veröffentlicht wurde. Dabei folgt er der Handlungslinie zum Kriegsende und während der Novemberrevolution in München, bei der man Schriftsteller wie den stets ausgehungerten Anarchist Erich Mühsam oder den Politiker und ersten Ministerpräsidenten des Freistaates Bayern Kurt Eisner trifft. In Rückblenden wird von Meyrinks turbulentem Leben erzählt, episodenhaft als Erinnerungen. Zusätzlich schaut man dem Autor selbst über die Schulter, Poschenrieder hat einige Recherchenotizen in die einzelnen Kapitel aufgenommen, was eine Unterscheidung von Wahrheit und Fiktion zu ermöglichen scheint und auf mich originell und passend wirkt. Es sind Wegmarken im Geschehen, Anker in der Zeit, die sich auf Ereignisse und Personen beziehen.

Meyrink (1868 bis 1932) der oft für jüdisch gehalten wurde, stammt aus Prag und muss ein ungewöhnlicher Charakter gewesen sein. Er begann seine Karriere als Bankier in Prag, scheiterte, wandte sich der Alchemie und dem Spirituellen zu, ging bei einem Yogi in die Lehre und begann schließlich damals sehr erfolgreich Romane zu schreiben, die Auflagen vergleichbar mit denen von Karl May erreichten. Er war völlig unpolitisch, lebte in einem Haus am Starnberger See und war trotz seiner guten Verkaufszahlen oft knapp bei Kasse. 
Dass Christoph Poschenrieder sich zwar mehr oder wenig an diesen Lebensdaten entlanghangelt, aber als Hauptthema des Buches die ungewöhnliche Episode der Auftrages zu einem Freimaurerroman auswählt und durch seine Varianten in den eingeschobenen Notizen ein Versteckspiel mit der Wahrheit betreibt und den Leser mit dem unsichtbaren Roman fast an der Nase herumführt, ist außergewöhnlich und gefällt mir ausgezeichnet. Es passt für mich zu Meyrink, den man auch erst suchen muss und der so viele Gesichter hatte und sich mehrmals neu erfand. Zudem bekommt man so als Leser die Möglichkeit des Einblicks in die Schreibwerkstatt Poschenrieders.

Der Propaganda-Roman wurde nie geschrieben, auch wenn Meyrink (und Poschenrieder) das Auswärtige Amt und den Leser an der Nase herumführen, ein anderer wurde beauftragt - der Deutsch-Nationale Friedrich Wichtl, der mit seinen antisemitischen Hetzschriften den Nazis in die Hände spielte. Aber letzteres ist nur Randnotiz in Poschenrieders Roman, der den Beginn der Münchner Räterepublik und das Leben Gustav Meyrinks beleuchtet. Packend und fantastisch geschrieben ist das Buch bis zur letzten Seite offen und ein Verwirrspiel. Es macht einfach Spaß, dieses Buch zu lesen.


Christoph Poschenrieder „Der unsichtbare Roman“
Roman gebunden, 270 Seiten
Erschienen im Diogenes Verlag
am 25. September 2019
ISBN 978-3257070774

Preis 24 €

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