15. November 2020

Was Nina wusste



Frauenschicksal, Familienroman, Entwicklungsroman und eine Lektion in Europäischer Geschichte ist Davis Grossmans neuer Roman „Was Nina wusste“. Das Buch erzählt von Leid in einem totalitärem Regime, das Generationen später spürbar und greifbar ist. Und es erzählt auch davon, wie spätere Generationen einer Familie sich dem stellen und einen Ausweg für sich finden können. Davis Grossmans Roman beruht auf einer wahren Geschichte, und der Autor erzählt sie mit großem Können, sensibel und meisterhaft.


Vera Bruck feiert im großen Kreis ihren 90.Geburtstag im Kibbuz, glücklich und aufgehoben in ihrer Familie. Die Enkeltochter Gili, mittlerweile 39 Jahre alt, beschließt eine. film über Vera zu drehen. Kurz danach tritt sie eine Reise in Veras düstere Vergangenheit an, und von dieser Reise berichtet das Buch. Vera und Gili, begleitet von ihrer Tochter Nina, Raffael, dem Stiefsohn Veras aus zweiter Ehe und zugleich Vater Gilis, reisen nach Kroatien. Der Weg führt auf den Spuren von Veras Vergangenheit schließlich auf die ehemalige Gefängnisinsel Goli Otok, wo Vera unter dem Diktator Tito inhaftiert gewesen ist. Veras Leben wird aufgerollt, sie erzählt von ihrer Kindheit, von ihrer Ehe mit ihrer großen Liebe mit dem Serben Milos Novak, den die Jüdin Vera 1936 im Alter von 18 Jahren heiratete, vom Deutschen Überfall auf das jugoslawische Königreich und dem nationalsozialistischen Judenmord, der Nachkriegszeit unter Tito und der Abkehr des kommunistische. Diktators von der Sowjetunion, als die politischen Verfolgungen in Jugoslawien begannen. Vera wurde verhaftet und Milos überlebte den Terror nicht. Schließlich zog Vera mit ihrer Tochter Nina nach Israel, lernte dort im Kibbuz 1963 ihren zweiten Mann und dessen Sohn Raffael kennen.


Drei Frauengenerationen sind durch Veras Schicksal verbunden, und auf der Reise bewegen sich alle Geschichten um die Folgen des Todes von Milos, Veras über alles geliebten Ehemann. Selbst Gili, die erst Jahre nach der Tragödie zur Welt kam, lebt in diesem Schatten, denn sie war als Kind von ihrer Mutter Nina verlassen worden, und sie teilt dieses Schicksal mit ihrer Mutter Nina, die nach dem Tod von Milos und Veras Inhaftierung bei Fremden aufwuchs. Gili konnte zwar bei ihrem Vater Raffael leben, doch die beiden liebten und vermissten Nina schmerzlich. Nina lebte und lebt ein unkonventionelles nymphomanisches Liebesleben, bei dem Raffael nur der Beginn eines langen Protestweges gegen ihre Mutter Vera darstellt. 

Vier Versehrte einer zersplitterten Familie finden sich einem kleinen Citroën im heutigen Kroatien zusammen und versuchen gemeinsam, die Vergangenheit zu verstehen und sich einander zu nähern. Die alles entscheidende Frage, was Vera zu Titos Terrorzeiten passierte und warum sie Nina nicht schützen konnte, umkreisen alle Reisenden der Gruppe, und Vera stellt sich dieser Frage nur zögerlich.


Gili erzählt die Geschichte aus ihrer Sicht, als Mitglied der Gruppe, als versehrtes Familienmitglied und als Frau hinter der Kamera, die während der Reise im Jahr 2008 Aufzeichnungen macht. Sie kennt das größte Geheimnis ihrer Großmutter, ein Privileg, das Nina nie hatte. Gili ist letztlich der Mittelpunkt des Buches, um den sich der Plot dreht, und auch wenn letztlich Veras und Ninas Geschichte aufgerollt werden kommt man keiner der Figuren so nahe wie ihr. 

Nina, distanzierte titelgebende unschuldig Gepeinigte bekommt auf der Reise alles enthüllt, was sie bis dahin nicht wusste, und man leidet beim Lesen mit ihr und ihrem Schicksal, das ihr zuletzt Alzheimer beschert hat und die Panik vor dem Vergessen. 

Die alte Vera wächst ans Herz, stark, witzig und voller Lebensmut kämpft die alte Dame im hohen Alter gegen Israelische Besatzungspolitik. Als Mittelpunkt der Familie schafft David Grossman mit ihre ein Frauenportrait, das man umarmen und bewundern möchte, für das was sie erlebte und für das was sie jetzt ist. 

Für Vera Bruck stand ein reales Vorbild Pate - Eva Panic-Nahir, die 2015 im Alter von 97 Jahren verstarb, Freundin des Autors, dem sie ihre Lebensgeschichte erzählte.


Mit Liebe und mit Härte hat David Grossman einen Roman geschaffen, dem man sich nicht entziehen kann, dessen Essenz kaum in Worte zu fassen ist und den man unbedingt selbst lesen muss, um sich ein Bild machen zu können davon, wie unbegreiflich Nachwirkungen eines schweren Risses Familien prägen, über Generationen, und dass es immer Hoffnung auf Heilung gibt.







David Grossman „Was Nina wusste“

Roman gebunden, 351 Seiten

Erschienen im Hanser Verlag 

Am 17. August 2020

ISBN 978-3446267527

Preis 25 €



11. November 2020

Ungewöhnlicher Blick auf die Kolonialisierung

 



Brian Moore hat mit seinem Roman „Schwarzrock“ ein sagenhaftes Abenteuerbuch geschrieben, das Einsichten in das Leben der indogenen Völker und der Missionare gleichermaßen erlaubt. Weit weg von Karl May- oder James Fenimore Cooper-Romantik beschreibt er in seinem bereits 1985 erschienenen Roman das harte Leben in der Mitte des 17.Jahrhunderts, als französische Jesuiten die Ureinwohner im heutigen Kanada missionierten. Es ist ein nüchtern geschriebener vollkommen ungewöhnlicher Blick auf die Kolonialisierung, der auf ausführlicher Recherche basiert und keine Partei ergreift, weder für die Seite der Huronen, Algonkin und Irokesen, noch für die der Missionare, sondern zeigt, wie unvereinbar die beiden Welten von Grund auf waren. Dass dies noch in eine äußerst spannende Abenteuergeschichte verpackt daher kommt, macht das Buch zu einem ganz besonderen Lesevergnügen.


Etwa in der Mitte des 17.Jahrhunderts macht sich der Jesuit Père Laforge mit dem jungen Übersetzer Daniel auf die beschwerliche Reise von Québec zur nördlich der großen Stromschnellen gelegenen Mission Ihonatria. Ein Fieber ist dort ausgebrochen, und die Wilden bezichtigen die dort ansässigen Schwarzröcke, sie hätten die tödliche Krankheit geschickt. Laforge begibt sich mit Jägern vom Stamm der Algonkin nach Norden, die auf dem alljährlichen Weg in ihre Winterjagdgründe sind. Daniel hatte sich in eine junge Algonkin verliebt und reist hauptsächlich wegen ihr mit.


Bereits zum Beginn der Reise prallen europäische und indianische Lebensweisen aufeinander, die Moore nüchtern und wertungsfrei darstellt. Essen und Völlerei ist das höchste Glück der Algonkin, Träumen und Visionen muss dieses Volk gehorchen, Sex wird von den jungen Frauen freigiebig verschenkt. Frauen werden ausgenutzt und von den Algonkin-Männern wie Hunde behandelt.

Authentisch beschrieben sind alltägliche Dinge wie das Jagen und Aufbauen des Wigwams, in dem alle gemeinsam schlafen, das Kochen und Essen, Ratssitzungen, Rituale und Zauberei.

