30. Dezember 2018

Herrlich knarzige Dorfgeschichte





„Mittagsstunde“ ist der neue und großartige Roman von Dörte Hansen, in dem sie den Bogen aus der Zeit der Mittagsruhe in den 1970er Jahren mit Flurbereinigung der kleinen dörflichen Parzellen bis in die heutige Zeit mit ihren spürbaren Veränderungen aber auch der Sturheit und dem Festhalten an Vertrautem durch die alten Dorfbewohner spannt.

Eine Dorfgeschichte und zugleich die Geschichte vieler Bewohner des Dorfes ziehen am Hörer/Leser vorbei. Im Vordergrund steht Ingwer Feddersen, heute 47, der als Hochschullehrer in Kiel lebt. Seit 25 Jahren wohnt er in Wohngemeinschaft mit Ragnhild und Claudius. Nichts Halbes und nichts Ganzes in seinen Augen, da keiner seiner Mitbewohner den Sprung in die erwachsene Verantwortung geschafft hat. Ingwer fühlt sich zwar wohl dort, doch tief innen ist er frustriert und unzufrieden.Da kommt es ihm sehr gelegen, dass er ein Sabbatjahr nimmt, um sich um seine Großeltern in Brinkebüll zu kümmern. Großvater Sönke, kaum noch beweglich, hält stur als Dorfkneiper die Stellung, Großmutter Ella ist hochgradig dement und verliert immer mehr ihren Verstand. Ingwer glaubt, den beiden Alten etwas zurückgeben zu müssen, seit sie ihn wie ihren Sohn aufgezogen hatten. 
Inmitten der Gegenwartsgeschichte erzählt Dörte Hansen die Vergangenheit und den Wandel des Dorfes mit Rückblicken. Ausgang ist die Flurbereinigung in den 1970er Jahren, als alte krumme kleine Parzellen umgelagert wurden und daraus große gerade Flurstücke wurden, als Hecken und Bäume an Feldrändern verschwanden, als kleine Bauernhöfe entweder zu profitablen Landwirtschaftsbetrieben umgewandelt wurden oder untergingen und als Merret, Ellas und Sönkes Tochter, von einem der Vermesser der Flurbereinigung geschwängert wurde. Ihr kleiner Sohn Ingwer interessierte sie weniger als Schlagerlieder, und da sie nichts mit ihm anfangen konnte und in immer zunehmende Verwirrung verfiel, nahmen sich Sönke und Ella des Jungen an und zogen ihn groß. Ingwer verließ als einer der wenigen später das Dorf, gefördert vom alten Dorflehrer Steensen zunächst an das Gymnasium und später an die Uni in Kiel. Nach Binkebüll kommt er immer seltener, und die Übernahme von Sönkes Gastwirtschaft stand nie auf seinem Lebensplan.

Dörte Hansen erzählt mit großer Wärme und mit viel Gespür für altes und neues Dorfleben eine 60jährige Dorfgeschichte im Wandel. Ihre Charaktere sind vielfältig wie eine lebendige Dorfgemeinschaft, mit allen Ecken und Kanten, sympathisch oder geduldet, in allen Fällen unheimlich lebensecht. Wer wie ich auf dem Dorf aufgewachsen ist, erkennt zumindest ein paar der vergessen geglaubten Bewohner des eigenen Dorfes wieder, auch wenn man in einer völlig anderen Gegend lebt. Und das ist einfach wunderbar.
Zwar liegt Binkebüll in Norddeutschland und die Menschen im Roman sprechen ausgiebig Platt, aber das Dorf selbst ist überall zu finden, wo die Mittagsstunde zwischen zwölf und zwei, einst heilig und geeignet für Heimlichkeiten, verschwand im Zuge von Begradigungen und Neuerungen, schnellen Dorfstraßen statt Holperpisten, auf denen Kinder überfahren wurden und Jugendliche auf nächtlichen Ausflügen am Baum landeten.
Zwischen Vergangenheit und Gegenwart stetig wechselnd lernt man die Dorffamilie kennen. Jeder kennt jeden, Menschen mit Macken wie Merret, die in Klapperschuhen im ganzen Dorf den Untergang verkündet gehören genauso dazu wie die ständig lesende Bäckerstochter, die selbst beim Brötchenverkauf ein Buch in der Hand hält, oder Heiko Ketelsen, einst vom Vater geprügelt und nicht besonders schlau, aber mit großem Herz und jetzt mit Visionen einer Westernbar in Sönkes alter Kneipe. Ein herrlicher Dorfroman, der zugleich ein Familienroman ist, jeder kennt jeden, Zugezogene werden kritisch beäugt und höchst selten als völlig zum Dorf gehörend akzeptiert.
Dörte Hansen kann aber noch mehr. Man spürt beim Lesen, wie sich der steinerne Himmel auf die Schultern zu legen droht und zieht unwillkürlich gemeinsam mit Ingwer Feddersen die Schultern nach oben, wenn der ewige und feuchte Wind bläst. Landschaften und Stimmungen entstehen so in perfektem Kopfkino. 

