15. November 2020

Was Nina wusste



Frauenschicksal, Familienroman, Entwicklungsroman und eine Lektion in Europäischer Geschichte ist Davis Grossmans neuer Roman „Was Nina wusste“. Das Buch erzählt von Leid in einem totalitärem Regime, das Generationen später spürbar und greifbar ist. Und es erzählt auch davon, wie spätere Generationen einer Familie sich dem stellen und einen Ausweg für sich finden können. Davis Grossmans Roman beruht auf einer wahren Geschichte, und der Autor erzählt sie mit großem Können, sensibel und meisterhaft.


Vera Bruck feiert im großen Kreis ihren 90.Geburtstag im Kibbuz, glücklich und aufgehoben in ihrer Familie. Die Enkeltochter Gili, mittlerweile 39 Jahre alt, beschließt eine. film über Vera zu drehen. Kurz danach tritt sie eine Reise in Veras düstere Vergangenheit an, und von dieser Reise berichtet das Buch. Vera und Gili, begleitet von ihrer Tochter Nina, Raffael, dem Stiefsohn Veras aus zweiter Ehe und zugleich Vater Gilis, reisen nach Kroatien. Der Weg führt auf den Spuren von Veras Vergangenheit schließlich auf die ehemalige Gefängnisinsel Goli Otok, wo Vera unter dem Diktator Tito inhaftiert gewesen ist. Veras Leben wird aufgerollt, sie erzählt von ihrer Kindheit, von ihrer Ehe mit ihrer großen Liebe mit dem Serben Milos Novak, den die Jüdin Vera 1936 im Alter von 18 Jahren heiratete, vom Deutschen Überfall auf das jugoslawische Königreich und dem nationalsozialistischen Judenmord, der Nachkriegszeit unter Tito und der Abkehr des kommunistische. Diktators von der Sowjetunion, als die politischen Verfolgungen in Jugoslawien begannen. Vera wurde verhaftet und Milos überlebte den Terror nicht. Schließlich zog Vera mit ihrer Tochter Nina nach Israel, lernte dort im Kibbuz 1963 ihren zweiten Mann und dessen Sohn Raffael kennen.


Drei Frauengenerationen sind durch Veras Schicksal verbunden, und auf der Reise bewegen sich alle Geschichten um die Folgen des Todes von Milos, Veras über alles geliebten Ehemann. Selbst Gili, die erst Jahre nach der Tragödie zur Welt kam, lebt in diesem Schatten, denn sie war als Kind von ihrer Mutter Nina verlassen worden, und sie teilt dieses Schicksal mit ihrer Mutter Nina, die nach dem Tod von Milos und Veras Inhaftierung bei Fremden aufwuchs. Gili konnte zwar bei ihrem Vater Raffael leben, doch die beiden liebten und vermissten Nina schmerzlich. Nina lebte und lebt ein unkonventionelles nymphomanisches Liebesleben, bei dem Raffael nur der Beginn eines langen Protestweges gegen ihre Mutter Vera darstellt. 

Vier Versehrte einer zersplitterten Familie finden sich einem kleinen Citroën im heutigen Kroatien zusammen und versuchen gemeinsam, die Vergangenheit zu verstehen und sich einander zu nähern. Die alles entscheidende Frage, was Vera zu Titos Terrorzeiten passierte und warum sie Nina nicht schützen konnte, umkreisen alle Reisenden der Gruppe, und Vera stellt sich dieser Frage nur zögerlich.


Gili erzählt die Geschichte aus ihrer Sicht, als Mitglied der Gruppe, als versehrtes Familienmitglied und als Frau hinter der Kamera, die während der Reise im Jahr 2008 Aufzeichnungen macht. Sie kennt das größte Geheimnis ihrer Großmutter, ein Privileg, das Nina nie hatte. Gili ist letztlich der Mittelpunkt des Buches, um den sich der Plot dreht, und auch wenn letztlich Veras und Ninas Geschichte aufgerollt werden kommt man keiner der Figuren so nahe wie ihr. 