Die sehr lebendigen Darstellungen der Lebensgewohnheiten der Algonkin, das halbgare ungewürzte Essen, die Gerüche beim Schlafen im Wigwam sind ungewohnt und beim Lesen manchmal mehr als rau. Schnörkellos und ohne Scham beschreibt Moore die Sexualität, die bei den Algonkin wie bei vielen anderen Naturvölkern auch den Stellenwert hat, einfach ein Bedürfnis zu befriedigen.


Der gefährliche Weg führt durch Gebiet der Irokesen, Feinde der Algonkin, und beim Zusammentreffen mit den Reisenden wird die Grausamkeit dieses Volkes mit seinem Feinden deutlich, von Folter bis zum rituellen Kanibalismus.

Schließlich landet Laforge in der Mission Ihonatria, findet den dortigen Père geschwächt und krank, den anderen getötet wie er es befürchtet hatte


Es sind die grundlegenden Lebensideen, die so unvereinbar und unterschiedlich sind, dass wenig Verständnis für die jeweils andere Seite aufgebracht werden kann. Die Indianer leben im Hier und Jetzt, auch wenn es grausam und beschwerlich erscheint, die Missionare fiebern dem Leben nach dem Tod im Paradies entgegen. Das verbaut Moore ganz wunderbar in Debatten über das Diesseits und das Jenseits, mit seinem Blickwinkel eines kritischen Katholiken:


„Die Sonne, der Wald, die Tiere. Das ist alles, was wir haben. Nur weil ihr Normannen taub und blind seid, glaubt ihr, dass diese Welt eine Welt der Dunkelheit und die Welt der Toten eine Welt des Lichts ist. Wir, die wir den Wald und die Warnungen des Flusses hören können, die wir mit den Tieren und Fischen reden und ihre Gebeine achten, wir wissen, dass dies nicht die Wahrheit ist.“


Die Überheblichkeit und das Überlegenheitsgefühl ist auf Seiten der Jesuiten ebenso zu finden wie bei den Wilden. Die Fremdheit, die die indigene Kultur auf die Europäer ausgeübt haben muss, vermag Brian Moore sehr authentisch und anschaulich darzustellen, in verschiedenen Lebenssituationen und in keiner Weise beschönigt und romantisiert.

Auf der einen Seite die Jesuiten, die zu jedem Sterbenden eilen, um Seelen zu ernten, mit ihrer spätmittelalterlich-europäischen Verklemmtheit unfähig, die ursprüngliche Lebensweise der Ureinwohner zu akzeptieren, aber dennoch nicht gefeit gegen die Verlockungen, die davon ausgehen. Auf der anderen Seite die Algonkin, mit ihrem fest verwurzelten Patriarchat, überheblich und unwillig den Normannen gegenüber, die sie als vollkommen lebensunfähig betrachten.


Am Ende beginnt der Jesuit Laforge an christlichen Zeremonien zu zweifeln, er betrachtet sie mit den Augen der Wilden:

„Die Hostien im Tabernakel waren Brot, verwandelt in den Leib Christi durch eine Zeremonie, die nicht weniger merkwürdig war als die Zeremonie der Wilden“

Doch er bleibt ein Kind seines Glaubens und seiner Erziehung und kann nicht wirklich aus seiner Haut, trotz beginnenden Verständnisses. Der Versuch, seine eigene Seele zu retten scheint gescheitert.


„Schwarzrock“, unter anderem basierend auf Berichten der damals missionierenden Jesuiten, ist ein brilliantes Buch, das Brian Moore schrieb, für mich fesselnd und lehrreich. Es ist kein glattes und sauberes Buch sondern fordert beim Lesen heraus, was ich überaus schätze.



Brian Moore „Schwarzrock“

Roman gebunden, 288 Seiten

Erschienen bei Diogenes-Verlag am 20. September 200

ISBN 978-3257071450

Preis 24 €

29. Oktober 2020

Kalmann

Setting im hohen Norden Islands, eine ungewöhnliche Geschichte, die sich als Kriminalfall oder als Milieustudie eines abgeschiedenen Ortes einordnen läßt und ein ungewöhnlicher Protagonist - der Sonderling Kalmann, zeichnen den neuen Roman des Schweizer Autors Joachim B. Schmidt aus. Man liest das Buch mit großem Vergnügen, egal ob als Krimi oder Sittenbild. 


Kalmann hat alles, was er zum Leben und Überleben im kalten Norden Islands braucht. Er lebt vom Jagen von Polarfüchsen und macht nach seinem Großvater den besten Gammelhai auf ganz Island. Weil er schon als Kind langsamer als andere war, gab er oft Anstoß zum Gelächter, und Kalmann lachte immer mit, um nicht der einzige zu sein, der nicht lachte. Sein Großvater glaubte an ihn und brachte ihm bei, wie man beim Jagen mit einem Gewehr umgeht und wie man Gammelhai - ein Nationalgericht Islands - herstellt. Der Großvater sitzt mit schwindendem Geist im Pflegeheim, und ist dennoch das einzige wichtige für Kalmann.


Das Kaff Raufarhöfn droht im weißen Nichts zu verschwinden, nachdem durch Fangquotenspekulationen der früher von der Fischerei belebte Ort nunmehr unbedeutend geworden ist. Der windige Geschäftsmann Robert McKenzie wartet mit dem Steinkreisprojekt Arctic Henge und einem Hotel für den Tourismus auf. Dann verschwindet er spurlos, und Kalmann findet eine Blutlache im Schnee. Es ist zu viel Blut für ein Tier, und die Fußabdrücke hinunter zum Dorf sind auffällig. Kalmann erzählt im Ort davon, und sein sonst geregeltes Leben gerät aus der Bahn. Polizei taucht im Ort auf, und als eine Faß mit Rauschgift aus dem Meer gefischt wird, ist es mit der beschaulichen Ruhe endgültig vorbei. Die verantwortliche Ermittlerin glaubt Kalmann zwar, weil sie spürt, dass er nicht lügen kann, aber Kalmann ist vergesslich. Besonders wenn er mit seinem kleinen Boot allein auf dem Meer zu seinen Haifisch-Angeln fährt, leert sich sein Geist und schiebt schreckliche Dinge einfach beiseite.


Das Buch ist kein reiner Krimi, auch wenn man es so lesen kann. Es ist eher eine Hommage für einen Sonderling, einen Zurückgebliebenen, an einen Dorftrottel. Er funktioniert einfach anders als die Menschen um ihn herum, aber er hat seinen Platz im Dorf Raufarhövn gefunden. Er trägt Cowboyhut und Sheriffstern, seine Montur, und eine Pistole von seinem Vater. Er darf nicht Auto fahren, doch es findet sich immer jemand, der ihn zu seinem Großvater ins Pflegeheim fährt. Mit all seiner Schrulligkeit ist Kalmann ein ungewöhnlicher und sehr lebendiger Charakter, aus dessen Perspektive Joachim B. Schmidt die Geschichte aufrollt. Mit seiner liebevollen Figurenzeichnung, der Detailliebe und einer guten Portion hintersinnigen und weisen Humor bereitet das Buch ein ganz besonderes Lesevergnügen. Dass man dem Erzähler bis zum Schluss nicht trauen kann ist noch ein besonderes Bonbon. 


Diese lakonisch erzählte Geschichte des isländischen Originals mit Sheriffstern voller Verwicklungen und Überraschungen reicht von witzig bis herrlich verquer, hat Tiefsinn und hohen literarischen Unterhaltungswert - was will man mehr.





