9. Juli 2018

Kunstvolles Geflecht





Der Roman „Die Unruhigen“ von Linn Ullmann, auf den ersten Blick sowohl fiktiv als auch autobiografisch, lässt sich nicht gleich und leicht in ein Genre einordnen. Es ist ein Buch über das Erwachsenwerden einer ungeduldigen Tochter, über das Kindseinwollen ihrer berühmten Eltern, über das Vergessen und das Erinnern.

Linn Ullmann schreibt ihre unvollständige Lebensgeschichte über das Aufwachsen, über ihr berühmten und getrennt lebenden Eltern, die Schauspielerin Liv Ullmann und den Filmregisseur Ingmar Bergmann. Nicht gemeinsam erlebend und erzählend, sondern immer mit Erzählerblick von außen auf zwei Personen des getrennten Dreiergespanns: Vater-Tochter, Mutter-Tochter, Mutter-Vater. Jeweils einer führt Regie, hält die Linse auf das Geschehen, erzählt. Im Mittelpunkt des Buches stehen Gespräche, was dem ursprünglichen Plan der Autorin entspricht, nämlich das Altern ihres Vaters zu dokumentieren und ein gemeinsames Buch darüber zu schreiben. Umsetzen konnte Linn Ullmann dieses Projekt so nicht, das Alter ihres Vaters machen ihr einen Strich durch die Rechnung, und so kam dieser genreüberschreitende Roman heraus, bei dem die transkribierten Gespräche mit ihrem Vater zwar den roten Faden bilden, aber durch Momentaufnahmen, Detailreichtum und unruhige Suche verliert sich diese Linie wieder in fast cineastisch anmutenden Einzelszenen.

Wenn man sich darauf einlassen kann fällt es nicht zuletzt durch den entspannten Erzählstil leicht, in diese Welt einzutauchen, und auch wenn etwas Unruhe im Buch entsteht durch immer wieder eingeschobene Briefe, Tagebuchauszüge, Momente mit Dialogauszügen, was hohe Aufmerksamkeit beim Lesen erfordert, wirkt die Atmosphäre insgesamt ruhig und gemütlich.

Auch wenn ich die Idee zum Buch und die Umsetzung sehr gut finde, modern und ein bisschen gewagt, interessant und spannend, ist es einfach nicht wirklich die Art des Lesens für mich, und ich habe mich etwas schwer damit getan. Die Geschichten und Erinnerungen selbst sind aufschlussreich und fesselnd, aber das wirklich kunstvolle literarische Geflecht war mir stellenweise einfach zu viel.

Linn Ullmann, geboren 1966, ist eine bedeutende und preisgekrönte norwegische Schriftstellerin und Journalistin, die in Oslo lebt und arbeitet. 2017 wurde sie für ihr Gesamtwerk ausgezeichnet.

Der Roman „Die Unruhigen“ war für den Kritikerpreis und für den Norwegischen Literaturpreis nominiert und wurde mit dem Hörerpreis des Norwegischen Rundfunks prämiert.




Linn Ullmann „Die Unruhigen“
Roman gebunden, 416 Seiten
Luchterhand Literaturverlag
11. Juni 2018
ISBN 968-3630874210
22,00 €

4. Juli 2018

Palästinensische Lebenslinien





Die palästinensisch-amerikanische Autorin Hala Alyan hat mit ihrem Buch „Häuser aus Sand“ einen Generationenroman mit Fokus auf den Frauen der Familie Jakoub geschrieben, der sich mit der Heimatlosigkeit und der Sehnsucht nach Frieden und Geborgenheit auseinandersetzt