Nina, distanzierte titelgebende unschuldig Gepeinigte bekommt auf der Reise alles enthüllt, was sie bis dahin nicht wusste, und man leidet beim Lesen mit ihr und ihrem Schicksal, das ihr zuletzt Alzheimer beschert hat und die Panik vor dem Vergessen. 

Die alte Vera wächst ans Herz, stark, witzig und voller Lebensmut kämpft die alte Dame im hohen Alter gegen Israelische Besatzungspolitik. Als Mittelpunkt der Familie schafft David Grossman mit ihre ein Frauenportrait, das man umarmen und bewundern möchte, für das was sie erlebte und für das was sie jetzt ist. 

Für Vera Bruck stand ein reales Vorbild Pate - Eva Panic-Nahir, die 2015 im Alter von 97 Jahren verstarb, Freundin des Autors, dem sie ihre Lebensgeschichte erzählte.


Mit Liebe und mit Härte hat David Grossman einen Roman geschaffen, dem man sich nicht entziehen kann, dessen Essenz kaum in Worte zu fassen ist und den man unbedingt selbst lesen muss, um sich ein Bild machen zu können davon, wie unbegreiflich Nachwirkungen eines schweren Risses Familien prägen, über Generationen, und dass es immer Hoffnung auf Heilung gibt.







David Grossman „Was Nina wusste“

Roman gebunden, 351 Seiten

Erschienen im Hanser Verlag 

Am 17. August 2020

ISBN 978-3446267527

Preis 25 €



11. November 2020

Ungewöhnlicher Blick auf die Kolonialisierung

 



Brian Moore hat mit seinem Roman „Schwarzrock“ ein sagenhaftes Abenteuerbuch geschrieben, das Einsichten in das Leben der indogenen Völker und der Missionare gleichermaßen erlaubt. Weit weg von Karl May- oder James Fenimore Cooper-Romantik beschreibt er in seinem bereits 1985 erschienenen Roman das harte Leben in der Mitte des 17.Jahrhunderts, als französische Jesuiten die Ureinwohner im heutigen Kanada missionierten. Es ist ein nüchtern geschriebener vollkommen ungewöhnlicher Blick auf die Kolonialisierung, der auf ausführlicher Recherche basiert und keine Partei ergreift, weder für die Seite der Huronen, Algonkin und Irokesen, noch für die der Missionare, sondern zeigt, wie unvereinbar die beiden Welten von Grund auf waren. Dass dies noch in eine äußerst spannende Abenteuergeschichte verpackt daher kommt, macht das Buch zu einem ganz besonderen Lesevergnügen.


Etwa in der Mitte des 17.Jahrhunderts macht sich der Jesuit Père Laforge mit dem jungen Übersetzer Daniel auf die beschwerliche Reise von Québec zur nördlich der großen Stromschnellen gelegenen Mission Ihonatria. Ein Fieber ist dort ausgebrochen, und die Wilden bezichtigen die dort ansässigen Schwarzröcke, sie hätten die tödliche Krankheit geschickt. Laforge begibt sich mit Jägern vom Stamm der Algonkin nach Norden, die auf dem alljährlichen Weg in ihre Winterjagdgründe sind. Daniel hatte sich in eine junge Algonkin verliebt und reist hauptsächlich wegen ihr mit.


Bereits zum Beginn der Reise prallen europäische und indianische Lebensweisen aufeinander, die Moore nüchtern und wertungsfrei darstellt. Essen und Völlerei ist das höchste Glück der Algonkin, Träumen und Visionen muss dieses Volk gehorchen, Sex wird von den jungen Frauen freigiebig verschenkt. Frauen werden ausgenutzt und von den Algonkin-Männern wie Hunde behandelt.

Authentisch beschrieben sind alltägliche Dinge wie das Jagen und Aufbauen des Wigwams, in dem alle gemeinsam schlafen, das Kochen und Essen, Ratssitzungen, Rituale und Zauberei.

