26. August 2018

Coming of Age auf Britisch





In ihrem Erstling „Weit weg von Verona“ trifft die gefeierte britische Autorin Jane Gardam den Ton einer altklugen und  launigen 13jährigen einfach perfekt. Skurril und aberwitzig, trocken und „very British“ folgt man auf verdrehten Gedanken und Wegen der Jessica Vye in Cleveland Sands und Cleveland Spa an der nordöstlichen Küste Englands, grandios übersetzt von Isabel Bogdan. 
Es ist eines der unterhaltsamsten Bücher, die ich in letzter Zeit gelesen habe.

Zentrum der Geschichte ist die 13jährige Jessica, die sich in der Schule langweilt und aus Prinzip immer die Wahrheit sagt. Letzteres macht sie nach eigener Einschätzung ziemlich unbeliebt. Sie lebt an der ostenglischen Küste zu Zeiten des Zweiten Weltkrieges, als Luftangriffe der Deutschen das Land heimsuchten. Ihr Vater, ehemals Housemaster einer Schule, verdingt sich nunmehr als Hilfsgeistlicher und schreibt philosophische Zeitungsartikel. Die Mutter ist Hausfrau, eine etwas schnoddrige, und der kleine Bruder ist die Nervensäge der Recht unkonventionellen Familie.
Jessica möchte Schriftstellerin werden, spricht gerne wie Shakespeare in Blankversen und versucht alle Klassiker der örtlichen Bibliothek zu lesen - in alphabetischer Reihenfolge.
Ermutigt wird sie von einem Schriftsteller, der an Jessicas Schule sprach als sie neun Jahre alt war, gebremst von ihrer missmutigen Englischlehrerin Miss Dobbs, die in ihren Bemühungen nur die Flausen einer Heranwachsenden sieht.
Mitten im Lesen, Schreiben, in ihrer ersten Liebe und den Luftangriffen, bei ihren alltäglichen Verrücktheiten mit Freundinnen oder mit der Familie sucht Jessica ihren Weg, erzählt schnoddrig und mäandernd von ihren Erlebnissen und lässt sich von nichts und niemandem einschüchtern.

Das Buch besitzt eine sprachliche Spitzfindigkeit und treibende Dynamik, die beim Lesen große Freude macht. Jane Gardams erster Roman zeigt sehr deutlich, warum sie für ihre Trilogie „Old Fith“ so gefeiert wurde. Einfach eine schöne Geschichte erzählt das Buch hier, unterhält auf höchstem Niveau und ist nicht zuletzt dank der hervorragenden Übersetzung rundum gelungen.



Jane Gardam „Weit weg von Verona“
Roman gebunden, 240 Seiten
Verlag Hanser Berlin
Erschienen im Juli 2018
ISBN 978-3-446260405

22,00 Euro

Dystopisch?





Was passieren kann, wenn aufgeklärte unabhängige Frauen sich lieber ihrer kleinen heilen Welt und Karrierebasteleien zuwenden anstatt aufzustehen und für ihre Rechte zu kämpfen zeigt dystopisch angelegte Roman „Vox“ von Christina Dalcher. Gar nicht so weit in der Zukunft liegend greift sie die Dinglichkeit der #metoo-Bewegung in den USA nach der Machtergreifung Donald Trumps auf und spinnt einfach ein kleines Stückchen weiter, mit schrecklichen Aussichten.

Hundert Wörter haben Frauen in der Bibel-basierten schönen neuen Welt in der nicht allzu fernen Zukunft in den USA täglich zur Verfügung. Bei Mehrverbrauch wird körperlich gezüchtigt mit Armbändern, die Stromschläge verteilen. Jean McClellan, bis vor knapp zwei Jahren emanzipierte und anerkannte Linguistin, musste wie alle anderen Frauen auch ihren Job in der Hirnforschung beenden um als ihrem Mann untergebene und der Familie ergebene Hausfrau den Alltag im Haus zu fristen, eingeschränkt und reglementiert mit Überwachung und irrwitzigen Vorschriften, einzig gefordert und abgelenkt mit zensierten langweiligen Fernsehsendungen. Sie hatte nicht gekämpft, als es höchste Zeit dafür war, hatte lieber an ihrer nunmehr beendeten Karriere gebastelt und ihre kämpferische Mitbewohnerin bei Demonstrationen gegen das aufstrebende bibeltreue extremistische Regime sprichwörtlich allein im Regen stehen gelassen. Fassungslos und ohne Stimme muss sie nun mit ansehen, wie ihre kleine Tochter Sonja an der Schulen zur guten wortkargen Hausfrauen ausgebildet wird. Sprache, Schrift, Bücher und Entscheidungsmöglichkeiten stehen nur den Jungen und Männern zur Verfügung, sofern sie Regime-treu denken und handeln.
Doch das ist nicht das Ende, und Jean bekommt sie Chance, die Gesellschaft zu ändern und ergreift sie.

