16. Februar 2017

Wahrheit oder Fiktion?





Im August 1869 passiert in dem Bauerndorf Culduie an der Westküste Schottlands ein Dreifachmord, verübt vom siebzehnjährigen Roderick Macrae. Macrae hat den Constable Lachlan MacKenzie und zwei seiner Kinder auf brutalste Weise erschlagen.
Das Dorf Culduie besteht nur aus wenigen Häusern, in denen 25 Menschen leben und als Kleinbauern (Crofter) ihren Lebensunterhalt bestreiten. Die Familie Macrae lebt unter ihnen mit zwei Kühen, sechs Schafen und einem gepachtetem Feldstück, dass sie bewirtschaftet. Entbehrungsreich, voller harter Arbeit und mit sehr wenigen Kontakten zu den anderen Bewohnern ist das Leben der Familie, weshalb zunächst unverständlich ist, wie es zu solch brutalen Mehrfachmorden kommen konnte.
Für einen Thriller ungewöhnlich ist von Anfang an klar, dass Roderick die Morde begangen hat, die Spannung bezieht das Buch aus der Frage nach dem Warum und daraus, ob die Verteidigung in der Lage ist, ihn vor dem Tod am Galgen zu bewahren.

Graeme Macrae Burnet versetzt den Leser sehr gekonnt ins 19.Jahrhundert, mitten nach Schottland. Mit Spannung verfolgt man beim Lesen die Anfänge der Kriminalpsychologie, streift durch Gerichtsakten und medizinische Gutachten, Befragungen von Zeugen und die Berichtserstattung zum Prozess und wird dabei oft an der Nase herumgeführt. Erst während des Prozesses selbst kommen Hintergründe der Tat ans Licht.

Der Roman besteht aus drei Teilen, beginnend mit den Aufzeichnungen des inhaftierten Roderick Macrae, die dieser auf Anraten seines Rechtsbeistandes anfertigte, folgt Teil zwei als Bericht des Gefängnisarztes und Kriminalanthropologen James Bruce Thomson. Der letzte Teil besteht aus einem ausführlichen Prozessbericht, während dem die Verteidigung versucht, durch den Tatbestand der geistigen Verwirrung ihren Schützling von dem Tod durch den Strang zu bewahren.

Wahrheit oder Fiktion?
Der Autor Graeme Macrae Burnet schafft mit diesem ungewöhnlichen Thriller ein raffiniertes Puzzle und verwirrt den Leser zum einen mit den Berichten selbst, zum anderen damit, dass er sich selbst im Vorwort in die Geschichte einbringt, indem er behauptet, er sei zufällig bei Recherchen auf Dokumente zu diesem Fall gestoßen. Es werden von ihm sehr gekonnt Zweifel an der Echtheit geschürt, sowohl bei den Aussagen und Niederschriften der am Fall Beteiligten als auch am gesamten Fall selbst.

Sehr gut lesbar, unglaublich spannend und absolut ungewöhnlich und unkonventionell hat Burnet über das Verbrechen geschrieben. Neben der vereinnahmenden Geschichte der Morde und des Prozesses hat er eine Konstruktion geschaffen, die über Realität auf äußerst raffinierte Weise reflektiert und den Leser letztlich fragend zurücklässt. Bravo dafür!

Graeme Macrae Burnet, geboren 1967 in Kilmarnock, Schottland, studierte Englische Literatur in Glasgow. Er schreibt seit seiner Jugend und wurde 2013 mit dem Scottish Book Trust New Writer’s Award ausgezeichnet. Er lebt und schreibt in Glasgow.



Graeme Macrae Burnet
Sein blutiges Projekt: Der Fall Roderick Macrae
Roman, Klappbroschur
Europa Verlag
8. Februar 2017
ISBN 978-3958900554
17,99 €

14. Februar 2017

Ungebrenzte Möglichkeiten?




"Das geträumte Land", das hochgelobte Debüt der Kameruner Autorin Imbolo Mbue, erzählt eine Geschichte vom Traum von besseren Leben einer armen Auswandererfamilie in New York. Es ist eine Geschichte von Opferbereitschaft und Verzweiflung, Klassentrennung und Rassismus, Ethnischer Identität, Heimat- und Familienverbundenheit, aber auch von Glück, Hoffnung und Liebe zu Zeiten der beginnenden Wirtschaftskrise 2007.

