12. September 2017

Ich war erfolgreich, wo er versagt hatte




Gast-Rezension meiner Lesefreundin Jenny Vogler
Link zu ihrer Site bei lovelybooks


„Ich begriff, das Rache niemals auslöschen würde, was geschehen war, mich niemals davon abhalten würde, Sie abgrundtief, mit meinem ganzen Sein zu hassen.“

Inhalt
Als Yuko Moriguchis vierjährige Tochter einem als Unfall getarnten Mord zum Opfer fällt, ermittelt die verzweifelte Mutter selbst, wie es dazu kommen konnte. Schon bald findet sie heraus, dass zwei ihrer Schüler, für das Verbrechen die Schuld tragen, doch da beide noch minderjährig sind, vertraut die ambitionierte Lehrerin diesmal nicht der Polizei und der Gesetzgebung, sondern beschließt, die beiden ihrer gerechten Strafe zuzuführen und sich an ihnen zu rächen. Doch so einfach funktioniert das nicht, denn während derjenige, der ihre kleine Manami wirklich töten wollte, sie nur betäubt hat, war sein Helfer derjenige, der alles vertuschen wollte und sie letztlich im Schwimmbad ertränkte. So setzt sie ein Gerücht in die Welt, dem es an jeder Grundlage fehlt, doch den einen treibt sie damit in den Wahnsinn und den anderen verleitet sie zu weiteren mörderischen Taten …

Meinung
Dieser psychologische Spannungsroman hat mich auf ganzer Linie überzeugt, gerade weil er aus einer sehr ungewöhnlichen Perspektive erzählt wird und viele Protagonisten zu Wort kommen lässt, die nichts weiter tun, als dem Leser ihre Version der Geschichte zu präsentieren. So fühlt man sich wie in einem Spiegelsaal – wohin man auch schaut, immer wieder begegnet man dem Bösen, den verzweifelten Hilferufen geschundener Seelen und den niederträchtigen Beweggründen von Mördern und Wahnsinnigen. Dadurch entsteht ein umfassendes, sehr facettenreiches Porträt eines Verbrechens, welches nicht nur die Sinnlosigkeit mancher Handlung in Frage stellt, sondern konkrete Beispiele liefert, wie eine kleine Gruppe funktioniert, wen sie ausschließt, wen sie bevorzugt und vor allem, was passiert, wenn sie aus dem Gleichgewicht gerät und plötzlich mit Begriffen wie Schuld, Verantwortung und Mittäterschaft konfrontiert wird.
Der Titel „Geständnisse“ wurde sehr passend gewählt und umfasst den kompletten Text, der sich mit allen Beteiligten intensiv auseinandersetzt. Trotz der Tatsache, dass der jeweilige Erzähler immer in der Ich-Form spricht, merkt man deutliche Unterschiede zwischen den Charakteren. Dieses hintergründige Agieren hat mir sehr gut gefallen, denn dadurch gewinnt der psychologische Aspekt des Ganzen an Bedeutung und man bekommt ein gutes Gefühl dafür, aus welchen teils abstrusen Gedanken sich eine mörderische Handlung aufbaut. Aber schlimmer noch, die Autorin setzt den Fokus bewusst auf das Motiv Rache und bald schon hat man das Gefühl, dass ein Geständnis noch aussteht und die endgültige Wahrheit noch viel bedrückender sein wird, als das Intermezzo ohnehin schon ist. 

Fazit

Ich bin begeistert und vergebe für diesen ansprechenden, wenn auch ungewöhnlichen Spannungsroman volle Punktzahl und damit 5 Lesesterne. Kein klassischer Thriller, vielmehr eine psychologische Studie über die Verfehlungen, denen Menschen aus diversen Gründen erliegen können. Auch die angesprochene Thematik der Selbstjustiz hat mich zwar erschreckt, erscheint mir in diesem Zusammenhang aber durchaus verständlich. Dieser Roman wird mir noch lange in Erinnerung bleiben, weil er sich so positiv vom „Einheitsbrei“ abhebt und vollkommen ohne Effekthascherei und abstruse Handlungen auskommt – gerne mehr von solch interessanten Sachverhalten.



Kanae Minato "Geständnisse"
Roman gebunden, 272 Seiten
C. Bertelsmann Verlag März 2017
ISBN 978-3570102909
16,99 €

9. September 2017

Geschichte von Schuld und Sühne




Der französische Autor Pierre Lemaitre erzählt in seinem Roman „Drei Tage und ein Leben“ die Geschichte eines Zwölfjährigen, der in einem kurzen Anfall von Einsamkeit, Wut und Enttäuschung zum Mörder wird und daran sein ganzes Leben schwer zu tragen hat.