Es ist ein äußerst spannendes und aufrüttelndes Thema, das die Autorin mit vielen interessanten Aspekten aufgreift. Umso wichtiger, da die Anfänge der Geschichte in unserer heutigen Zeit liegen könnten, in der viele Menschen dummerweise eben nicht rechtzeitig aufstehen und Nein sagen, sondern gefangen in ihren Karrierebasteleien versuchen, vorwärts zu kommen, Leistung zu erbringen und äußerst bedrohliche Zeichen von Veränderungen bewusst oder unbewusst ignorieren.
Reglementierung, Intersektionalität, schleichende Beeinflussung von Kindern an Schulen, falsche Moral und falscher Idealismus auf Kosten eines Teiles der Gesellschaft, Unterordnung und Duldung und Ja-Sagen und nicht zuletzt Extremismus wird hier weitergedacht und in all ihren Blüten im Großen und im Kleinen auf äußerst erschreckende Weise gezeigt. Die Autorin gestaltet die Geschichte dabei auf sehr persönlicher Ebene für Jean und ihr Umfeld, was dem ganzen mehr Eindringlichkeit als eine gesellschaftliche Kritik im Allgemeinen verleiht.

So weit so gut, doch leider gleitet das Buch im letzten Drittel zur unglaubwürdigen und für mich wirklich äußerst konstruierten Schmonzette ab, als Jean versucht, das Land zu retten. An den Haaren herbeigezogene Verwicklungen und Zufälle und ein übertriebenes Liebesgeplänkel machen aus einem glaubwürdigem, guten und aufrüttelnden Buch leider eine flache und wenig glaubwürdige Geschichte, die eine kämpferisch-positive Friede-Freude-Eierkuchen-Stimmung verbreiten will, die so gar nicht zu den ersten Teil passt. Wenn die guten Cowboys alles richtig machen, wird am Ende alles wieder gut. Für alle.

Schade für das Buch, dem ich ein runderes und realistischeres Ende gewünscht hätte.
Das große Potenzial des Anfangs, in dem äußerst eindringlich vermittelt wird, dass man nie die Hände in den Schoß legen darf, sich nie das Ruder aus der Hand nehmen lassen sollte, sondern aufstehen und kämpfen muss, und das mit leisen Tönen und sehr persönlich betrachtet, verliert sich damit, leider.



Christina Dalcher „Vox“
Roman gebunden, 400 Seiten
Verlag S. Fischer
Erschienen im August 2018
ISBN 978-3-103974072

20 Euro

Verlust





Der Debütroman „Elly“ von Maike Wetzel zeigt auf ungewöhnlich eindrucksvolle Weise den Umgang einer Familie mit dem Verschwinden eines Mitgliedes. 

Die elfjährige Elly ist verschwunden, spurlos auf dem nachmittäglichen Weg zum Judotraining im Nachbarort. Die Familie mit Eltern und älterer Schwester bleibt zurück und bemüht sich um Weiterleben. Elly bleibt aber, in den Gedanken, die sich ziellos und endlos um den Tag des Verschwindens, um Schuldgefühle und um Erinnerungen drehen, ebenso durch die Suche nach dem Mädchen und in der Trauer um den Verlust, der keine Gewissheit und keinen Ort zum Trauern kennt. Der Alltag geht weiter, holprig und ganz nah am Abgrund für die Eltern, mit der Versuch um Ersatz für Elly für die größer Schwester. Der Zusammenhalt löst sich jedoch unaufhaltsam auf, die Fassade bröckelt und die Gewissheiten, Verlässlichkeiten und der background als Familie verschwindet zusehends im Sog von Trauer, Verlust und Sehnsucht.

Düster ist die Grundstimmung, schrecklich im Verlust selbst und letztlich ohne oder nur mit falscher Hoffnung stehen alle Charaktere da. Dass ein Kind verschwindet ist ein fürchterliches Ereignis, noch entsetzlicher die Ungewissheit, was passierte. Und gruselig und abgründig ist der Umgang der Familienmitglieder mit dem Verlust. Ines, die ältere Schwester, versucht sich eine neue Elly zu schaffen, Judith, die Mutter, verliert sich in Süchtigkeit. Hamid, der Vater wühlt in Schuld und Sühne. Alle klinken sich letztlich aus der Wirklichkeit aus und driften in verschiedene Richtungen auseinander. Das Konstrukt Familie zerfällt, löst sich auf, und man schaut als Leser äußerst hilflos dabei zu, weil es keine Lösung für Zusammenhalt, Wärme und Hoffnung gibt.