Joachim B.Schmidt „Kalmann“

Roman,gebunden, 352 Seiten

Erschienen im August 2020 bei Diogenes

ISBN 978-3257071382

Preis 22€




17. Oktober 2020

Wilde Freude

 



Beginnend mit einer niederschmetternde Krebsdiagnose, über einen riskanten Plan und der Freundschaft unter Leidensgenossinnen führt der Weg des neuen Romans „Wilde Freude“ des französischen Schriftstellers Sorj Chaladon, der vom feinfühligen ersten Stolpern auf dem steinigen Krankheitsweg plötzlich zum handfesten Kriminalroman wird.


Das Leben der Buchhändlerin Jeanne wird durch die Diagnose Krebs komplett umgekrempelt. Sie verlässt ihren Mann, der kein Verständnis für ihre Krankheit aufzubringen vermag, und zieht in eine Frauen-WG zusammen mit Leidensgenossinnen. Die nunmehr vier Frauen kümmern sich umeinander, aufmerksam aber ohne Resignation und Mitleid. 

Ohne Sentimanetalität beschreibt Sorj Chaladon in diesem Teil die massiven Veränderungen im Leben von Jeanne, die sich im Krieg mit dem Krebs befindet und für die ein Schwächeln das Todesurteil bedeutet. Das Ende ihres normalen Alltagslebens, das Beenden der Beziehung mit Matt, die zuvor schon tot war, die durch die Chemotherapie verursachten grenzwertigen körperlichen Belastungen beschreibt Sorj Chaladon mit unglaublicher Sensibilität und sehr genauer Beobachtung, er stellt den Leser sofort auf die Seite von Jeanne, die so verletzlich und so stark zugleich ist und die begreift, dass sie sich von der Wand in ihrem Rücken wegbewegen muss, um den Krebs besiegen zu können. Details wie das Drama des Haarausfalls besonders bei Frauen zu Beginn der Chemotherapie sind Spiegel einer Gesellschaft der Gesundheitsfanatiker und des obsoleten leider immer noch herrschenden Rollenbildes von Frauen heute.


Jeanne hat Glück als sie bei ihrer ersten Chemotherapie Brigitte, Assia und Melody trifft, die in einer luxuriösen Pariser Wohnung zusammenleben und in der WG Jeanne einen Ort anbieten, an dem sie aufgefangen wird und wo die Frauen generalstabsmäßig den Kampf für ihr Weiterleben angehen, willensstark und kraftvoll durch ihre Verbundenheit.

Das Schicksal von Melody geht Jeanne besonders nahe. Melody‘s Kind wurde von deren Partner nach Russland entführt und er verlangt eine Auslöse von 100.000 Euro dafür, dass die junge Frau ihre Tochter zurückbekommt. Die vier Frauen schmieden einen Plan, um an das Geld zu kommen, und aus der sensiblen Geschichte wird plötzlich ein Krimi, mit Elementen in der Tradition eines Noir-Romans. 


Zwischen Mitgefühl mit Jeannes Schicksal und der Spannung um den geplanten Raubüberfall bewegt sich das Buch jetzt, und hat mich dadurch mit meiner anfänglichen Begeisterung leider verloren. Für meinen Geschmack ein paar Schicksalsschläge zu viel hat Sorj Chaladon seinen Heldinnen aufgeladen, denn Jeanne hat vor der Krebsdiagnose bereits ein Kind verloren, was die Beziehung zu ihrem Mann bereits damals in der Kühlschrank der Depression verlagerte. Sie ist natürlich gerade dadurch empfänglicher für die Tragödie um Melody‘s Tochter, genau wie Assia mit ihrem heimlichen Schwangerschaftsabbruch und Brigitte mit ihrem Sohn, der sie später gemieden hat. Doch für mich wurde das sensibel und mit bewegendem Ernst erzählte Buch über den Kampf gegen die Krankheit, das auch Humor und Spott über das eigene Schicksal in sich birgt und gerade dadurch das Leben zu feiern vermag wie es kaum ein anderer Roman vermag, zum fast Klamaukhaften Krimi.


Sorj Chaladon schreibt mit stilistischer Klasse, und er bleibt sich treu, indem er seine Figuren ins Spannungsfeld zwischen Gut und Böse zu setzen vermag. Er erzählt mitreißend und vermag es, Anteilnahme für seine Figuren zu wecken. Das Schicksal von Jeanne am Anfang ihres Weges zeugt davon, dass er sehr genau den Grat zwischen Leben und Tod beim Kampf mit einer schweren Krankheit ausloten kann und vor allem kitsch- und klischeefrei davon zu schreiben vermag. Aber die Räuberpistole, die er im Verlauf der Handlung hervorzaubert, ist in meinen Augen kein gelungener Twist sondern einfach albern und übertrieben. Ich liebte den letzten Roman von Sorj Chaladon „Am Tag davor“ sehr, bei diesem Buch hier folge ich dem Autor leider nicht mit so großer Begeisterung. Neben der nicht gelungenen Wende nehme ich dem Buch das übertriebene Pathos am Ende übel, bei dem Chaladon wieder zur Krebsgeschichte zurück kehrt, allerdings mit reichlich Abendrotstimmungs-Kitsch.





Sorj Chaladon „Wilde Freude“

aus dem Französischen von Brigitte Große

Roman gebunden, 288 Seiten

erschienen beim dtv-Verlag

am 21.August 2020

ISBN 978-3423282376

Preis 22 €



24. September 2020

Historisches Kleinod

 



Sandra Bröckel hat mit ihrem Roman „Das hungrige Krokodil“ ein historisches Kleinod geschaffen, das sich auf berührende Weise dem Prager Frühling annähert und völlig kitschfrei auf literarischem Niveau die Lebensgeschichte von Pavel Vodák erzählt. Es ist eine wahre Geschichte, was das Buch umso beachtenswerter macht.


August 1968 rollen Panzer der damaligen Bruderländer in das sozialistische Prag, um die Reform zu zerschlagen. Das bedeutet das Ende für den Prager Frühling und damit auch für den tschechischen Arzt Pavel Vodák, der zur Gruppe der oppositionellen Reformsozialisten in Prag gehört. Auch wenn er nicht das berühmte Manifest der 2000 Worte unterzeichnete war er Teilnehmer der konspirativen Treffen und hat viele Schriftstücke verfasst.

Die Panzer zerstören alle Hoffnungen auf Veränderung und schleudern Pavel, seine Familie und die Tschechoslowakei zurück in eine finstere und misstrauische sozialistische Ära, die für den Chef der Prager Kinderpsychiatrie äußerst gefährlich wird. Aus Sorge um sich und seine Familie wagt Pavel die Flucht über Jugoslawien, mit seiner Frau Vera, seiner Tochter Pavli und seiner Schwiegermutter.


Eine Arzttasche gefüllt mit Dokumenten sind der Schatz, den die Autorin Sandra Bröckel für ihr Buch als Basis benutzt hat. Die Tasche voller Lebenserinnerungen des Prager Arztes Pavel Vodák bekam sie von ihrer Freundin Paula alias Pavli, der Tochter von Pavel. Das hungrige Krokodil als gefährliches Symbol, das man nicht füttern darf und das nur scheinbar träge schläft, stammt aus den Aufzeichnungen Pavels und wird im Roman als kraftvolles Bild verwendet.


Schon als Kind erlebt Pavel die Schrecken der Diktatur der Nazizeit. Später unmittelbar nach dem Krieg, als Student der Medizin in Prag, arbeitet er als ärztlicher Helfer in Theresienstadt, dem ehemaligen Konzentrationslager nahe Prag, wo er seine Frau Vera kennenlernt. Das Schwert kehrt sich nun um für den jungen deutschstämmigen Pavel, der noch völlig paralysiert von den Schrecken, wozu Menschen fähig sein können, in Prag erleben muss, wie Tschechen Deutsche umbringen. Als mit den Sowjets kommen muss Pavel sich vor dem Russischen Bären und seinem Uniformismus in Acht nehmen, bis unter Alexander Dubček im Frühling 1968 vorsichtige Reformen möglich zu sein scheinen. Pavel schließt sich begeistert der Gruppe Oppositioneller in Prag an und unterstützt durch seine Arbeit das „Manifest der 2000 Worte“, unter den ängstlich-besorgten Blicken seiner Frau Vera, die unter den Russen nicht weiter Medizin studieren durfte.

