31. Mai 2018

Einstiegsdroge




Eine pensionierte Musikdozentin, in deren Haus ein Mord nach ihrem Buchmanuskript passiert, ein junger Mann, der besessen nach dem Opfer gewesen ist und zwei Ermittler, die auf den ersten Blick so gar nicht zusammenpassen wollen, sind die Zutaten zum ersten Teil der neuen Kopenhagen-Thriller-Serie von Katrine Engberg, erschienen im Diogenes-Verlag mit außergewöhnlich schönem Cover.

Die Leiche einer jungen Frau, die erst weniger Monate zuvor im Haus der pensionierten Musikdozentin Esther de Laurenti eingezogen war, wird in ihrer Wohnung gefunden, und die erste Spur führt zu einem Buchmanuskript der etwas exzentrischen Esther, das auf verblüffende Weise dem Tathergang dieses Mordes ähnelt, und das nur online in einer Schreibgruppe diskutiert wird. Die beiden Ermittler Jeppe Kørner und Anette Werner versuchen, den Kreis der Verdächtigen und die ernstzunehmenden Spuren einzugrenzen, während weitere Morde geschehen, streng nach Romanvorlage.

Mit dem Reigen um die verdächtigen Personen, verfolgbaren Spuren und dem Miträtseln beim Lesen handelt es sich eher um einen klassischen Ermittlerkrimi als um einen Thriller, was mir jedoch sehr gefiel. Daneben machen die ausführliche Einführung der Autorin ins Setting und eine umfangreiche Biografie, die den Charakteren von ihr mitgegeben wird, das Buch zu einer hervorragenden Einstiegsdroge für weitere Fälle des Ermittlerduos aus Kopenhagen.

Zwar ist in diesem ersten Band Jeppe privat etwas gebeutelt und psychisch angeschlagen, erscheint gefährlich abgelenkt, sein Handeln umständlich und sich selbst im Wege stehend, so dass seine Partnerin Anette im Vergleich zu ihm souverän handeln muss, doch der background seiner privaten Probleme deutet darauf hin, dass er sich nicht als drogenversumpfter abgehalfterter Polizist durch alle Bände ziehen wird.


Nach einem sehr spannend angelegten Versteckspiel zwischen Polizei und Täter wartet das Buch am Ende mit einer überraschenden Auflösung auf, und auch wenn einige wenige Fragen offen bleiben, weil man als Leser gegen Ende eines guten Krimis hinter jedem kleinen Schatten gerne ein Monster sehen möchte, macht das Buch Lust auf weitere Bände dieses wirklich gelungenen nordischen Krimis.



Katrine Engberg „Krokodilwächter“
Thriller, gebunden
512 Seiten
Diogenes Verlag
Erschienen im März 2018
ISBN 978-3257079286
22,00 €

20. Mai 2018

Spröde erzählte Familiengeschichte





Das bereits 1993 im Original erschienene schmale Buch des finnischen Autors Johan Bargun 
erzählt die schmerzhafte Geschichte zweier Brüder, melancholisch, spannend und dennoch in einer ungewöhnlichen Leichtigkeit. Es ist eine Familienstudie, die mit großer Feinfühligkeit und bemerkenswerter Beobachtungsgabe sehr dicht und nahe an den Charakteren handelt.
Erstaunlich, wie der Autor, der in schwedischer Sprache schreibt, es geschafft hat, auf nur 142 Seiten so viel Inhalt zu packen.