Verankert in seiner kindlichen Welt merkt der zwölfjährige Antojne, wie eben diese Welt zu bröckeln beginnt. Er lebt allein mit seiner Mutter, seine Freunde interessieren sich mehr für die neueste PlayStation als für Spiele im Wald oder das von ihm gebaute Baumhaus, und als sein Weggefährte, der Hund des Nachbarn, angefahren wird und der Nachbar ihn vor Antoines Augen einfach erschießt, erlebt er eine starke Welle von Einsamkeit und Enttäuschung. In einem mächtigen Anfall von Wut zerstört Antoine sein Baumhaus und später, als der sechsjährige Sohn des Nachbarn Rémi ihm in den Wald zum Spielen gefolgt war, schlägt er diesen im Affekt, so dass Rémi im Wald stirbt und Antoine mit seinen zwölf Jahren plötzlich ein Mörder ist.
Antoine ist hilflos, voller Schuldgefühle, weiß sich aber keinen anderen Rat als die Leiche zu verstecken. Er verschweigt alles und kommt damit durch, sowohl bei seiner Mutter und seinen Freunden als auch bei der Befragung durch die Gendarmerie, die noch am selben Tag eine Suchaktion nach Rémi startet. Antoine ist gebeutelt, geplagt von Schuldgefühlen, vom Verantwortungsbewusstsein für seine Mutter, er plant seine Flucht und verwirft den Plan wieder, unternimmt einen Selbstmordversuch, der fehlschlägt.
Die Natur hilft dem kleinen gemarterten Jungen. Ein Jahrundertsturm hält den Ort für drei Tage in seiner Zange, und nach dem Unwetter ist die Zerstörung so gewaltig, dass die Suche nach Rémi in den Hintergrund rückt und dann ganz aufgegeben wird. Antoine scheint vor der Verfolgung durch die Gendarmerie gerettet.
Zwölf Jahre später kehrt Antoine in das Dorf zurück. Er studiert inzwischen Medizin, hat eine Freundin, die er liebt und mit der er sein Leben weit weg von Zuhause für humanitäre Projekte verbringen will. Doch ein völlig anderer Fehltritt wird ihm zum Verhängnis, und er muss sich, geplagt von seinen ewigen Schuld- und Angstgefühlen, unfreiwillig Zwängen unterwerfen, um nicht doch noch als Mörder entlarvt zu werden.
Ganz am Ende der Geschichte bewegt sich diese in eine völlig überraschende Richtung, und man erfährt in fast kriminalistischer Manier Zusammenhänge, die so überhaupt nicht vorauszusehen waren, sehr sinnige Erklärung für Wirrheiten liefern, die man beim Lesen schon als gegeben hingenommen hatte.

Mit großem Einfühlungsvermögen und viel erzählerischem Geschick beschreibt der Autor die seelischen Nöte des zwölfjährigen Jungen, der nie zum Mörder werden wollte und mit der Situation völlig allein klarkommen musste. Antoine muss mit der Schuld leben, und  seine Zerrissenheit dabei, seine Angst, seine Sorge um die Mutter und deren Ruf, aber auch seine Machtlosigkeit gegenüber der Situation sind nüchtern und dennoch sehr packend erzählt. Man ist beim Lesen ganz nahe bei Antoine, leidet mit ihm, ist genau wie er ratlos, was die beste Lösung. wäre, ist voller Angst und kann der vorsichtigen Hoffnung genau wie er nicht trauen und glauben. Genau davon lebt der Roman, es ist ein großartiges Profil, das der Autor hier von einem allein gelassenen Jungen zeichnet, der versucht, mit seiner Schuld weiter zu leben.
Ebenso genau und dicht werden die Bewohner des Ortes mit ihren Beziehungen untereinander eingefangen, die Atmosphäre scheint vor dem Sturm zu flirren, so angespannt, gefährlich und düster geballt ist die Stimmung.

Knappe und fast stenografische Beschreibungen des Geschehens selbst wechseln mit eindringlichen und wirren Gedanken und Gefühlen Antoines, man liest voller Aufregung und manchmal mit dem sinnbildlich offenen Mund, wie sich der Zwölfjährige in eine für ihn nicht lösbare Situation manövriert und in ihr rettungslos gefangen und verloren scheint.

Es ist ein wirklich großartiges Buch, das völlig wertungsfrei eine sehr ungewöhnliche spannende und abgründige Geschichte von Schuld und Sühne erzählt, ich gebe eine unbedingte Leseempfehlung.


Pierre Lemaitre "Drei Tage und ein Leben"
Roman, gebunden 270 Seiten
aus dem Französischen von Tobias Scheffel
Verlag Klett-Cotta
ISBN 978-3608981063
20 €


1. September 2017

Heimat und Identität




Der Roman „Heimkehren“ spannt mutig und beeindruckend einen weiten Bogen vom Sklavenhandel an der Goldküste im heutigen Ghana über acht Generationen verschleppter afrikanischer Ureinwohner bis in die Gegenwart. Wochenlang stand das Debüt der Autorin Yaa Ghasi auf den Bestsellerlisten der USA, wurde mehrfach preisgekrönt und in 20 Sprachen übersetzt.