Die sehr lebendigen Darstellungen der Lebensgewohnheiten der Algonkin, das halbgare ungewürzte Essen, die Gerüche beim Schlafen im Wigwam sind ungewohnt und beim Lesen manchmal mehr als rau. Schnörkellos und ohne Scham beschreibt Moore die Sexualität, die bei den Algonkin wie bei vielen anderen Naturvölkern auch den Stellenwert hat, einfach ein Bedürfnis zu befriedigen.


Der gefährliche Weg führt durch Gebiet der Irokesen, Feinde der Algonkin, und beim Zusammentreffen mit den Reisenden wird die Grausamkeit dieses Volkes mit seinem Feinden deutlich, von Folter bis zum rituellen Kanibalismus.

Schließlich landet Laforge in der Mission Ihonatria, findet den dortigen Père geschwächt und krank, den anderen getötet wie er es befürchtet hatte


Es sind die grundlegenden Lebensideen, die so unvereinbar und unterschiedlich sind, dass wenig Verständnis für die jeweils andere Seite aufgebracht werden kann. Die Indianer leben im Hier und Jetzt, auch wenn es grausam und beschwerlich erscheint, die Missionare fiebern dem Leben nach dem Tod im Paradies entgegen. Das verbaut Moore ganz wunderbar in Debatten über das Diesseits und das Jenseits, mit seinem Blickwinkel eines kritischen Katholiken:


„Die Sonne, der Wald, die Tiere. Das ist alles, was wir haben. Nur weil ihr Normannen taub und blind seid, glaubt ihr, dass diese Welt eine Welt der Dunkelheit und die Welt der Toten eine Welt des Lichts ist. Wir, die wir den Wald und die Warnungen des Flusses hören können, die wir mit den Tieren und Fischen reden und ihre Gebeine achten, wir wissen, dass dies nicht die Wahrheit ist.“


Die Überheblichkeit und das Überlegenheitsgefühl ist auf Seiten der Jesuiten ebenso zu finden wie bei den Wilden. Die Fremdheit, die die indigene Kultur auf die Europäer ausgeübt haben muss, vermag Brian Moore sehr authentisch und anschaulich darzustellen, in verschiedenen Lebenssituationen und in keiner Weise beschönigt und romantisiert.

Auf der einen Seite die Jesuiten, die zu jedem Sterbenden eilen, um Seelen zu ernten, mit ihrer spätmittelalterlich-europäischen Verklemmtheit unfähig, die ursprüngliche Lebensweise der Ureinwohner zu akzeptieren, aber dennoch nicht gefeit gegen die Verlockungen, die davon ausgehen. Auf der anderen Seite die Algonkin, mit ihrem fest verwurzelten Patriarchat, überheblich und unwillig den Normannen gegenüber, die sie als vollkommen lebensunfähig betrachten.


Am Ende beginnt der Jesuit Laforge an christlichen Zeremonien zu zweifeln, er betrachtet sie mit den Augen der Wilden:

„Die Hostien im Tabernakel waren Brot, verwandelt in den Leib Christi durch eine Zeremonie, die nicht weniger merkwürdig war als die Zeremonie der Wilden“

Doch er bleibt ein Kind seines Glaubens und seiner Erziehung und kann nicht wirklich aus seiner Haut, trotz beginnenden Verständnisses. Der Versuch, seine eigene Seele zu retten scheint gescheitert.


„Schwarzrock“, unter anderem basierend auf Berichten der damals missionierenden Jesuiten, ist ein brilliantes Buch, das Brian Moore schrieb, für mich fesselnd und lehrreich. Es ist kein glattes und sauberes Buch sondern fordert beim Lesen heraus, was ich überaus schätze.



Brian Moore „Schwarzrock“

Roman gebunden, 288 Seiten

Erschienen bei Diogenes-Verlag am 20. September 200

ISBN 978-3257071450

Preis 24 €