Nur zufällig gehört Pavel nicht zu den Unterzeichnern des Manifests, und er wird in den nachfolgenden Jahren vielfach von der nunmehr strengeren Diktatur bedroht und reglementiert. Schließlich sieht er in der Flucht die einzige Möglichkeit, der drohenden Verhaftung zu entkommen und seiner Tochter Pavli ein Studium zu ermöglichen.


Das Verlassen der Heimat als einzigen Weg, ein freies Leben ohne Angst zu führen, ist ein zeitlos aktuelles Thema. Leise und sehr eindringlich erzählt Sandra Bröckel die Geschichte Pavel Vodáks und seiner Familie, die Geschichte des Prager Frühlings und dessen Zerschlagung. Spannend und dramatisch, gut lesbar jedoch völlig ohne Kitsch und Rührseligkeit konnte ich das Buch kaum weglegen. Die Geschichte macht nachdenklich und regt zu weiterer Recherche an, Das Buch damit ist ein wertvolles Steinchen im historischen Puzzle des vergangenen Jahrhunderts, das einen sehr persönlichen und authentischen Blick auf die Entwicklung der Tschechoslowakei vom zweiten Weltkrieg bis zur Öffnung der Grenze 1989 wirft und dabei historische Geschehnisse wie die Entstalinisierung mit der Sprengung des monströsen Stalinmonuments in Prag oder die Selbstverbrennung des Studenten Jan Perlach am Ende des Prager Frühlings einbezieht. Lebensechte Charaktere geben der Geschichte großes Gewicht, die persönliche Sicht Pavel Vodáks auf die Ereignisse funktionieren für dieses Buch ebenso hervorragend wie das Bild des hungrigen Krokodils, das sich wie ein Faden als Ausdruck für schlummernde immer anwesende Gefahr durch den Roman zieht.


Ich habe das Buch sehr gerne gelesen, und von mir gibt es großen Applaus für die spannende, authentische, interessante, komplexe tatsachenbezogenen und hervorragend recherchierte Umsetzung der Thematik, die es schafft, sehr zu berühren ohne kitschig zu werden. Ich wünsche dem Buch viele Leser und vergebe begeistert volle fünf Lesesterne.


Danke an den Pendragon-Verlag für die Möglichkeit, an einer Leserunde mit der Autorin teilzunehmen, das war für mich ein äußerst erhellendes und sehr bereicherndes Erlebnis.







Das hungrige Krokodil

Roman von Sandra Bröckel

Klappbroschur, 320 Seiten

Erschienen im März 2018

ISBN 978-3865326089

Preis 17 €


Melancholie und Komik

 



Lapidar geschrieben, witzig und manchmal sogar klamaukhaft, dennoch voller Melancholie und Ernsthaftigkeit erzählt Jean-Paul Dubois die Geschichte von Paul Christian Frédéric Hansen in seinem preisgekröntem Roman „Jeder von uns bewohnt die Welt auf seine Weise“.


Der Erzähler Paul, Sohn eines dänischen Priesters und einer französischen Kinobetreiberin, sitzt im Gefängnis und berichtet von seinem bisherigem Leben und vom Leben jetzt im Gefängnis. Der Zellengenosse ist ein Hell‘s Angel, dessen Angst vor dem Haareschneiden ebenso wie sein allabendliches Klogang-Ritual Paul Hansen unfreiwillig miterleben muss. Der Roman setzt im Winter 2009 ein und spult rückblickend Pauls Leben seit seiner Kindheit in Toulouse ab. Als Sohn eines konservativen Vaters und einer links-anarchistischen Mutter wuchs Paul zwischen Kirchensonntagen mit dem Vater und anarchistischem Kino der Mutter auf. Die Ehe der Eltern zerbricht letztlich, als Pauls lebensfrohe Mutter einen pornografischen Film ins Programm nimmt, ohne Rücksicht auf die Diskreditierung des Priesteramts ihres Ehemannes. Mit dem Weggang des Vaters nach Kanada ändert sich auch Pauls Leben. Er folgt ihm in das Asbestverseuchte Thretford Mines, einer von Tagebaulöchern umgebenen Stadt in der Provinz Québec. 

In Kanada tritt Paul später seine Stelle als Wohnanlagenverwalter an und lernt seine große Liebe kennen, die er 11 Jahr später auf tragische Weise verliert. Sein Job als „Deux ex Machina“ wird ihm letztlich zum Verhängnis und führt zum Gefängnisaufenthalt.

Im Gefängnis erzählend, umgeben von seinen drei Toten, läßt Paul bei seinen Erinnerungen den Leser teilhaben an einem von Verlusten geprägtem Leben. Beginnend mit dem Tod der Großeltern 1958 bei einem Autounfall zieht sich das Unglück durchs Pauls Leben wie ein roter Faden. Gefolgt von der Trennung der Eltern 1975, nachdem der gesellschaftliche Wandel die Familie zersplitterte, und dem Absturz und dem Tod seines Vaters bis zum Tod seiner Frau, die seinem Leben Halt und Sinn gab, zeichnet der Autor ein tragisches Lebensbild, das ohne die Bodenständigkeit und die genaue liebevoll-verzeihende Betrachtung der Figuren mit all ihren Fehlern fast ein Zuviel an Melodramatik hätte. 


Dubois erzählt Pauls Geschichte ohne Eile, mit ständigem Wechsel zwischen Gefängnisalltag, der manchmal erstaunlich derb-humoristisch, manchmal sanft und voller Melancholie und Trauer getragen ist, und den Rückblenden mit Blick auf ein Leben, das trotz allen Schmerzes auch Aufbruchstimmung, Harmonie und Liebe beinhaltet. 

Im Hintergrund wird Pauls Geschichte untermalt von einem Gesellschaftsportrait verschiedener Epochen des vergangenen Jahrhunderts. Angetippt werden Umbrüche mit revolutionärer Grundstimmung Ende def 1960er Jahre, Rohstoffraubbau ohne ökologischen und humanistischen Blick bis in die 1980er Jahre und ein unmenschlicher und kalter Start ins neuen Jahrtausend.


Ich habe den mit dem Prix Concourt ausgezeichneten Roman sehr gerne gelesen. Sprachlich grandios und auf brillante Weise manchmal am kleinen „Zuviel“ vorbei geschlittert erzählt Jean-Paul Dubois eine Geschichte, in der sich Melancholie und Komik die Hand geben, nie rührselig und mit großer Liebe zu seinen Charakteren, deren große und kleine Fehler lebensecht zum Straucheln führen und die dennoch Größe haben dürfen.





Jean-Paul Dubois

Jeder von uns bewohnt die Welt auf seine Weise

Roman, gebunden 256 Seiten

Erschienen bei dtv 

am 24. Juli 2020

ISBN 978-3423282406

Preis 22 €

4. August 2020

Kostbares Kleinod




Es ist der letzte Roman, den der amerikanische Autor Kent Haruf kurz vor seinem Tod schrieb. Der Roman „Kostbare Tage“ ist ein Buch über das Sterben, angesiedelt in der fiktiven Kleinstadt Holt in Colorado, das sich unaufgeregt auf das Wesentliche konzentriert. Der Rückblick des sterbenden Dad auf sein Leben ist genaue Beobachtung, tröstliches Lesen und mit seinen starken Frauengestalten und rührenden Szenen eine äußerst lohnende Lektüre.