Vielstimmig und immer in der Ich-Form, den Leser dabei direkt wie von einer Theaterbühne herab ansprechend, erzählen die Zurückgebliebenen vom Alltag nach den Verschwinden, von ihren Gefühlen und Gedanken. Das ist ungewöhnlich und eindringlich, erzeugt Nähe und Distanz gleichzeitig durch die direkte Vortragsart, ohne die Möglichkeit, wirklich in die Köpfe einzudringen. Es bleibt einerseits kein Platz, man kann sich als Leser einer direkten Anrede nicht entziehen. Andererseits bestimmt die Figur selbst, wie viel sie von sich preisgibt.
Unterstützt wird das sprachlich brillant, mit kurzen und spröden, fast hackenden Sätzen, mit denen die Autorin ihren Text gestaltet.

Durch die Knappheit des Textes ist man als Leser gezwungen, die Zwischenräume selbst auszufüllen. Mutig verzichtet die Autorin auf Details und ablenkende Beschreibungen, geht keine Nebenwege, sondern hält sowohl ihre Figuren als auch ihr Publikum rigoros bei der Stange. Das fordert beim Lesen, schafft eine unheimliche erzählerische Wucht, und man kann sich nicht einfach davon mogeln und zurückziehen. Bravo dafür!
Das schmale Büchlein ist für mich dadurch ein eindrucksvolles Beispiel großartiger Andersartigkeit beim sehr geradlinigen vielstimmigen Erzählen einer eindringlichen Geschichte.




Maike Wetzel „Elly“
Roman gebunden, 152 Seiten
Verlag Schöffling
Erschienen im August 2018
ISBN 978-3-895612862

20,00 Euro

Zeitreise





Wenn ein Buch schon alleine wegen des Namens der Autorin und dem der Romanheldin so viele Vorschusslorbeeren erntet, ist es schwer, dieses ohne hohe Erwartungshaltung zu lesen. Thematisch höchst interessant, bereits mit Preisen ausgezeichnet und von der Kritik viel gelobt kommt der Roman „Ida“ als Debüt der Autorin Katharina Adler daher.

Die Geschichte der Ida Adler, erzählt von ihrer Urenkelin Katharina Adler, beginnt, wenn auch nicht chronologisch berichtet, am Ende des 19.Jahrhunderts und endet 1945. Die Krankheitsgeschichte der berühmten Patientin Sigmund Freuds, als Hysterikerin eingestuft und durch sich selbst aus dessen Behandlung entlassen, ist geschickt verknüpft mit Idas Familiengeschichte. Höchst interessant mit wenigen eingestreuten Notizen Freuds, löst sich der Roman jedoch weit von Der Hysteriegeschichte und verleiht Ida Adler mit ihrem unglaublichen Überlebenswillen trotz der zeitgeschichtlichen Widrigkeiten und Wirrnisse eine starke Stimme. Nicht minder interessant ist der Werdegang des Österreichischen Sozialdemokraten Otto Bauer, Idas Bruders, und seines Umfeldes, wozu zum Beispiel Friedrich Adler, der den kaiserlichen Ministerpräsidenten Stürgkh erschoss, gehört.
Entspannt, mit Liebe zu Details des Wiener Lebens ist die Familiengeschichte erzählt, und obwohl manche Passagen bemüht und angestrengt wirken ergibt sich ein rundes Bild vom Leben der Jüdin, die bei Kriegsausbruch gezwungen war, ihre Heimat zu verlassen und mit Hilfe der Sozialdemokraten eine wahre Odyssee bis zur Ankunft in den USA hinter sich bringen musste.

Halb fiktional als Romanbiografie erzählt ist das Buch eine Mischung aus wenigen hinterlassenen Materialien der Ida Adler, viel zeitgeschichtlicher Recherche und mit Fantasie der Autorin gefüllten Lücken.
Stilistisch wirkt auf mich sehr störend, dass man diese Übergänge ziemlich deutlich mitbekommt. Das Buch hätte sehr gut funktionieren können, aber vielleicht fehlt der Autorin die Schreiberfahrung, und so entstehen trotz der durchaus gewollten zeitlichen und inhaltlichen Sprünge und der Unterschiedlichkeit der Geschichte zu viele Versatzstücke, die für mich einfach nicht gut zusammenpassen wollen. Sprachlich holprig und etwas mühsam zu lesen wird der Roman dadurch.
Es ist dennoch ein lesenswertes und interessantes Buch, wenn man darüber hinwegsehen kann und sich vordergründig faktisch auf Ida Adlers Geschichte einlässt.