Ohne Kitsch und ohne Schönfärberei, und auch ohne die Verklärtheit von Stadtmenschen, die die ländliche Idylle erträumen und die Plackerei nicht kennen, bekommt man eine Ahnung davon, was verloren ging und was keine Renaturierung und kein auf das Kirchendach gesetztes Storchennest zurück holen kann. Neben der Mittagsstunde und der großen Akzeptanz der Gemeinschaft füreinander verschwand auch die Enge, die Plackerei, der Misthaufen und die Rückständigkeit.

Ich habe zunächst das Hörbuch gehört, gelesen von der wunderbaren Hannelore Hoger, deren rabiate und resolute Leseart hervorragend zur Geschichte passt.
Die Sprecherin war diesmal allerdings für mich ein wenig gewöhnungsbedürftig, ich hatte anfangs Schwierigkeiten, die Kapitel klar zu unterscheiden, und auch vom Platt habe ich kaum etwas verstehen können. Hannelore Hoger verwischt für meinen Geschmack ein paar Pausen zu viel, ich bekam auch nicht immer alle Kapitelwechsel sofort mit. Ich habe nach dem Hören zusätzlich das Buch gelesen, weil mir die Geschichte so gut gefallen hat, und das hat sich für mich sehr gelohnt.
Meine vollste Leseempfehlung und eine 4,5-Sterne-Hörempfehlung.





Dörte Hansen „Mittagsstunde“
Roman, gebunden, 320 Seiten
Erschienen am 15.Oktober 2018
Penguin-Verlag
ISBN 978-3-328600039

Hörbuch, Format Audio-CD, ungekürzte Lesung
gelesen von Hannelore Hoger
Random House Audio
ISBN 978-3-837142785



2. Dezember 2018

Interessante Wohlfühlgeschichte mit Gruselfaktor




Die Plattform Lovelybooks hatte vergangene Nacht zur Hörnacht mit Stephen Kings neuester Novelle „Erhebung“ eingeladen und ich war eine der glücklichen Gewinnerinnen einer der vergebenen mp3-CD‘s.
Es hat Spaß gemacht, gemeinsam zu hören und sich direkt online auszutauschen.



Das Hörbuch „Erhebung“ von Stephen King schiebt die beschauliche Kleinstadt Castle Rock in den Focus des Geschehens. King hatte schon mehrere seiner Geschichten hier angesiedelt, schaurige und weniger schaurige. In seiner von David Nathan perfekt gelesenen Novelle steht neben dem üblichen unerklärlichen Phänomen im King-Style weniger der Gruselfaktor sondern mehr der gesellschaftliche Aspekt im Vordergrund.

Der Web-Designer Scott verliert rasant an Gewicht, unerklärlich und unsichtbar für andere, denn seine Körperfülle behält er. Unabhängig von den Dingen, die er am Körper trägt oder in den Händen hält zeigt seine Wage stets das gleiche sich vermindernde Gewicht an.
Mit seinen zwei Nachbarinnen, einem homosexuellen Pärchen, führt er einen sich ausweitenden Kampf, den er eigentlich gar nicht will, doch die Fronten sind verhärtet. Erst beim alljährlichen Stadtlauf in Castle Rock schafft es Scott durch eine äußerst menschliche Geste, den Kleinkrieg zu beenden. Durch seinen Anstoß finden die beiden Frauen Anerkennung und Akzeptanz in Castle Rock, wo zuvor unterschwellig große Ablehnung und Intoleranz herrschte. Und nicht zuletzt findet Scott einen Kreis, in dem er offen sein kann, in dem er akzeptiert und freundschaftlich geliebt wird.