Dad Lewis bekommt am Anfang des Sommers die vernichtende Diagnose, dass er nur noch wenige Wochen zu leben hat. Krebs zwingt ihn, der sein ganzes Leben als Eisenwarenhändler in der Kleinstadt Holt verbrachte, in die Knie. Er erinnert sich an Vergangenes, an seinen verlorenen Sohn Frank, der die Familie wegen eines Streits mit Dad verließ und nie zurück kehrte, an einen Angestellten, der ihn betrog und sich später das Leben nahm. Liebevoll beim Sterben begleitet wird er von seiner Ehefrau und von seiner Tochter, inzwischen auch fast fünfzigjährig. Unterstützung findet die Familie bei einer Nachbarin und bei zwei Freundinnen, die ebenso Mutter und Tochter sind.
Gegenüber zieht mit der Enkeltochter der Nachbarin junges Leben ein, Alice ist mit ihrer sprühenden Jugend der Gegenpol für das Ende von Dad. Während er dahinsiecht umschwirren die Frauen die kleine Alice, die Radfahren lernt und zusammen mit den kinderlosen Frauen neue Kleider kauft oder Sommerpicknick veranstaltet.

Völlig unaufgeregt, mit sehr genauem Blick erzählt Kent Haruf die Geschichte von Dad. Es ist ein Abgesang auf sein enges Leben in Holt, das durch die Menschen Weite gewinnt und wichtig erscheint. Voller Offenheit agieren die Frauen, die Dad umsorgen, den Brummbären und Starrkopf, der seinem Sohn Frank die Homosexualität auch jetzt nicht nachsehen kann.
Trivialitäten und existenzielle Dinge treffen aufeinander, wenn das Leben schwindet, und Kent Haruf hatte die Gabe, das sehr genau und völlig ohne Pathos einzufangen. Er schreibt bravourös über die scheinbaren Belanglosigkeiten des Lebens, gemächlich und manchmal scharf an kitschigen Tränen vorbei, dafür mit umso mehr Zärtlichkeit für Alltägliches mit kleinen Glücksmomenten.
Wie ein breiter Strom, der ganz ruhig fließt, liest sich sein Buch, und nur ganz wenige Stellen verursachen Unruhe im gemütlichen und äußerst angenehmen Lesesog. 
Manche Szenen stehen dazu im scharfen Kontrast und stecken voller pralles Leben, wenn zum Beispiel vier Frauen in der flirrenden Sommerhitze zusammen mit der kleinen Alice nach einem Sommerpicknick nackt im Kuhtrog baden und sich danach, nur von Rindviechern beobachtet, in der Sonne trocknen lassen. 

Kent Haruf hat sich auf bemerkenswerte Weise in das Ende und das Zerrinnen eines Lebens hineinversetzt, äußerst detailgenau und unaufgeregt. Er hat ein Jahr vor seinem Tod ein Kleinod geschaffen, das tröstlich am Lebensende und lebensbejahend zugleich ist, voller schöner, trauriger und schmerzlicher Momente zum Sterben in der Sommerhitze Colorados.






Kent Haruf „Kostbare Tage“
Roman gebunden, 352 Seiten
Verlag: Diogenes
Erschienen am 27. Mai 2020
ISBN 968-3257071252
Preis 24€

Einfühlsame Studie





Ein bisschen mehr Tamtam um das spannende Psychogramm einer knapp Fünfzigjährigen Frau aus der Französischen Provinz hätte ich mir gewünscht vom Pric-Concourt-Preisträger Nicolas Mathieu in seinem neuen Kurzroman „Rose Royal“. Denn die Geschichte gibt es allemal her, dass man sie ausführlicher erzählt und vor allem nicht so abrupt enden lässt.
Aber nichtsdestotrotz ist es ein äußerst lesenswerter eindrucksvoller Kurzroman, mit anhaltender untergründiger Spannung, sprachlich famos und vor allem eine schonungslose Studie über Abhängigkeiten, Angst vor der Einsamkeit, Melancholie und Gewalt zwischen Männern und Frauen.

Rose möchte kein Opfer mehr sein, sie möchte männlicher Gewalt, die bisher ihr ganzes Leben seit den Kindertagen durch Vater und Bruder bestimmte, entkommen und gegenhalten. Sie kauft sich im Internet einen Revolver, den sie ständig mit sich herumträgt und der ihr Sicherheit und Aufregung zugleich verschafft. Sie schwört nach gescheiterter Ehe mit zwei erwachsenen Kindern und vielen mehr oder weniger erfolglosen Beziehungen, One-Night-Stands und Dates den Männern ab. Sie ist für ihr Alter noch sehr ansehnlich und achtet auf sich, ohne eitel zu sein, hat einen Job, eine kleine Wohnung und ein Auto. Das Tageshighlight besteht im genüsslichen Trinken nach Feierabend in der Bar „Royal“. Als sie Luc trifft, ändert sich für sie alles, sie hat die Chance, ihrem schäbigen kleinen Leben zu entfliehen, das rückblickend aus Sehnsucht und immer wieder hingenommener Gewalt geschildert wird.

Einfühlsam schildert der Autor Nicolas Mathieu Rose, er versetzt sich bravourös in eine Fünfzigjährige Frau, die vom Leben gebeutelt zunächst aufgibt, sich wehren möchte und letztlich wieder in einer Gewaltspirale versinkt. Kleine Glücksmomente, die vom Alkohol genauso geprägt sind wie von einem toxischen Mann, der sie letztlich wie ein Strudel erfasst und hinabreißt, beschreibt der Autor treffsicher, er seziert und zerstückelt so das für seine Protagonistin erstrebenswerte glücklichere Leben als dumpfe und männlich beherrschte Falle, in die Rose immer weiter rutscht. Wie paralysiert liest man, wie Rose sich leidlich wehrt gegen physische und psychische Gewalt, im Alkohol Trost sucht und findet und sich letztlich treiben lässt.



Nicolas Mathieu „Rose Royal“
Roman, gebunden
96 Seiten
Verlag: Hanser Berlin
Erschienen am 20. Juli 2020
ISBN 978-3446267855
Preis 18€

Ich bleibe hier





Marco Balzano macht in seinem Roman „Ich bleibe hier“ Verluste erfahrbar, den Verlust von Identität, von Familie, von materiellem Gut und von Heimat. Er tut dies auf ruhige gelassene Weise, sprachlich knapp und einfach, aus ganz persönlicher Sicht seiner Protagonistin Trina, was dem Roman große Wucht und Eindringlichkeit verleiht.