Wie Sand zwischen den Fingern verrinnen und vergehen die Häuser der Familie, die über mehrere Generationen auf der Flucht vor Krieg und Gewalt ist. Beginnend mit Vertreibung und Fluch vom angestammten Familienbesitz mit Orangenplantage aus Jaffa am Mittelmeer 1948 führt der Weg über Nablus im Westjordanland, nach Kuweit-Stadt und Ammam in Jordanien bis nach Beirut im Libanon, ständig begleitet von Krieg, Angst und Verlust.
Alia, deren Lebensweg man im Roman verfolgt, kann sich an die Schönheit Jaffas im Gegensatz zu ihrer Mutter nicht mehr erinnern. Sie war 3 Jahre alt, als die Israelis die Stadt einnahmen und die Familie vertrieben wurde. Nablus ist ihre wahre Heimat, hier wächst sie auf, lebt im Glück mit ihrem Ehemann Atef, umgeben von ihrer Familie. Bis der von der arabischen Allianz gegen Israel verlorene Sechstage-Krieg 1967 die Familie zur erneuten Flucht zwingt, nach Kuweit-Stadt in die sengende Hitze bzw. nach Ammam in Jordanien. Wie zuvor ihre Mutter fühlt sich Alia in Kuweit unwohl, fremd und heimatlos. Sie lebt wie eine Gefangene mit einem kleinen Lichtblick auf den Sommer jedes Jahr, den sie bei ihrer Familie in Ammam verbringt. Auch Kuweit wird vom Krieg mit dem Irak überrollt, 1990 verlässt Alia mit ihrer Familie das Land, das nächste Haus steht in Ammam, viel kleiner als alle vorherigen, weil die finanziellen Verluste bei der Flucht groß waren. Die letzte Lebensstation von Alia ist die Sommerwohnung in Beirut, auch hier wieder umgeben von Krieg und Bombardement im Juli 2006.
Die Kinder und Enkelkinder streuen sich im Laufe der Jahre in viele Richtungen, nach Paris, Boston, New York, widerspenstig gegen dem Festhalten an Tradition und Heimatverbundenheit in ihrer Jugend, begreifend und Halt suchend in späteren Jahren. Manar, Alias Enkelin, reist 2014 ins alte Palästina, von Jerusalem aus verfolgt sie ihre Wurzeln in Jaffa, Nablus und anderen Städten, füllt ihre Taschen mit Erde und sucht ein Gefühl für die alte Heimat ihrer Familie.

Die Geschichte hangelt sich an Kriegs-Ereignissen entlang, die letztlich die Hoffnung einer Palästinensische Familie auf Rückkehr in ihre alte Heimat zerstören. Auch wenn nur Alias Mutter Salma jemals in Palästina gelebt hat ist das Leben der Familie über mehrere Generationen davon geprägt, einen Ort für sich zu finden, an dem es Hoffnung, Sicherheit und eine Heimat gibt. Und auch wenn sich alle an den neuen Orten, in den neuen Häusern, mit dem Alltag irgendwie arrangieren, so bleiben sie doch Flüchtlinge in einem fremden Land.
Die Familie Jakoub ist reich, und trotz vieler Verluste gelingt es an jedem neuen Ort, ein neues Haus zu erwerben und ein kleines Reich aufzubauen, ihre Existenz neu zu ordnen, Bedienstete einzustellen und ein augenscheinlich recht bequemes Leben zu leben - auf Zeit, bis zur nächsten Flucht.

Das Buch ist interessant und sehr angenehm zu lesen, trotz der schwierigen Problematik, die darin behandelt wird. Es ist ein in meinen Augen typisches Frauen-Buch mit bewusstem Blick auf den Frauen der Familie, ihren Stärken und auch ihren Schwächen.
Mir hätte ein bisschen mehr Fokus auf politischen Hintergründen besser gefallen, aber das ist eindeutig Geschmacksache. Zumal man mit dem üblichen geschichtlichen Hintergrundwissen anhand von Jahreszahlen und Orten ganz klar zuordnen kann, welche Kriege und Konflikte im Buch erwähnt sind, ohne nachschlagen zu müssen.

Die Autorin hat sich für den Weg einer reichen palästinensische Familie entschieden, und obwohl mich auch der Weg ärmerer Palästinenser sehr interessiert, akzeptiere ich natürlich ihren Schwerpunkt. Ein bisschen gefehlt hat mir der Konflikt zwischen Tradition und Moderne, der durchaus am Rande erwähnt wird und gerade bei einem Roman über arabische Frauen mehrerer Generationen in meinen Augen wichtig ist. Hier scheint jedoch die Toleranz innerhalb der Familie groß zu sein, zumindest möchte mir die Autorin das glauben machen.
Es gibt für mich einiges anderes, was das Buch an Konflikten vermissen lässt und wie glattgebügelt wirkt, zum Beispiel die Normalität der Bediensteten, die in fernen Ländern Kinder haben und sie maximal einmal im Jahr sehen können. Ganz kurz hat eines der Mädchen von Alia damit ein kleines Problem am Rande, mehr jedoch nicht. 
Zudem wirkt das Buch etwas einseitig und parteiisch, auf die palästinensische Seite verschoben.


Insgesamt ist „Häuser aus Sand“ ein Buch, das viel Konfliktpotenzial bietet und bei entsprechendem Fokus meine rückhaltlose Begeisterung bekommen hätte. So ist es für mich ein sehr gut zu lesender und spannender Familienroman mit interessantem historischen Hintergrund, aber auch ein ganz klein wenig zu seicht für meinen Geschmack.


Hala Alyan „Häuser aus Sand“
Roman, gebunden, 396 Seiten
Dumont Verlag
Erschienen am 18.Juni 2018
ISBN 978-3832198558
24,00 €
Originaltitel: Salt Houses