Es ist nicht wirklich wichtig, was mit Scotts Körper passiert, sondern die Veränderungen in seinem Verhalten und in dem anderer in der auf den ersten Blick sehr gemütlichen Kleinstadt sind wesentlich. Ablehnung von Andersartigkeit durch die kleinbürgerliche Gesellschaft, in der Folge Verbitterung der Betroffenen und Ablehnung von Dialog und Kontakt stehen im Vordergrund. Märchenhaft, durch ein unerklärliches Phänomen, führt Stephen King eine Änderung herbei, wo vorherige Versuche des vernünftigen Umganges miteinander gescheitert sind. Dieser Aspekt gefällt mir weniger gut, denn er spricht trotz des hohen Wohlfühlfaktors der Geschichte, in der sich letztlich irgendwie alles zum Guten wendet, den Handelnden ihre normale Fähigkeit der Kooperation bei Problemlösungen ab. Aber gut, es ist nun mal kein realistischer Plot, auch wenn der zwischenmenschliche und gesellschaftliche Konsens hier sehr wohl aus realen Problemen heraus gepflückt wurde. Und ich jammere wohl gerade auf hohem Niveau, denn das Metier des Autors ist nun mal nicht die Realität, was jedem Leser und Hörer seiner Bücher vorher klar sein sollte. Unter diesem Gesichtspunkt ist es eine durchaus hörenswerte und interessante Novelle.


David Nathan als Sprecher ist übrigens wie immer einfach großartig und in meinen Augen für Lesungen gruselig oder übersinnlich angehauchter Stephen King Geschichten nicht zu überbieten. Allein dafür lohnt es sich, das Hörbuch zu hören.



Stephen King Erhebung
Gelesen von David Nathan
Hörbuch, mp3 CD,
Spielzeit 3 Std 8 Min
Erschienen bei Random House Audio
November 2018
ISBN 978-3-837144611

29. November 2018

Schicksalsfäden






Vorschusslorbeeren begleiteten das Erscheinen des Romans „Die Unsterblichen“ von Chloe Benjamin. Das Buch wurde von der Amerikanischen Presse gefeiert, ihr erster Roman „The Anathomy of Dreams“ war preisgekrönt. Und ihr zweites Buch enttäuschte mich nicht, denn auch wenn es auf der Erfolgswelle der Familienromane schwimmt, erzählt das Buch eine ganz besondere Geschichte, die spannend und sehr lesenswert ist.

Im Sommer 1969 erfahren die vier Kinder Varya, 13, Daniel, 11, Klara 9 und Simon, 7, von einer Wahrsagerin den Tag ihres Todes. Wie gehen sie damit um und wie verändern Sie sich und ihre Lebenswege im Angesicht des bekannten Endes? Was fangen sie mit der kostbaren Lebenszeit an, die ihnen bleibt? Wird ihnen das Wissen um den Tod zum Verhängnis?
Grenzgängerisch und grenzwertig sind die Erfahrungen, die Simon, Klara, Daniel und Varya machen und von denen der Roman in vier Abschnitten erzählt, in denen die Autorin jeweils einen Lebensweg ein Stück verfolgt.
Simon geht in den 1980er Jahren nach San Francisco, ohne Bewusstsein für Gefahr, auf der Suche nach Liebe und Lust. Klara verwirklicht ihren Traum und wird Zauberkünstlerin und Grenzgängerin zwischen Wirklichkeit und Magie, auf den Spuren ihrer Großmutter, die bei einem spektakulären Trick ums Leben kam. Daniel führt ein auf den ersten Blick normales Leben, als Militärarzt findet er Ordnung und Sicherheit nach den Anschlägen von 9/11, lebt aber in Düsternis wegen des Wissens um seinen Tod. Und Varya beschäftigt sich mit Altersforschung an Primaten, lebt dabei selbst wie ein Labortier abgeschottet und auf halber Kraft, so als müsste sie unbedingt selbst zu ihrer vorausgesagten Lebensspanne beitragen.