Olof und Carl sind Brüder, die im Sommerhaus ihrer Mutter nach langer Zeit der Funkstille wieder aufeinander treffen. Die Mutter wird nach einem Krankenhausaufenthalt sterben, wozu sie sich in das Haus im finnischer Schärengarten zurückgezogen hat. Die Brüder waren und sind Konkurrenten, zwischen ihnen herrschte schon früher unterschwellige und auch offene Aggressivität, wie man aus geschickt eingebauten Rückblicken erfährt. Carl, der beliebtere und charmantere der beiden Brüder, wurde von der Mutter vorgezogen, besonders nach dem frühen Tod des Vaters. Olof hat den Tod seines Vaters und sein Zurückstellen durch die Mutter nicht verschmerzen können, sein Leben und sein Beruf sind geprägt von unsteter Unzufriedenheit. Carl hingegen war mit seiner Frau ausgewandert, hat sich im Beruf mit Erfolg bewährt und eine Familie gegründet, die er ans Sterbebett der Mutter mitbringt.
Ganz allmählich, zunächst in kleinen spröden Gedankenfetzen und später in längeren Passagen, erfährt man beim Lesen, welche Abgründe zur vertrackten und jahrelang schweigsamen Situation zwischen den Brüdern führte. Carls Ehefrau Klara hat daran ihren Anteil, ebenso der Lebenspartner der Mutter „Onkel Tom“.

Schnörkellos und in klarer knapper Sprache führt Johan Bargum des Leser durch die Geschichte, deren Rückblicke und zunehmende Abgründigkeit einen unglaublichen Sog entwickeln. Es wird dennoch Platz gelassen für eigene Gedanken, und obwohl man sich extrem dicht am Geschehen bewegt, wird dies dadurch nie zu eng.

Wichtige grundlegende Lebensfragen, Melancholie und Nachdenklichkeit bestimmen das Buch gleichermaßen wie Witz und Leichtfüßigkeit, was es zu einem ganz besonderen Leseerlebnis macht. Unerwartet und offen ist auch das Ende der Geschichte, eine Leerstelle, die man selbst füllen kann oder nicht. Eine nahezu perfekte, leicht lesbare und klar erzählte Lektüre, die lange nachhallt und eine dringende Leseempfehlung von mir bekommt.




Johan Bargum „Nachsommer“
Roman, gebunden, 144 Seiten
Mare Verlag
erschienen im Februar 2018
ISBN 978-3866482609
18,00 €

15. Mai 2018

Erinnerungen bewahren





Der Roman „Idaho“ polarisiert, man schwankt zwischen der Beurteilung des Textes als absolut geniale Darlegung von Veränderungen und ihren Auslösern und einem sich verzettelnden, unausgereiften und enttäuschend unfertigen Buch. Es kommt auf den Blickwinkel an, und wer es schafft, sich vom irreleitenden Klappentext zu lösen, der entscheidet sich vielleicht wie ich für ersteres, nämlich ein geniales Debüt, das um Kreuzwege im Leben kreist, mit Erinnerungen spielt und dem Leser Ursachen und Auswirkungen auf ungewöhnliche und sehr persönliche Weise erschließt.
Genau das war für mich der Knackpunkt beim Lesen, und glücklicherweise hatte ich es schnell geschafft, den Klappentext auszublenden und das Buch als das zu sehen, was es ist, ohne die Erwartung, einen Thriller zu lesen.

