5. September 2019

Grausam und schön





Dicht und voller Poesie das Elend übertünchend schickt der italienische Autor Giosuè Calaciura in seinem Buch „Die Kinder des Borgo Vecchio“ den Leser in das Armenviertel von Palermo, irgendwann in der jüngeren Vergangenheit. Märchenhaft und Symbolträchtig setzt er Ungerechtigkeit, Armut und Trostlosigkeit gekonnt in Szene, emporgehoben von kleinen Freuden, die wie ein plötzlich auftauchender Sonnenstrahl am Wolkendrohenden Himmel Schönheit auch unter all dem Dreck und Gestank vermuten lassen und manchmal fast biblisch wirken.

Mimmo, Cristofano und Celeste fristen ein bedauernswertes und tristes Dasein im Borgo Vecchio, wo alle Träume im Schmutz erstickt sind, Armut und Gewalt das Leben bestimmen und Willenlosigkeit dem Ausbruch aus all dem Elend vereitelt. Die Kinder hegen dennoch heimliche Träume und vergöttern den Gauner Totò, weil er märchenhaft schnell alle austrickst, der Obrigkeit entkommt wie der Wind und scheinbar jenseits aller Grenzen agiert.
Die brutale Wirklichkeit fängt sie immer wieder ein, wenn Cristofano von seinem Vater allabendlich geprügelt wird und alle Nachbarn sein Schreien überhören, wenn Celeste Tage und Nächte auf dem Balkon verbringen muss weil ihre Mutter, die Prostituierte des Viertels, sich um Freier kümmert und die Tochter aussperrt und wenn Mimmos Vater, der Fleischer des Viertels, der Aufschneider und Betrüger, die Armen noch mehr ausnimmt. Wenn hingegen allabendlich der Brotduft durch das Viertel zieht, glätten sich alle Wogen des Tages, märchenhaft fühlt man sich beim Lesen, und kann dabei das Brot fast selbst riechen.

In der Gemeinschaft findet jeder seinen Platz, egal ob mit aller Brutalität oder voller Güte. Wenn Cristofano allabendlich verdroschen wird ist das sein Schicksal und das seines Vaters, vorgezeichnet und unabweichbar beide aneinander bindend.  
Die drei Kinder geben sich gegenseitig Halt, und obwohl sie der Kralle des Elends scheinbar nicht entkommen können, versuchen sie immer wieder, den Kreislauf zu durchbrechen.

Der Roman, der 2017 mit dem Premio Volponi ausgezeichnet wurde, besticht durch die grandiose poetische Sprache, mit der Bilder lebendig werden, mit dem Zwingen des Lesers, den Blick nicht abzuwenden von fast nicht auszuhaltender und nebenbei erzählter Not und Gewalt. Und die Geschichte kommt trotz des Elends oft märchenhaft und leichtfüßig daher. Man bekommt neben dem Zoom auf die Armut ein Gefühl für die Gelassenheit, die die Menschen das alles ertragen lässt.

Vieles wirkt vorsinnflutlich, anderes modern und dem Zeitgeist entsprechend. Es passieren wunderliche Dinge, die an Märchen erinnern, und symbolträchtige Ereignisse lassen an einen alttestamentarischen rachsüchtigen Gott denken. Grausamkeiten werden oft wie nebenbei angesprochen, finden manchmal keine direkte Erwähnung, fast ignorant steigt der Autor darüber hinweg, und sie wirken dadurch umso eindringlicher, weil sie so sehr zum alltäglichen Leben gehörend wirken.

Das Buch hat mich angezogen und abgestoßen zugleich, und ich kam mir manchmal wie in einer surrealen Italienischen Oper festsitzend vor. Sprachlich absolut fesselnd und grandios ist es ein  grausam schönes Buch, das sich in der Kitschecke ebenso bedient wie im Alten Testament, das Brutalität durch ständige abscheuliche Beschreibung aufzeigt, und ein fast opulentes opernhaftes Ende kann nicht trösten, will es auch nicht.
Ich habe mich schwer getan mit der Bewertung, mich letztlich für vier Lesesterne entschieden.