Die von Balzano erzählte Geschichte des Bergdorfes Graun und einer Familie beruht auf historischen Tatsachen. Von Graun ragt mittlerweile nur noch der Kirchturm aus dem Reschensee, berühmte Touristenattraktion und Selfie-Hintergrund in Südtirol. Verschwunden unter dem Wasser ist das Dorf, in dem vor dem Zweiten Weltkrieg die junge Trina lebt und eine Ausbildung als Lehrerin macht. Mussonlinis Politik nach dem Marsch auf Bozen macht ihr einen Strich durch die Rechnung, er stellt die deutschstämmige Bevölkerung 1939 vor die Wahl zu bleiben oder nach Deutschland auszuwandern. Italienisch wird Amtssprache, Deutsch zu unterrichten ist verboten, und Trina bekommt keine Anstellung. Heimlich, mit Unterstützung des Pfarrers unterrichtet sie dennoch die Kinder in Speichern in der für die Gegend traditionellen Sprache Deutsch.
Trina erzählt die Geschichte in der Ich-Form, manchmal an ihre kleine Tochter gerichtet, die mit Trinas Schwägerin und deren Mann als sogenannte Optanten 1939 nach Deutschland verschwand. 
Trina und ihr Mann Erich entscheiden sich 1939 zu bleiben, nach dem Pakt der beiden Diktatoren Hitler und Mussolini, die die Bevölkerung in Südtirol vor die Wahl stellten, entweder nach Deutschland auszuwandern oder in ihren Dörfern zu bleiben und als Menschen zweiter Klasde die Zwangsitalienisierung zu erdulden. Schikane, Verbot der Sprache und zersplitterte Familien bestimmen den Alltag.
Trina und Erich versuchen der Italianisierung ihres Dorfes zu trotzen und fliehen letztlich gegen Kriegsende zusammen in die Berge.
Im letzten Teil des Buches steht das Staudammprojekt im Mittelpunkt, das nach Unterbrechung während des Krieges wieder aufgenommen wird. Die Dorfbewohner veranstalten Proteste, besetzen die Baustelle und wenden sich an Behörden und die Kirche, angeführt von Trinas Mann Erich und vom örtlichen Pfarrer. Sie alle hoffen bis ganz zum Schluß, ihre Heimat retten zu können.   Wie die Geschichte ausgeht ist bekannt.
Und erneut muss sich die Familie entscheiden, ob sie bleiben und in winzigen zusammengezimmerten Baracken oberhalb des Sees hausen oder das unterirdische Angebot auf Ausgleichszahlung und Umsiedlung annehmen.

Auf dem Cover sieht man den Kirchturm von Alt-Graun, der aus dem Wasser ragt. Ein Symbol des Widerstandes, ein Mahnmal für Ungerechtigkeit und Heimatverlust, für Verwüstung. Marco Balzano erzählt im Nachwort, dass ihn dieser Anblick zum Roman inspirierte, der eine Familiengeschichte mit der Geschichte Südtirols und Europas verknüpft.
Das Buch lebt von dieser Geschichte ebenso wie von der Protagonistin Trina, die auf eindrucksvolle Weise Verzweiflung, Resignation und Kampfgeist demonstriert. In ihrer Hilflosigkeit, mit der sie und ihre Familie den Machtspielen der Diktaturen, später denen der Bürokraten und Energiekonzerne ausgeliefert ist, vermag sie im entscheidenden Moment zu handeln, kraftvoll und mutig. Sie ist es, die die anmacht der Sprache und der Worte erkennt und an höchster Stelle gehört wird. Sie erkennt die Sprache als Teil der Identität und zugleich als Mauer, die gebaut wird, sieht die Schönheit und den Klang auch im verhassten Italienisch.
Das Besondere an Trina ist, dass sie erkennt, dass sie im Strategiespiel der Mächtigen eine Wahl hat und sich bewusst entscheidet, Dinge zu tun, auch wenn Angst und oft Überdruss und Resignation ihr Leben zeichnen. Insofern ist sie eine äußerst kraftvolle und sehr faszinierende Frauenfigur.

Das Buch ist ein Unterhaltungsroman in bestem Sinn, großartig und packend erzählt, lehrreich ohne zu belehren, mit einer eindrucksvollen Protagonistin. Was will man mehr!



Marco Balzano: Ich bleibe hier
Roman, gebunden
288 Seiten
Verlag: Diogenes
Erschienen am 24. Juni 2020
ISBN 978-3257071214
Preis 22€

5. Juli 2020

Hommage an New York





Vivian Gornick ist mit ihrem Buch „Eine Frau in New York“ eine kleine Perle und Hommage an ihre Stadt New York geglückt. Die lose verknüpften Episoden mit dem Hintergrundrauschen der Großstadt mit ihren Möglichkeiten, Begegnungen und Menschen erlauben dem Leser ein Gefühl für die Autorin und für die Stadt, in der sie lebt.

In zusammengestückelten Erinnerungsfetzen schreibt Vivian Gornick über Freundschaft, Liebe, Suche und Selbstfindung, manchmal mit journalistisch-distanziertem Blick auf die Menschen, die sie trifft, manchmal voller Nähe und Wärme für diejenigen, die sie begleiten. Sprunghaft und auf den ersten Blick zusammengestückelt begleitet man sie beim Lesen durch ihre Stadt und die Begegnungen, die für Vivian Gornick so essenziell sind. Die Stadt ist der Fluss, in dem alles schwimmt, der alles bewegt, die Stadt duldet und verzeiht, gibt keinen auf, der mit ihr verbandelt ist. Die Stadt liebt ihre Bewohner, sofern sie das nötige Temperament besitzen. Natürlich romantisiert die Autorin hier sehr, aber ich glaube der Vivian Gornick ihre Gefühle, die sie mit der Lebensart einer Stadt verbindet, in der Menschen und ihr Temperament wichtiger sind als gute Jobs und Sicherheit, und es ist großartig, genau dem Gefühl beim Lesen auf die Spur zu kommen.

Mit äußerst wachen Blick betrachtet Vivian Gornick die Menschen und Situationen. Ich bewundere ihre Intelligenz und ihre Ehrlichkeit dahingehend, dass sie gegenüber dem Leser ihre eigenen Stachel des Unmuts und elitärem Denken zugibt. An anderen Stellen bekam ich beim Lesen Gänsehaut, so achtsam, großzügig und scharfsichtig sind ihre Analysen. Manchmal musste ich laut auflachen über klugen Witz, den sie situationsbedingt erkennt.
Vivian Gornick betreibt Flanieren und nützliches Alleinsein, getragen von ihrer Stadt, von ihrer Suche nach sich selbst, von ihren Begegnungen, von ihrer Freundschaft und dem großen Gewinn, den sie für sich selbst daraus zieht. 
Das Buch hat mich in den Bann gezogen, nicht zuletzt wegen der sprachlichen Brillanz und wegen ihrer konsequent feministischen Betrachtungsweise.

Es ist ein wunderbares Buch, wenn man sich darauf einlässt, dass es eben kein Roman ist sondern aneinandergereihte Episoden, die scheinbar nur ganz lose miteinander verknüpft sind aber dennoch einem Pfad folgen, nämlich dem der Stadt New York selbst, der Offenheit und Toleranz, dem Hochhalten der Freundschaft und dem „nützlichen Alleinsein“.





Vivian Gornick
„Eine Frau in New York“
Gebunden, 160 Seiten
Erschienen bei Penguin
am 15 Juni 2020
ISBN 978-3328600886
Preis 20 €



17. Juni 2020

Leichte Unterhaltung ohne Leichtigkeit





Zwei ungleiche Schwestern, ein Elternhaus an der Ostsee, das nach dem Tod der Mutter ausgeräumt und verkauft werden muss, sind die Grundzutaten für diesen unaufgeregt erzählten und kitschfreien Unterhaltungsroman. Ich habe mich von der Grundstimmung, die die Geschichte verspricht, zum Lesen locken lassen - Kindheitserinnerungen an das Meer, an die verstorbene Mutter, gespickt mit ein paar Verwicklungen in der Gegenwart. 

Ada und Toni, die Schwestern, die nicht ungleicher sein könnten, treffen sich nach dem Tod der Mutter in ihrem alten Elternhaus an der Ostsee in Gragaart. Ada lebt mit weit offenen Augen und Herzen, ganz Künstlerin, in Hamburg, hat eine Affäre mit einem verheirateten Mann, der sie an der kurzen Leine hält. Toni, die durchstrukturierte und durchgestylte Planerin, verheiratet mit zwei fast erwachsenen Kindern, führt hinten in ihrem Lehrerkalender codierte Listen über ihr Sexleben mit ihrem Ehemann. Ada freut sich auf die Zeit mit ihrer Schwester im Elternhaus und auf die Reise in die Vergangenheit, doch Toni sperrt sich und ist anfangs schnell wieder in ihr komplett verplantes Alltagsleben mit Lehrerjob und Familie eingebunden. Erst allmählich nähern sich die beiden ihrer Vergangenheit, lassen mit alten Kleidern aus Überseekoffern glückliche Tage wieder aufleben und kommen dabei ihrer Mutter, ihrem schon lange totem Vater und sich selbst näher. Und wie so oft, wenn das Leben kurz innehält, schärft sich der Blick der beiden auf die eigene Situation, die für keine der Schwestern eine glückliche ist. Mit hoffnungsvollem offenem Schluß enden die zwei Wochen im alten Elternhaus an der Ostsee für beide, kitschfrei und mit Spielraum für verschiedene Wege.