Eindrucksvoll, gekonnt und spannend beschreibt das Buch die vier Lebenswege, die nicht losgelöst voneinander stehen, sondern durch geschickt plazierte Querfäden und mäanderndes Erzählen von vergangener Familiengeschichte miteinander verknüpft sind. Chronologisch schließen die Abschnitte jeweils aneinander an, und das ist keineswegs langweilig, denn die Autorin liebt Abschweifungen innerhalb ihres Erzählfadens, so wie ich auch.

Die zentrale Frage des Romans ist für mich, ob das Wissen um den eigenen Tod Entscheidungen beeinflusst und wie die Figuren mit diesen Entscheidungen - den eigenen und denen ihrer Geschwister - umgehen. Es scheint so, als würden Simon, Klara, Daniel und Varya eben dadurch ihren Tod zwangsläufig herbeiführen, dass sie Dinge tun, die sie ohne dieses Wissen vermieden hätten. Trotz des verbindenden Erlebnisses mit der Wahrsagerin scheinen sich die familiären Beziehungen immer mehr auszudünnen und aufzulösen, über lange Zeiten leben die Geschwister getrennt und zerstritten, ohne Kontakt zueinander. Lediglich der Tod und sein Wissen um ihn scheint als verbindendes Element zu stehen. Trauer kommt oft vor Liebe, und der Verlust oder die Angst davor wirkt oft bestimmend für den zwischenmenschlichen Umgang.
Der Roman berührt vielleicht gerade dadurch so sehr, weil es keine Fantasy-Elemente gibt sondern nur die Wirklichkeit und das zunehmend düstere Schicksal, zu dessen Erfüllung die Geschwister letztlich allein beitragen.
Für mich ist es ein wirklich wunderbares Buch, das eine tragische und spannende Geschichte mit großer Lust am Fabulieren erzählt und von mir eine unbedingte Leseempfehlung bekommt.





Chloe Benjamin: Die Unsterblichen
Roman gebunden, 480 Seiten
Erschienen im btb-Verlag
Oktober 2018
ISBN 978-3-442758197

20,00 €

Spannendes Real-Crime-Epos





Filmreif, wie für die große Leinwand gemacht, erzählt Stephan Talty in seinem Real-Crime-Buch „Black Hand“ die Geschichte der ersten Mafia New Yorks und die Heldengeschichte des unerbittlichen Verfolgers der italienischen Verbrecherorganisation Joseph Petrosino. 

Der „italienische Sherlock Holmes“ Petrosino, der als Kind armer Süditaliener mit der ersten Einwanderungswelle 1873 in New York landete, mit der 6.Klasse die Schule verließ und mit Jobs als Schuhputzer und Straßenfeger schon als Teenager die gesamte Familie ernährte, besaß die Kraft und den Willen, sich inmitten des irisch dominierten New York Police Department als erster italienischer Detective Sergeant des Landes zu behaupten. Als Meister der Verkleidungen und erbarmungsloser Draufgänger legt er sich mit den Mafiagrößen der gefürchteten Organisation „Black Hand“ an und hatte dabei enorm großen Erfolg, trotz der lachhaft geringen finanziellen Mittel, die seiner Truppe „Italian Squad“ zur Verfügung standen. Spektakuläre Erfolge begleiteten seinen Weg genauso wie ständige Morddrohungen, Gefahr und Verrat, und ebenso ruhmreich und berühmt wie Petrosinos rastloses Leben ist seine Beerdigung, bei der die Straßen New Yorks von 250.000 Menschen gesäumt waren.