Jende Jonga, ein armer Kameruner, hat in den USA Asyl beantragt und nach zwei einsamen Jahren mit vielen Mühen schafft er es, dass ihm seine Geliebte Neni und ihr gemeinsamer Sohn Liomi mit einem Studentenvisum folgen ins Land der unbegrenzten Möglichkeiten. Das Paar kann in New York endlich heiraten - in Kamerun vermochte der bitterarme Jende das Brautgeld an Neni's Vater nicht bezahlen. Die junge Familie wünscht sich von ganzem Herzen ein besseres Leben in New York, und als Jende den gut bezahlten Job als Chauffeur des reichen Wall-Street-Brokers Clark Edwards bekommt, scheint ihren Träumen nichts mehr im Weg zu stehen, zumal auch Neni über den Sommer einen Job als Haushälterin im Sommerhaus der Familie Edwards bekommt.
Doch die optimistische Ansicht, dass es jeder in Amerika schaffen kann, bekommt starke Risse, als Clarks Firma im Börsencrash 2007 pleite geht. Das und eine Ehekrise in der Familie Edwards führt zu Jendes Kündigung und im harten Alltag mit mehreren schlecht bezahlten Tellerwäscher-Jobs verliert er allmählich die Hoffnung, dass ein unausgebildeter Schwarzer ohne Greencard in den USA alle Chancen hat, wenn er nur will.
Er driftet immer weiter von seiner Frau Neni weg, die Ihren College-Abschluss nachholt, um Pharmazie studieren zu können, und für die New York trotz quälendem Geldmangels und der zunehmenden Gefahr der Ausweisung die großartige Stadt ist, in der die Familie den Schritt in ein besseres Leben und die Aufnahme und Akzeptanz in besser gestellte Kreise erreichen wird.

Die beiden Familien Edwards und Jonga könnten unterschiedlicher nicht sein. Die reiche weiße Familie Edwards mit einer tadellosen äußeren Fassade erscheinen großzügig, nett gegenüber ihrer Dienerschaft, doch es besteht nie ein Zweifel an den Klassen- und Rassenunterschieden. Hinter dem schönen Glitzer und Familienglück jedoch bröckelt es.
Die Familie Jonga, anfangs der Inbegriff des Familienglücks und der Hoffnung, verändert sich im Laufe der Geschichte, als Jende merkt, dass er mit der ständigen Angst vor der Abschiebung und großer Armut trotz der zehrenden und zeitraubenden Jobs nicht mehr leben will und kann. Bei beiden Jendes offenbaren sich zunehmend negative Eigenschaften ihrer Persönlichkeiten und es kommt immer öfter zum Streit.

Die Frage nach Familie, Identität und Heimat tritt immer mehr in den Vordergrund, ob in Amerika tatsächlich die Verwirklichung des amerikanischen Traumes möglich ist oder ob Rückkehr zur Familie in der Kamerunischen Stadt Limbe das Familienglück bedeutet.
Die Geschichte der aus der Armut in der Heimat geflohenen Familie Jonga mit der Verantwortung zur finanziellen Versorgung für alle in Kamerun zurückgebliebenen Verwandten berichtet eindringlich von Wünschen und Träumen und deren Zerbrechlichkeit am Maßstab des aufreibenden täglichen Lebens von armen Auswanderern. Beherrscht von der ständigen Angst vor den Behörden, verurteilt zu vielen Stunden Arbeit in mehreren schlecht bezahlten Jobs, hilflose Sorge bei Krankheit oder Tod von Familienangehörigen zu Hause und das Gefühl der Heimatlosigkeit bestimmen das Leben. Die Autorin schafft es, wenn auch mit einigen wenigen Längen, sehr gut, dies zu verdeutlichen und unterhaltsam, spannend und intensiv von der Zerrissenheit und der Qual der Familie Jonga zu berichten.

Der Roman, der nichts an Aktualität eingebüßt hat, ist sehr gut lesbar, authentisch verfasst und zu Recht ein gelobtes Debüt, das trotz kleiner Schwächen eine Leseempfehlung mit vier Sternen von mir bekommt.



Imbolo Mbue "Das geträumte Land"
432 Seiten
Roman, gebunden
Verlag Kiepenheuer&Witsch
Erscheinungsdatum 16.02.2017
ISBN 978-3462047967
22,00 €