Eine angenehme Geschichte, unaufgeregt und (fast) kitschfrei erzählt, Sommerstimmung am Meer und im alten Haus mit schönem Bauerngarten und Familienerinnerungen - das verspricht einen angenehmen Unterhaltungsroman.
Ich bin jedoch nicht wirklich im Buch angekommen, was hauptsächlich stilistisch bedingt ist. Der Schreibstil ist mir zu hölzern mit Nebensätzen, die manchmal unpassend, oft sperrig und stocktrocken wirken. Deutsch-unterkühlt und sehr sachlich nicht zur Situation passend, mit gestelzten Nebensächlichkeiten, die für mich oft uninteressant für die Geschichte sind.
Und die Figuren bleiben mir sehr fern, sie handeln stereotyp, passen sehr gut in für sie vorgesehene Schubladen. Ich vermisse in der Geschichte Leichtigkeit und Poesie, die sehr gut zur Grundidee der Story gepasst hätte. Ein paar Konstruktionen und Verwicklungen sind mir zu vorhersehbar und aufgesetzt.

Es ist eine leicht lesbare leichte Unterhaltungslektüre, die, um mit dem bei Whatchareadin neu geschöpften Ausdruck zu arbeiten, durchaus viel mehr „Hängemattigkeit“ im Sinne von Leichtigkeit und Poesie, etwas mehr Bildhaftigkeit und weniger Gestelztheit vertragen hätte. Auch eine nicht ganz so chronologische Erzählweise und die eine oder andere Überraschung hätten dem Buch gut getan.




Anne Müller
Zwei Wochen im Juni
Roman gebunden, 240 Seiten
erschienen bei Penguin
am 27. April 2020
ISBN 978-3328601098
Preis 18,00 €

11. Juni 2020

Fiktives Memoir





In ihrem fiktiven Memoir „Die Schauspielerin“ begibt sich eine Tochter auf die Spuren ihrer Mutter, versucht hinter die Fassade zu sehen. Die preisgekrönte irische Autorin Anne Enright hat dafür auch die Figur der Tochter erfunden, die Schriftstellerin ist, ebenso alle Schlüsselfiguren ihres sehr lesenswerten Romans.

Auch wenn alles Fiktion ist erzählt Anne Enright in ihrer Geschichte tiefsinnige Wahrheiten anhand einer Mutter-Tochter-Beziehung, schafft berührende Momente und blickt sehr präzise und gekonnt hinter sorgsam aufgebaute und ständig vom Einsturz gefährdete immer wieder geflickte Fassaden. Es macht nichts, dass die Personen nie wirklich gelebt haben, denn die Familiengeschichte, die sich im Buch abspult, ist voller Leben und Detailreichtum, der liebevolle und sorgsame Umgang der Autorin mit ihren Figuren lassen beim Lesen schnell vergessen, dass alle nie lebten.

In den 1970er Jahren in Dublin wird man direkt ins rückblickende Geschehen gestellt, eine Party bei der gefeierten und mittlerweile alternden Schauspielerin Katherine O‘Dell zum 21. Geburtstag ihrer Tochter Norah. Beide Frauen befinden sich an einer Schwelle, was sich aus der Stimmung schnell herausspülen läßt, die aber nicht klar definiert sondern zunächst diffus umrissen wird. Der Dunstkreis von Katherine umwanderte sie, und auch Norah bekommt etwas vom verblassenden Glanz ab, so wie ihr ganzes bisheriges Leben.
Norah kennt ihren Vater nicht, und in Rückblicken aus der heutigen Zeit, nach dem Tod ihrer Mutter, begibt sie sich auf die Suche nach ihm und vor allem nach dem Wesen von Katherine, die mit zunehmendem Alter an Bekanntheit und Beliebtheit verlor und sich mit Alkohol und Tabletten betäubte, bevor sie schließlich verrückt wurde und einem Filmproduzenten in den Fuß schoß.

Es ist die Überfülle an Details, die vielen Kleinigkeiten, mäandernd erzählt, die zärtlichen Rückblicke auf Katherines Leben im Familienkosmos, die das Buch zu etwas Besonderem machen. Die Geschichte hat es in sich, auch schon vor dem Absturz aus den luftigen Höhen Hollywoods mit Stolperstrecken an Englischen und Französischen Theatern bis zur letzten rasanten Talfahrt in die Psychiatrie lüftet Norah gut gehütete Geheimnisse und blickt tief in die verwundete Seele ihrer Mutter, letztlich immer verzeihend. Die Symbiose der beiden Frauen wird getragen von vielen männlichen Figuren, beginnend beim Großvater FitzMaurice, der als Schauspieler zunächst mit einer irischen Wanderbühne umherzog und später im Fernsehen eine gewisse Berühmtheit erlangte, über viele Künstlerkollegen und Bewunderer bis hin zum Mythos von Norahs Vater. Die Parties in Katherines Haus in Dublin am Dartmouth Square zeugen vom Aufstieg und späteren Niedergang der Schauspielerin, den Norah beobachtet, Bewunderer und alte Freunde wenden sich beinahe immer mehr ab, im Hintergrund ein politisch zerrissenes Irland, dem Katherine, die Vorzeige-Irin mit englischen Wurzeln, ihren Tribut zollt.

Zwei Frauen, die einander brauchen, verletzen und sich lieben, die Tochter stets das Lebenslicht der Mutter und dennoch oft am Rande ihrer Welt allein gelassen, verletzt und verraten - die Fülle der Erinnerungen von Norah ist manchmal kaum zu fassen. Besonders wenn die Episoden scheinbar unverknüpft wie Gedankenfetzen in völlig anderem Zusammenhang auftauchen. Man muss das Puzzle beim Lesen geduldig selbst zusammen stecken, und am Ende fehlen dennoch ein paar Teile, wie im richtigen Leben. Mein einziger kleiner Kritikpunkt am Buch ist, dass in dem Gewimmel manches einfach untergeht und verlodert.

Das Buch „Die Schauspielerin“ von Anne Enright hat es auf die diesjährige Longlist für den „WOMEN’S PRIZE FOR FICTION 2020“ geschafft, völlig zu recht, wie ich finde.



Anne Enright „Die Schauspielerin“
aus dem Englischen von Eva Bonné
Roman gebunden, 304 Seiten
Erschienen im Penguin Verlag
Am 23. März 2020
ISBN 978-3328601340
Preis 22 €


24. Mai 2020

Armes Indien





Täglich knapp 200 Kinder verschwinden in Indien, die meisten werden nicht einmal vermisst.
Deepa Anappara benutzt für ihren Roman „Die Detektive vom Bhoot-Basar“ eine auf tatsächlichen Ereignissen beruhende Geschichte über die Entführung von Kindern. Die Autorin führt den Leser in ihrem großartigen Debüt-Roman in ein Armenviertel in Dehli, wo bei einer Entführungsserie Kinder aus dem Slum verschwinden und eine Bande von Kinderdetektiven dort ermittelt, wo die Polizei wegsieht. 
Weit weg von der glitzernden Bollywood-Welt wird man als Leser mit Grausamkeiten im Slum, unvorstellbaren Lebensumständen und Armut, Frauenfeindlichkeit und Übergriffen von nationalistischen Hindus auf Muslime aus naiver kindlicher Sicht konfrontiert. Beim Lesen wirkt das unschuldig, nicht Mitleid erheischend, aber dennoch wie eine Sozialstudie der indischen Unterschicht, die dadurch erträglich ist, dass die kleinen Protagonisten nicht hoffnungslos verloren sind, sich Glücksmomente und Freude bewahren und zumindest in den Geistergeschichten das Gute siegen darf.
Die Autorin weiß wovon sie schreibt, sie hat als Journalistin in Dehli gearbeitet und hatte dort viel Kontakt zu Straßenkindern, denen sie in ihrem Roman ein Gesicht gibt. Ihre Erfahrungen mit den Kindern spiegeln sich in ihrem Buch wider, es sind keine armen duldsamen Opfer sondern aufgeweckte mutige, schlaue und freche Kinder, die selbstbewusst durchs Leben gehen.