Talty zeichnet ein aufregendes Bild der Metropole New York zu Beginn des 20.Jahrhunderts mit Augenmerk auf Verbrechen und Korruption innerhalb der aufstrebenden Verbrecherorganisation „Black Hand“ und auch innerhalb des NYPD und der Stadtverwaltung. 
Spannend und sehr flüssig geschrieben liest sich das Buch eher wie ein Roman denn wie ein Sachbuch. Äußerst detaillierte Blicke auf Petrosinos Arbeit und auf seine Neuerungen, die die damalige Polizei landesweit revolutionierten, ebenso wie auf den Hergang von Verbrechen der Mafia-Organisation und die im Hintergrund gezogenen Fäden halten den Leser ganz dicht am Geschehen und sind gleichzeitig Sinnbild einer absolut hervorragenden und äußerst umfangreichen Recherche des Autors. Auch wenn das Buch sehr viele Details und Namen enthält schafft es Stephen Talty gekonnt, den roten Faden seiner Heldengeschichte um Petrosino nie zu verlieren, er verwebt kluge faktische Schilderung mit erzählerischer Spannung, was dieses Buch außergewöhnlich macht. 
Das Buch ist ein Real-Crime-Blockbuster, den ich allen Liebhabern aufregender Kriminalgeschichten mit gut recherchierten historischen Hintergrund nur empfehlen kann.
Und ich freue mich schon sehr auf die Filmversion mit Leonardo DiCaprio in der Rolle des Joseph Petrosino.





Black Hand
Stephan Talty
Klappbroschur 318 Seiten
Erschienen im Suhrkamp Verlag
November 2018
ISBN 978-3-518469248
Preis 14,95 €

28. November 2018

Wunderbar und eindringlich






Jean-Phillippe Blondel hat mit seinem Roman „Ein Winter in Paris“ eine kleine literarische Perle geschaffen, die fasziniert und bedrückt.

Blondel erzählt in seinem ruhigen und sehr eindringlichen Roman die überaus einsame und stille Geschichte von Viktor, einem unsichtbaren Außenseiter, der erst durch den Freitod eines vermeintlichen Freundes von seinen Kommilitonen an einer Pariser Eliteschule wahrgenommen wird. 
Viktor kam aus der Provinz nach Paris, stammt aus einer relativ bildungsfernen Familie und belegt einen Vorbereitungskurs einer Eliteschule, den Pariser Concours, die unter großem Leistungsdruck und auch elitärem Druck Studenten-Nachwuchs für renommierte Universitäten produzieren.
Viktor ist einsam dort, und einzig Mathieu, ein Junge aus dem Kurs unter ihm, trifft sich regelmäßig auf eine Zigarette mit ihm. Als Mathieu im Treppenhaus der Eliteschule in den Tod springt, hat Viktor plötzlich alle Aufmerksamkeit, zwischenmenschliche Beziehungen verschieben sich zu seinen Gunsten, Viktor wird sichtbar und interessant als der vermeintliche Freund des Opfers. Komplett abgenabelt von sozialen Verpflichtungen gegenüber seiner Familie in der provinziellen Heimat lässt sich Viktor in dieses neue Leben fallen und droht dabei, verloren zu gehen.

Blondel schafft es auf unheimliche Weise, den schulischen Druck und das Konkurrenzdenken, das elitäre Schweigen und die Ignoranz gegenüber Außenseitern, das Stehen am gesellschaftlichen Rand einer Eliteschule zu vermitteln. Die Sehnsucht nach Anerkennung und Gesellschaft bringt seinen Protagonisten dazu, die Aufmerksamkeit zu genießen, sich zugehörig zu fühlen und anzupassen. Die harsche Kritik, die Blondel am elitären Pariser Bildungssystem übt, wird durch das Schweigen aller - Professoren und Studenten - nach Mathieu´s Freitod sehr eindringlich unterstrichen. Nichts verändert sich, und außer dem gesellschaftlichen Zuspruch, den Viktor von vielen Seiten genießt, bleibt alles beim alten - der Leistungsdruck und die Angst vor Versagen und Exmatrikulation prägen den Schul-Alltag weiterhin.
Zwischenmenschliche Beziehungen werden im Roman zum Selbstläufer, abgenabelt vom Ursprung, Viktor findet endlich, wonach er sich immer sehnte, und es fühlt sich beim Lesen dennoch kalt, künstlich und falsch an. Gefangen in der ihm geschenkten Aufmerksamkeit aus höhergestellten Gesellschaftsschichten verliert Viktor seinen Weg und fast sich selbst.


Am Ende verdichtet Blondel in einem wunderbaren Bogen mittels eines Gesprächs die Handlung, lässt seinen zappelnden Protagonisten von der elitären Angel und zurück ins wahre Leben entkommen. Er bleibt für immer geprägt, so wie ich als Leser auch, nach dieser faszinierenden, spannenden und kritikreichen Lektüre.