Katharina Adler „Ida“
Roman gebunden, 512 Seiten
Erschienen im Rowohlt Verlag 
am 24.Juli 2018
ISBN 9783498000936

25 Euro



19. August 2018

Sanfter Feminismus







Ein bisschen weichgespült mutet Meg Wolitzers neuestes Buch „Das weibliche Prinzip“ an, nachdem man nach Verlagswerbung und Klappentext eigentlich einen feministischen Roman erwartet. Ich habe das Buch dennoch gerne gelesen, denn die Autorin kann schreiben und verknüpft Amerikanische Familiengeschichte und Coming-of-Age-Roman Geschichte mit einer Geschichte zur Frauenbewegung, letztere allerdings eher wenig kämpferisch.

Geer Kadetsky, ein schüchternes Kleinstadt-College-Mädchen und Faith Frank, seit Jahrzehnten eine Ikone der amerikanischen Frauenbewegung, begegnen sich bei einem von Faiths College-Auftritten. Die damals 63jährige Faith besitzt alle Attribute, die Greer gerne hätte: sie ist charismatisch, kämpferisch und unerschrocken. Die unsichere Greer verändert sich durch diese Begegnung und beginnt, sich wichtige Lebensfragen außerhalb ihrer kleinen heilen Welt mit ihrem Freund Cory, den sie seit Kindestagen kennt, zu stellen. Nach ihrem Abschluss bietet Faith Greer einen Job in einem neuen Frauen-Projekt an, Greer zieht nach Brooklyn und verabschiedet sich damit vollends aus ihrem alten Leben und ihren kleinlichen Zukunftsplänen. Viele positive und auch negative Erfahrungen prägen von da an ihren nicht immer leichten Weg, der sie zur Selbsterkenntnis, Einsicht und letztlich wieder zur zufriedenen Gelassenheit führt.

Meg Wolitzer zeichnet das feministische Erwachen und das Erwachsenwerden der Greer Kadetsky nach, eine Heldin, die sich letztlich versucht selbst zu verwirklichen, aus ihrem kleinen beengten Kreis auszubrechen und statt dessen einen steinigen aber idealistischen Weg einschlägt. Mit vielen Rückschauen und sehr differenzierten Nebenfiguren und Nebenschauplätzen ergibt sich ein unterhaltsames Konstrukt. Interessante Blicke auf die Geschichte der Frauenbewegung, denn auch wenn Faith Frank eine fiktive Figur ist, findet man Entsprechungen in der Frauenbewegung weltweit, und nicht zuletzt aktueller Bezug zu den Machtfragen der Trump-Ära hätten einen wirklich großartigen Roman hervorbringen können, wenn die sprachliche Spritzigkeit der Autorin bei der stellenweise hausbackenen und althergebrachten Übersetzung nicht auf der Strecke geblieben wären und wenn sich Meg Wolitzer nicht weitestgehend auf die kuschelige Gemütlichkeit der weißen weiblichen Mittelschicht beschränkt hätte, die auf Frauen-Konferenzen mit Appetizern in Edelklamotten frisch frisiert die schreckliche Welt ein bisschen zu verbessern versucht.

So ist es eben ein gut lesbarer, unterhaltsamer Roman, dem aber jeglicher feministischer Kampfgeist fehlt, der die Heldinnen seltsam unproduktiv verharren lässt, da die Frage nach Intersektionalität hinsichtlich wirtschaftlicher, sexistischer und rassistischer Benachteiligung nicht einmal gestellt wird und die statt dessen in Drogenschwadigen Erinnerungen schwelgen. Auch bezüglich Greers Weg dreht sich die Geschichte letzten Endes im Kreis, denn auch sie erhebt, als sie desillusioniert auf unbequeme Wahrheiten stößt, nicht wirklich ihre Stimme, sondern gibt den Stab letztlich nur weiter und zieht sich zurück.


Meg Wolitzer
Das weibliche Prinzip
Roman, gebunden, 544 Seiten
erschienen im DuMont Verlag
am 24.Juli 2018
ISBN 978-3-832198985
24 Euro