Der Roman dreht sich um das Leben von Wade, seinen Frauen und seiner Familie, um das Verwischen seiner Erinnerungen infolge von Demenz und um die fremde Sichtweise auf Ereignisse, die sein Leben und das seines Umfeldes gravierend verändern. Man blickt durch die Augen von Ann, der zweiten Frau von Wade, auf Ereignisse, die Ann selbst nie erlebte, sondern die sie sich aus anderen Quellen zusammenreimt. Anfangs liest sich das alles sehr verwirrend, was für mich gewollt und großartig gemacht erscheint. Man bekommt beim Lesen einen glaubhaften Eindruck von der Hilflosigkeit, mit der Ann versucht, die schwindenden Erinnerungen ihres Liebsten festzuhalten. Allerdings nimmt die Autorin den Leser dabei nicht an der Hand, sondern lässt ihn selbst voran stolpern, schafft unglaubliche Spannung und große Verwirrung durch die Andeutung kleiner Lichtblitze auf Ereignisse. Dabei ist sehr schnell unterschwellig spürbar, dass es keine Aufklärung im Hinblick auf den Wahrheitsgehalt geben wird, denn das ist eben nicht Thema des Romans. 
Ein zweiter Handlungsstrang begleitet Jenny, Wades erste Frau, und ihre Zellengenossin Elisabeth in der Haftanstalt. Jenny war schuldig gesprochen worden, ihre und Wades kleine Tochter May ermordet zu haben, wozu sie sich zuvor bekannt hatte. Jenny ist nach jahrelanger Haft körperlich und geistig völlig am Ende. Extrem beklemmend, mit psychologisch wohlplazierten Geschossen, ohne Rückzugsort für den Leser ist die Passage anfangs erzählt, wie sich die beiden Frauen nach Jennys fünfjährigen Einzelhaft und nach Elisabeths Terror an ihrer letzten Zellengenossin annähern und beginnen, aufeinander aufzupassen.

Rückblickend wird das Leben von Jenny und Wade, das die beiden vor dem alles verändernden Tod der kleinen May führten, beleuchtet, und man ist durch den Klappentext leider ein bisschen darauf fokussiert zu hoffen, dass es Aufklärung zum Tathergang selbst gibt. Doch genau das ist nebensächlich, denn der Tod von May wird neben anderen Ereignissen als Auslöser für tiefgreifende Veränderungen betrachtet und von der Autorin auch so behandelt. Es ist nur einer von vielen Auslösern, die Wendepunkte sind, und wer bereit ist, das so zu akzeptieren, kann ein wirklich tiefgreifendes und beeindruckendes Buch über Gedächtnisverlust, der Wahrhaftigkeit von Erinnerungen und den Mühen im Umgang mit der eigenen und einer fremden Vergangenheit, verpackt in eine interessante Familiengeschichte erleben.
Die Autorin transportiert auf diese Art ganz nebenbei für mich eindrucksvoll und sehr gekonnt das mir bisher fremde Krankheitsbild der Demenz und ihrer Folgen.


Ich kann das Buch sehr und besonders nachdrücklich empfehlen als anspruchsvolle und manchmal sehr fordernde Lektüre, allerdings sollte man den Klappentext vorher besser nicht lesen, denn durch die absolut nicht treffende Sicht werden nicht erfüllbare Erwartungen geweckt und dem Leser ein völlig falsches Bild vom Buch suggeriert, leider.




Emily Ruskovich „Idaho“
Roman gebunden, 384 Seiten
Verlag Hanser Berlin
Februar 2018
ISBN 978-3446258532
24,00 €

    14. Mai 2018

    Gerichtsdrama mit Ökothrill





    Ein großartiges Setting und ein wirklich interessanter Plot versprechen neben der Spannung ein Buch, das in Manier der Autorin ungewöhnlich und bohrend aktuelle Fragen auf literarisch-anspruchsvolle Art beleuchtet. Es ist ein spannendes Buch, eine Mischung aus Ökothriller und Gerichtsdrama. Allerdings sind für meinen Geschmack die Fäden, die durch Verknüpfung der gut recherchierten Fakten, der spannenden Geschichte und vor allem den Charakteren das Ganze zu einem Roman machen, etwas mürbe und reißen zu schnell.