Jean-Philippe Blondel
Ein Winter in Paris
Roman
Übersetzt aus dem Französischen von Anne Braun
Erschienen im September 2018
Verlag Deuticke (Hanser)
 

192 Seiten
ISBN : 978-3-552-06377-8
€ 19,00

18. November 2018

Familienpuzzle



Wenn der Schauspieler Christian Berkel ein Buch schreibt, noch dazu ein autobiografisch angehauchtes, ist man als Leser einerseits neugierig, andererseits zwiegespalten, ob das gut gehen würde. Soweit die Vorschusslorbeeren und die Zweifel, der Rest ist schriftstellerisches Können und eine äußerst interessante Familiengeschichte, die an ein paar Stellen phantastisch und sehr gekonnt ausgeschmückt wurde, und der man nicht anmerkt, dass es ein Debüt-Roman ist.

Das Buch „Der Apfelbaum“ erzählt von Christian Berkels jüdischer Mutter Sala Nohl, die sich als junge Frau mehr als Deutsche denn als Jüdin fühlt und natürlich dennoch aus Deutschland vor den Nationalsozialisten fliehen muss. Es erzählt auch von seinem Vater Otto, einem Berliner Ganoven, der Dank Salas Hilfe aus der Gosse entkommen und Arzt werden kann.
Die Haupthandlung folgt dem Lebensweg von Sala und Otto und überspannt eine Zeit von den 1920er Jahren bis in die 1950er Jahre, wo sich Sala und Otto nach ihrer Flucht und seiner Kriegsgefangenschaft wiedersehen können. Nationalsozialismus, Judenverfolgung und der Zweite Weltkrieg bestimmen Salas Leben in der Zeit dazwischen, sie verbringt es teils auf der Flucht in Paris und in Spanien, in einem Internierungslager in Spanien, und teils unter falscher Identität in Leipzig. Otto, Vater ihrer Tochter, ist zu Kriegszeiten in Russland bei der Wehrmacht als Arzt und gerät gegen Kriegsende in russische Gefangenschaft.
Die Geschichte bietet hier nur Hintergrund für den dramatischen Lebensabschnitt, den Sala und auch Otto beschreiten, die Nazizeit ist Auslöser für die Tragödie, die das Paar durchleben muss. Die Nazis spielen keine wesentliche Rolle in Berkels Roman, ohne diese Zeit zu verzuckern schafft es Christian Berkel, das Schicksal von Sala und Otto losgelöst von historischer Wertung zu erzählen, einfach nur als fast kinoreife Familientragödie mit einem Happy End.
Berkels Familienkosmos umfasst noch viele weitere interessante Figuren, die den Roman wie großes Kino erscheinen lassen, zumal alles auf wahren Begebenheiten beruht. Der Großvater lebte als einer der ersten in der Nudistenkolonie auf dem Monte Verità, hatte eine Liebesbeziehung mit Erich Mühsam und therapierte Hermann Hesse. Seine Großmutter kämpfte als Anarchistin in Spanien bei den Internationalen Brigaden auf Seiten der Republikaner, Berkels Großtante lernte in Paris beim Modezar Hermès ihr Handwerk und betrieb eine florierende eigene Boutique dort.

Die Geschichte ist souverän und mitreißend erzählt, die Handlung besitzt eine Dynamik, der man sich beim Lesen nicht entziehen kann. Passagenweise taucht Berkel in seinem Roman selbst auf, er erzählt von Treffen und Interviews mit seiner Mutter und von Nachforschungen zur jüdischen Vergangenheit seiner Familie in Lodz. Das macht die Geschichte für mich herausragend aus den vielen momentan auf dem Markt befindlichen deutschen Familiengeschichten, hier kommt Berkels schriftstellerisches Geschick für mich voll zum Tragen. Indem er nämlich die übliche Beschönigung und Weichzeichnung vieler Deutscher Geschichten beiseite wischt und sich selbst befragt, Täter-Opfer-Rollen ganz klar zuordnet und sehr ehrlich ins rechte Licht rückt.
Von mir gibt es großen Applaus für diese oftmals schwierige Ehrlichkeit und dafür, dass im Roman im wesentlichen eben nicht Geschichte analysiert und gewertet sondern auf sehr persönliche Art erzählt wird.
Das Buch sollte viele Leser finden, nicht zuletzt weil mehr von uns den Nazischwager Günther in ihrer Vergangenheit stehen haben als die jüdische Urgroßmutter Alta aus Lodz, und weil es wichtig ist, sich genau das einzugestehen.
Und davon abgesehen ist es einfach eine wunderbar elegant, spannend und mitreißend erzählte Familiengeschichte, die äußerst lesenswert ist.