Der neunjährige Jai, seine kluge Freundin Pari und der muslimische Faiz sind die Kinderdetektive, die nach dem Verschwinden eines Schulfreundes aus Jais Klasse nach diesem suchen. Jai schaut zu viele Polizeidokus und schwingt sich zum Anführer der Bande auf, Pari kommt als Klügste von allen auf die besten Ideen und Faiz hat viel Lebenserfahrung, arbeitet er doch schon im nahe gelegenen Basar. Alle drei leben im Basti, einem illegalen Slum am Fuß einer großen Müllkippe, hinter der die Wohntürme der Betuchten HiFi-Leute aufragen. Als immer mehr Kinder verschwinden geraten auch die drei kleinen Ermittler in Gefahr.

Durch die Struktur der Geschichte fühlt man sich sofort an Emil und die Detktive oder an Kalle Blomqvist erinnert. Aber das Wesen des Romans besteht nicht in der Aufklärungsarbeit - dazu tragen die Kinder lediglich kleine Schnipsel bei - sondern im Blick auf das Leben in einer Großstadt im heutigen Indien. Ganz nahe darf man den Bewohnern des Basti über die Schulter sehen, ihre Armut im Alltag genauso beobachten wie den Umgang mit der Familie, mit Minderheiten, mit Geistern. Korrupte Polizisten treten im Basti auf genauso wie rechtsnationale Hinduisten. Man bekommt Einblick in die weit geöffnete Schere der Klassenunterschiede, wenn man davon liest, wie Jais Mutter sich für eine HiFi-Madam als Dienstmädchen abschuften muss. Oder wie der Vater eines der entführten Jungen, ein Mann, der für die Reichen die Bügelwäsche erledigt, durch den Wegfall der Arbeitskraft seines Jungen komplett im Schuldenstrudel versinkt. Von undurchdringlichem allgegenwärtigen Smog erzählt die Autorin ebenso wie von der Angst der Bewohner des Basti vor den Bulldozern. Alles betrachtet aus der Sicht des kindlichen Ich-Erzählers Jai, was den vielen Schrecken oft die Spitze nimmt und es für den Leser etwas erträglicher macht.
Es ist eine kluge Wahl der Autorin, den kleinen Jungen erzählen zu lassen. Er ist neugierig und aufgeweckt, unschuldig und darf sich irren, starrt genau hin wo ein Erwachsener wegsehen würde. Und er glaubt an von Mund zu Mund weitergegebene Geistergeschichten, die den Kindern und Verlassenen Hoffnung und Schutz vor der harten Realität spenden.

Am Ende kommt es durch die Mithilfe der drei Freunde Jai, Pari und Faiz zu einer Verhaftung, allerdings wird nicht endgültig geklärt ob es wirklich die Drahtzieher erwischt hat. Auch das Motiv bleibt offen, ebenso wie die entführten Kinder verschwunden bleiben. Wie im richtigen Leben endet das Interesse der Polizei und der Medien nach einem kurzen Aufflackern, denn die Ärmsten der Armen sind einfach nicht wichtig genug um mehr Anstrengungen zu investieren. Dazu fehlt ihnen einfach das Geld zur Bestechung in der korrupten indischen Gesellschaft.
Leichtfüßig beginnt die Geschichte, aber im Verlauf nimmt die Bedrückung immer mehr zu, beim Leser und bei den drei kleinen Detektiven, die zunehmend überfordert sind von Korruption, Diskriminierung, Schmutz, Brutalität und der Enge des Viertels. Als Leser fühlt man sich ebenso, denn es ist keine glückliche Geschichte mit einem guten Ende, auch wenn ab und zu Lebensmut und Hoffnung aufblitzen, lastet das Gelesene schwer auf dem Gemüt und ich fühle mich in meiner Komfortzone etwas unbehaglich und mitschuldig.



Die Detektive vom Bhoot-Basar von Deepa Anappara
Roman gebunden, 400 Seiten
Erschienen im Rowohlt Buchverlag
Am 10. März 2020
ISBN 978-3498001186
Preis 24,00 €


Voller Klischee





Ich habe das Buch „Mrs Fletcher“ von Tom Perrotta im Rahmen einer Leserunde gelesen, was der Grund dafür war, bis zum Ende durchzuhalten. Den vielen lobenden Kritiken in der Presse kann ich mich in keiner Weise anschließen, denn für mich war der Roman über eine reichlich vierzigjährige Frau zwar anfangs von Zynismus und bösem kritischen Witz über die amerikanische Vorort-Mittelschicht geprägt, aber bei längerem Lesen entpuppte sich das Buch als Abfolge scheinbar provokanter Themen voller Klischees, bei denen ich den Verdacht hatte, dass der Autor seiner weiblichen Protagonistin unter dem Deckmantel des Frauenverstehers seine männlichen und oft machohaften Ansichten und Fantasien überstülpt.

Die Geschichte um die Entwicklung der geschiedenen Eve, die nach dem Weggang ihres Sohnes Brendan ans College um ihre Identität zu kämpfen scheint, hatte mich recht schnell verloren. Gelangweilt und einsam probiert sie sich aus, um ins Leben zurückzufinden, arbeitet sich durch eine to-do-Liste gegen ihre Verlassenheit, bleibt auf Pornokanälen und Dating-Sites hängen und besucht wöchentlich ein Seminar zur Genderthematik. Ihr Sohn Brendan feiert, säuft und vögelt sich derweil durch sein neues College-Leben und scheitert an seiner machohaften Art, kehrt geknickt nach Hause zurück. Die Idee klingt gut, aber Tom Perrotta verliert sich leider zum einen in Klischees, zum anderen vermag er sich mit seiner sehr männlichen Sichtweise den weiblichen Figuren nicht annähern. Ich habe mich zwar nicht gerade durchgequält - denn sprachlich und stilistisch ist das Buch völlig in Ordnung und gut zu lesen - aber oft fand ich es einfach ärgerlich.
Nein, ich mag es nicht, wie der Autor eine Frau am Wendepunkt ihres Lebens seine männlichen Fantasien aufzwingt. Und dass er seine Eve am Ende in die große glückliche Rettung einer Ehe rutschen lässt birgt für mich noch mehr an bürgerlichem Klischee, das zudem überhaupt nicht zum Buch zu passen scheint.
Ich weiß auch überhaupt nicht, welcher Zielgruppe ich den Roman ans Herz legen könnte. Männlichen weißen Amerikanern, die gerade beginnen ein wenig über ihren Macho-Tellerrand zu schauen, mit verklemmter Erziehung und Collegeabbruch? Frauen jedenfalls nicht.




Tom Perrotta „Mrs Fletcher“
Roman gebunden, 416 Seiten
Erschienen bei dtv Verlagsgesellschaft
Am 22. März 2020
ISBN 978-3423281751
Preis 22,00 €