    Abschmelzende Polkappen, Geld-und Machtgier, Waffenhandel, Forschergeist, höchst exklusiver Lebensstil ohne Rücksicht auf Verluste, Manipulation und eine Leiche sind die Zutaten der Geschichte. 
    Beim Kalben eines Gletschers wird der tote Körper des drei Jahre zuvor im arktischen Eis verschollenen Umweltaktivisten Thomas Harding freigegeben, entdeckt von einem Kreuzfahrtschiff auf der Suche nach Eisbären. Hardings Freund und Geschäftspartner Sean Cawson war mit ihm auf der Expedition unterwegs und gerät unter Verdacht. In einer gerichtlichen Anhörung, die die Rahmenhandlung des Buches in der Erzählgegenwart bildet, sollen die damaligen Ereignisse rekonstruiert werden und Klärung darüber erfolgen, ob Sean am Tod seines Partners Tom, mit dem er eine exklusive arktische Lounge eröffnet hatte und damit gleichzeitig die Arktis schützen wollte, Schuld trägt oder nicht.
    Die Geschichte kreist um die Ereignisse in der Vergangenheit, die zur gemeinsamen Partnerschaft und zum Tod Toms geführt haben und entblößt die volle Bandbreite unternehmerischer Raffgier und Manipulation, die skrupellos profitgierig um die letzten unberührten Orte im arktischen Eis wetteifern, verfilzte und erst nach mehreren Blicken ersichtliche Strukturen zur Finanzierung durch Waffenhandel haben und dabei keinen Gedanken an die Zukunft aller verschwenden. Es ist aber auch eine Geschichte über hohe menschliche Ziele, Abenteuerlust und Freundschaft, die an der Wirklichkeit zerschellt sind. Wie verschieden waren die Vorstellungen der beiden Freunde und Partner bezüglich Umweltschutz und Unternehmertum tatsächlich? Zogen die beiden an einem Strang oder waren sie schon zu Gegenspielern geworden?

    Prinzipiell ist die Geschichte thematisch höchst interessant, mit der faszinierenden Arktis als zu schützender Naturraum in einer durchaus vorstellbaren nahen Zukunft, in der preiswerte transkontinentale Handelsrouten über den geschmolzenen Nordpol wichtiger sind als ökologische Aspekte. Laline Paull weiß auch durch ihren schön dreidimensionalen Schreibstil den Leser bei der Stange zu halten. Aber vieles bleibt für mich nicht gut greifbar und ähnelt eher einem platten Bericht als einem guten Roman. Die Charaktere sind mir zu einfach gestrickt, und auch wenn man erst gegen Ende des Buches mit der „Wahrheit“ versorgt wird, folgen die Figuren vorhersehbar und stereotyp, fast klischeehaft ihrem Weg. 
    Das stört mich übrigens am meisten an dem Buch, dass es einfach zu viele Schubladen gibt, die aufgezogen, eine Person entnommen und ein bisschen laufen gelassen wird, um sie anschließend wieder zuzuschieben, schön getrennt und beschriftet, ohne erkennbare Grauzonen. Ich vermisse die Nähe zu den Figuren, es kommt keinerlei Empathie auf. So bleibt es einfach nur ein Ökothriller mit ungewöhnlichem Setting, zwar spannend aber mehr leider nicht. 
    Noch dazu erinnert die Thematik zusammen mit dem hochgelobten ersten Buch der Autorin doch sehr an Maja Lunde und ihre Führung durch bedrohte Gebiete. Musste wegen der Veröffentlichung des zweiten Bandes von Lundes Öko-Quadologie „Die Geschichte des Wassers“ dieses Buch auch schnell erscheinen und wirkt deshalb streckenweise seltsam unausgegoren, so als hätte Laline Paull den Rahmen gebaut und dann einfach aufgehört?


    Ich muss ehrlich zugeben, dass ich nach den vielen guten Kritiken zu „Die Bienen“ mit einer Erwartungshaltung an das Buch herangegangen bin, die nicht erfüllt wurde. Es ist für mich eine solide 3,5 Sterne Geschichte mit einer großartigen Grundidee, die zwar über weite Strecken recht spannend umgesetzt wurde, aber insgesamt für meinen Geschmack zu leblos zusammengeschrieben ist, mehr eben leider nicht.



    Laline Paull „Das Eis“
    Roman, gebunden, 448 Seiten
    Verlag: Tropen
    31.März 2018
    ISBN 978-3608503524
    22,00 €