Giosuè Calaciura
Die Kinder des Borgo Vecchio
Roman, gebunden 153 Seiten
Aufbau Verlag 12. Juli 2019
ISBN 978-3351037902

Preis 18€

4. September 2019

Genie und Wahnsinn




Als „das Augenkrebsbuch“ kursiert der Roman von Angela Lehner “Vater unser“ in meinem Leseforum wharchareadin, und allein das Cover ist ein Schlag ins Gesicht - knallpink und rot, und auch schon der Titel gibt Anlass zu fragen, ob der echte Vater oder Gott gemeint ist. Dazu trägt bei, dass das Buch in drei Akte geteilt ist: Der Vater. Der Sohn. Der heilige Geist.
Knallig, rotzig und kraftvoll ist die erzählte Geschichte, bei der es um eine junge geistesgestörte Patientin im altehrwürdigen Spital „Otto Wagner“ geht.

Eva Gruber wird von der Polizei im Spital abgeliefert, weil sie eine Kindergartengruppe umgebracht haben soll. Sie trifft dort ihren Bruder Bernhard, ebenfalls Patient, den sie retten will.
Erzählt wird im Roman ihre Geschichte aus der Ich-Perspektive, über den Aufenthalt in der psychiatrischen Heilanstalt mit Rückblicken auf die Kindheits- und Familiengeschichte. Immer wieder taucht ihr Vater in den Erinnerungen auf, und auf ihn ist Eva nicht gut zu sprechen, beschließt sogar, ihn zu töten zu Bernhards Rettung.
Eva, die unzuverlässige Erzählerin, berichtet in Sitzungen ihrem Psychiater Dr. Korb aus ihrem Leben, im Ton der Straße, völlig respektlos und raubeinig. Es wird sehr schnell klar, dass sie eine völlig verdrehte Beziehung zur Realität hat, die Irrwege ihrer Familie durch die Augen einer Geistesgestörten sieht. 

Beim Lesen der Gespräche zwischen Eva und Korb, wie sie ihn nennt, fragt man sich zeitweise, wer von beiden der Gestörte ist, muss auflachen über den Schlagabtausch und kurz danach bleibt das Lachen im Hals stecken. Verrückt sind die da draußen, die sich scheinbar ohne Mühe einfügen und mitspielen ist der Ton hinter den Gesprächen zwischen Psychiater und Patientin.
Die Gesunden machen die Regeln und stecken das enge Feld der Normalität ab, wie der Pfleger, der Eva das Werfen der Bettdecke verbietet, oder der Lehrer, der sie schlug, weil sie vor lauter Angst glaubte, das Vater Unser nicht aufsagen zu können.

Schnörkellos und mit einer gut überschaubaren Menge an Personal erzählt die Autorin Evas Geschichte, die sich auch immer wieder auf die Schuld der Familie bezieht, von der Eva allerdings glaubt sie nicht zu brauchen, weder zum Leben noch zum Töten. 
Trotzig und energiegeladen spielt Eva ein Katz und Maus - Spiel mit den Ärzten und Patienten im Spital, manipuliert und lügt, hält mit aller Kraft gegen Tristesse und eingefahrenen Gleise. Voller Ironie beschreibt die Autorin Themen der Psychotherapie und das Milieu der Kindheit in Kärnten mit dem ländlichen Katholizismus und dem ungläubigen Vater mit Heiligenschrein von Jörg Haider im heimischen Arbeitszimmer.

Parodistisch und ironisch ergibt das ein äußerst unterhaltsames Debüt mit einigen Überraschungen, Klischees werden gekonnt umschifft, Fettnäpfchen gesucht und genüsslich darin herumgetrampelt, während völlig nebenbei Krankenhauspathos demontiert wird.
Mir hat‘s gefallen, sehr sogar.

Angela Lehner „Vater unser“
Roman gebunden, 284 Seiten
Erschienen bei Hanser Berlin
18. Februar 2019
ISBN 978-3446262591
Preis 22€

1. September 2019

Master of the Universe





In seinem Buch „Willkommen in Lake Success“ lässt der Autor Gary Shteyngart einen neureichen Hedgefondsmanager auf das arme Amerika prallen, im Greyhound-Bus quer durchs Land im Jahr des Wahlsieges von Donald Trump.