Die Familiengeschichte nimmt ihren Anfang mit den Halbschwestern Effia und Esi, beide leben im 18. Jahrhundert und wissen nichts voneinander. Effia, eine schöne Frau vom Stamm der Fante, heiratet einen britischen Offizier, der vom Sklavenhandel in Cape Coast lebt. Ihre Halbschwester Esi gehört zum kriegerischen und starken Stamm der Asante weiter im Landesinneren, wird im Auftrag der Britischen Kolonialmacht geraubt und aus ihrem Dorf verschleppt und als Sklavin im Cape Coast Castle bis zu ihrem Abtransport in die USA gefangen gehalten. Effias Familienzweig ist über mehrere Generationen mit dem Sklavenhandel verbandelt, ihre Nachkommen profitieren davon oder sind Opfer. Esis Kinder und Kindeskinder müssen in den USA um ihr Leben kämpfen, als Sklaven auf unmenschlich geführten Plantagen in den Südstaaten, in den Kohleminen in Alabama als Zwangsarbeiter, zu Beginn des 20. Jahrhunderts im unterdrückten und abgeschotteten schwarzen Stadtteil Harlem in New York als völlig unterbezahlte Arbeitskräfte.
Erst die letzte Generation in der Jetztzeit bekommt die Chance auf einen Platz gleichberechtigt in der Gesellschaft und wird damit nicht wie ihre Vorfahren als minderwertige, gejagte und geprügelte Menschen behandelt.

Yaa Ghasi erzählt die Geschichte kraftvoll und bewegend. Einerseits packendes Familienepos, das die Seiten nur so fliegen lässt, und andererseits ein eindringliches und aufrüttelndes Portrait zur Sklaverei mit all ihren Abscheulichkeiten und Folgen ist dieses Buch ein überaus wichtiges Stück Literatur. Faszinierende Recherchearbeit der Autorin zu Ghana, zur Kolonialmacht der Briten und zur Sklaverei in den USA sorgen für große Authentizität, auch wenn alles in einen spannenden Familienroman verpackt ist. Es ist ein sehr wirkungsvolles Mittel, um die Traditionen der Stämme an der Goldküste, die Anschürung und Förderung kriegerischer Auseinandersetzungen zwischen den als Sklaven sehr begehrten Asante und anderen Stämmen durch die Briten zum Zweck des Menschenraubes und die Schrecken der Sklaverei, der Zwangsarbeit und der schwarzen Ghettos einem breiten Publikum eindringlich näher zu bringen.

Die Geschichte springt kapitelweise von Generation zu Generation, abwechselnd in Afrika und in den USA, man findet einen zeitlichen Anker bei der Erwähnung von geschichtlichen Ereignissen oder beim Alter der jeweiligen Protagonisten. Man begleitet den jeweiligen Charakter beim Lesen eine kurze Zeit und kann durch eingebaute Rückblicke oder mit Hilfe anderer Generationen das Bild vervollständigen. Jeder der Familienmitglieder im Roman ist von seinem Umfeld und seinen jeweiligen Vorfahren beeinflusst und hat eine individuelle Geschichte, ohne dass hier Schwarz/Weiß-Malerei betrieben wird. Die Autorin macht lobenswerterweise nicht pauschal Opfer aus den afrikanischen Sklaven und Mörder aus den Weißen, auch wenn ganz klar gemacht wird, wer die größere Schuld hat. Sie zeigt die Fehler beider Seiten, und genau das macht ihr Buch glaubhaft.

Das Thema Sklaverei ist auch heute leider nicht nicht vom Tisch, und damit ist der Roman wichtig und hochaktuell. In Anlehnung an die im Buch beschriebene Zwangsarbeit von Inhaftierten in den Kohleminen von Alabama sehen sich Menschen auch heute noch Zwängen ausgesetzt, werden bei minderwertigen und krank machenden Arbeiten verheizt, im Auftrag der Billigproduktion auf der anderen Seite des Erdballs. Menschen werden nach wie vor in wichtig und minderwertig eingeteilt, auch in unseren doch so aufgeklärten Köpfen. Der Roman „Heimkehren“ kämpft dagegen an, mit Bildern des Schreckens der Sklaverei und Unterdrückung und des langen Kampfes für Gleichberechtigung aller. 
Ich gebe eine uneingeschränkte Leseempfehlung für dieses aufwühlende, gut recherchierte und wichtige Buch.


Die Autorin Yaa Gyasi wurde 1989 in Ghana geboren, und kam 1991 in die USA. Der Roman »Heimkehren«, im Alter von 26 Jahren geschrieben, verdankt sein Erscheinen ihrer Recherchearbeit nach einem Besuch der Sklavenfestung Cape Coast Castle an der Goldküste von Ghana. Die Autorin lebt heute in Kalifornien.


Yaa Gyasi "Heimkehren"
Roman gebunden, 416 Seiten
DuMont Buchverlag 22.August 2017
ISBN 978-3832198381
22 €