27. August 2022

Traurig-melancholisch, berührend und zauberhaft

 



Sanft und melancholisch ist der Text, berührend und traurig die Geschichte, zauberhaft und mystisch die beschworenen Bilder des Buches „Der Duft von Eis“ von Yoko Ogawa. Dennoch brodelt es unter der Oberfläche, und wenn der zarte Schleier angehoben wird, erahnt der geneigte Leser die Brutalität, die die diskrete Zurückhaltung verdrängen möchte.


Ryoko kann nach dem Tod ihres Liebsten Hiroyuki erst trauern, wenn sie verstanden hat, warum er sich das Leben nahm. Ein begabter Parfümeur und für sie für ein glückliches Jahr die perfekte Ergänzung ihrer selbst war er. Die junge Frau fühlt sich zersplittert, nichts in ihrem Leben passt mehr und ihre Welt ist aus der Bahn geraten. Auf der Suche nach Erklärung stößt sie auf ein Leben, das sie nicht gekannt hat. Sie folgt Hiroyukis Spuren in dessen Vergangenheit, denen eines begabten Eiskunstläufers und auch denen eines großartigen Mathematikgenies. Neugierig und überrascht reist Ryoko schließlich nach Prag, um dort herauszufinden, warum sein Leben vor 15 Jahren bei einem internationalen Mathematikwettbewerb eine abrupte Wende nahm.


Viele Szenen des Romans spielen im märchenhaften Prag voller Geheimnisse, Düfte und Bilder. Japanische Kultur verwebt sich mit europäischen melancholisch-mystischen Elementen und erzeugt eine einzigartige Stimmung, die den Roman trägt. Leise und sanft sind die Figuren gezeichnet, undurchsichtig und verschleiert agieren sie. Hiroyukis Mutter zum Beispiel lebt in ihrer eigenen Welt und hat während Ryokos Suche nur einen lichten Moment, hält aber immer noch die Lebensfäden der Familie ihren unfähigen Händen. Oder Ryokos Begleiter in Prag, ein junger Tscheche, scheint mehr intuitiv als aufgrund von Wissen zu agieren. Ryoko kann sich sprachlich nicht mit ihm verständigen, er führt sie dennoch zu genau den Orten, die sie zu suchen scheint. Und dort befinden sich die Schnittstellen zwischen Realität und Imagination, zwischen dem was ist und dem was in der Vergangenheit gewesen sein könnte und zart in die Gegenwart rankt.


Das Buch hat mich berührt und gefesselt, wegen der Geschichte mit ihren vielschichtigen Aspekten und den ungewöhnlichen Gespinsten, bei denen das Ende eines Fadens zunächst im zarten Dunst verschwindet, und auch wegen der sanften zerbrechlichen Art der Sprache selbst. Ich habe noch nicht viel asiatische Literatur gelesen, und Yoko Ogawa scheint eine ganz besondere Begabung dafür zu haben, die für mich exotische Fremdartigkeit der asiatischen Kultur mit viel Liebe zu ihren Figuren in leise und spannende Geschichten voller Doppelbödigkeit zu packen. Ich möchte auf jeden Fall mehr davon lesen.


Wer moderne japanische Literatur kennt und liebt, dem ist der Name der Autorin wohl ein Begriff, schließlich  erhielt sie viele wichtige Literaturpreise und ihr letztes Buch „Insel der verlorenen Erinnerung“ stand in der englischsprachigen Ausgabe auf der Nominierungsliste für den National Book Award und den International Booker Prize.




Yoko Ogawa „Der Duft von Eis“

Roman mit Schutzumschlag, 264 Seiten, € 24,00

erschienen bei Liebeskind Verlagsbuchhandlung

am 22.August 2022

ISBN 978-3-95438-150-0


Bildquelle: www.liebeskind.de

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