Unsympathisch und tragikomisch ist Barry Cohen, einstmals leuchtender Stern am Hedgefondshimmel, jetzt mit der Finanzaufsicht wegen Insidergeschäften im Nacken auf der Flucht aus seinem augenscheinlich perfektem Manhatten-Leben mit Frau und autistischem Sohn. Mit einem Koffer voller teurer Uhren landet er mitten in der Nacht an einer Greyhoundstation und macht sich auf den Weg zu seiner Jugendliebe aus Collegetagen.
Barry hat in seiner freudlosen Jugend hart daran gearbeitet, mit Menschen umzugehen, mit einstudierten Freundschaftssätzen begibt er sich unter seine Mitmenschen, die er nerdhaft und distanziert eher als Streichelzoo und Projekte denn als gleichberechtigt betrachtet.
Begeisterungsfähig stolpert er durch viele Begegnungen mit dem armen Amerika, ist mittellos, blind für die Gefühle anderer. Und auch wenn es oft den Anschein hat, dass er abstürzt landet Barry immer wieder auf den Füßen. Er sieht sich als Mentor für Junkies und Abgehalfterte, hat große Pläne für junge Drogendealer, die immer als Parallelspur neben der Realität verlaufen.

Vom Sohn eines jüdischen Poolreinigers zum Superreichen und dann im Freien Fall in den Abgrund, kurz davor gestoppt und wieder aufgestiegen ist der turbulente Weg von Barry, die meiste Zeit begleitet vom Ticken seiner teuren Uhrensammlung, bis ihm auch diese letzte Verbindung zu seinem alten Luxus-Leben in einem Greyhound-Bus gestohlen wird. Mit immenser Leutseeligkeit und Naivität scheint Barry durch und in Begebenheiten zu taumeln, manipulativ und mitleiderregend, auf der Suche nach Glück und dem wahren Leben, großherzig im Kleinen und ein wahres Raubtier bei großen schmutzigen Geschäften. Widersprüchlich und zerrissen wie sein Charakter ist auch sein Handeln.

Gary Shteyngart nimmt seine Leser mit auf eine Wahnsinnstour durch Amerika kurz vor Trumps Wahlsieg. Er zeichnet ein Sitten- und Stimmungsgemälde des reichen und armen Amerika im Jahr 2016, bitterböse satirisch, schön und schäbig, oft nur als Blitzlichter am Rand von Barry‘s Greyhound-Tour. 
Man muss sich schon Zeit lassen beim Lesen, sonst übersieht man schnell ein paar Feinheiten, und das ist schwer bei der soghaften Art des Erzählens von Shteyngart.
Und man hat manchmal das Gefühl, dass man genau diesen Menschen lieber nicht begegnen möchte, die Barry trifft. Gary Shteyngart versteht es, den Finger immer wieder in die Wunde zu führen, keine der Figuren taugt wirklich als Sympathieträger, und das ist tatsächlich großartig umgesetzt. Man ist gefesselt, wenn auch manchmal voll Abscheu und Unglauben, doch manchmal voller Empathie für eine bestimmte Handlung Barry‘s. Es ist ein genialer Roman, oft völlig und mit ganzer Absicht überzeichnet, witzig und abgründig, satirisch und bitterböse.
Einzig der Schluß macht mich ein ganz klein wenig unzufrieden, denn Shteyngart versucht den Leser mit Barry zu versöhnen und hat letztlich Mitleid mit ihm. Aber das ist wohl einfach nur Geschmackssache.

Das Buch ist unbedingt lesenswert für alle, die böse augenzwinkernde amerikanische Satiren mögen, so wie ich.


Gary Shteyngart „Willkommen in Lake Success“
Aus denn Englischen von Ingo Herzke
Roman gebunden, 432 Seiten
Erschienen im Penguin Verlag
Am 15. April 2019
ISBN 978-3328600695
Preis 24€