Christian Berkel
„Der Apfelbaum“
Roman gebunden, 416 Seiten
Ullstein Buchverlage
Erschienen im Oktober 2018
ISBN 978-3-5500819655

22 €

Amerikanischer Albtraum




Pearl lebt seit ihrer Geburt vor auf den Vordersitzen im Auto auf dem Besucherparkplatz eines Trailerparks im Nirgenwo in Florida, ihre Mutter Margot, eine Ausreißerin aus gutem Hause, wohnt auf der Rückbank. Umgeben von schießwütigen Waffennarren, Waffenschmugglern, falschen katholischen Priestern, verseuchten Müllbergen in der wohl hässlichsten Gegend Floridas, Hoffnungslosigkeit und Armut herrscht im Inneren des Ford Mercury eine kleine heile Welt, geschaffen von der Pearls Mutter und ihren Träumen, die sich wie Zuckerguss über die raue Wirklichkeit außerhalb der Windschutzscheibe legt. Mutter und Tochter kramen in schönen alten Dingen aus Margots früheren Leben, das sich im Kofferraum des Ford versteckt, üben Rachmaninow-Klavierkonzerte auf dem Armaturenbrett, essen mit Silberbesteck von Limoges-Porzellan und spielen Ausflug mit dem Auto. Margot hofft seit ihrer Flucht von zu Hause vor den Fliegenklatschen ihres Vaters, eines Tages dem Leben im Auto zu entfliehen und einen richtigen Wohnsitz zu finden. All das endet, als die Waffen im Ford Mercury einziehen in Gestalt von „Mr Bad“ und seinen Pistolen, in den sich Pearls zuckersüße Mutter Margot verliebt und der den Zauber zwischen Mutter und Tochter, der aus Liebe und süßen Träumen bestand, zerstört und statt dessen die omnipräsenten Waffen und die Gewalt und das Verbrechen in den Ford bringt.

Die Geschichte liest sich wie eine Mischung aus zucker-süßen Countrysongs und grausamen Märchen, erzählt aus der Sicht von Pearl mit all ihrer Verträumtheit und jugendlichen schonungslosen Direktheit, sie strotzt vor Armut und Elend, liebenswert-verrückten und unmenschlich verbrecherischen Charakteren in Dickens‘scher Manier, für die es allesamt kein Entkommen aus der Waffenhölle gibt. Anfangs tauchen Waffen nur indirekt auf, später nimmt die Allgegenwärtigkeit von Pistolen und Co und die Waffenverliebtheit fast epische Ausmaße an. Da schenkt ein Mann seiner Angebeteten als Zeichen seiner höchsten Liebe und seines Vertrauens eine Pistole, ein Priester führt eine Kampagne „Gebt Gott eure Waffen“, die Vorwand zum Waffenschmuggel ist, immer und überall finden Schießübungen statt und Gläubige gehen mit geschultertem Gewehr zum sonntäglichen Gottesdienst.

Mit gutem Grund handelt das Buch in Florida, im hässlichen Teil, wo die Zahl der „vertretbaren Tötungen“ seit dem Inkrafttreten des „Stand-Your-Ground“ - Gesetzes enorm anstieg. Die im Buch wie selbstverständlich wirkende Alltagsgewalt, von brutalen Männern gegenüber Frauen ausgeübt, Obdachlosigkeit, Hoffnungslosigkeit am Rand des amerikanischen Traumes können auch von Träumen und Liebe nicht übertüncht werden, und das schmerzt beim Lesen. Letztlich siegt die brutale männliche Gewalt über weibliche träumerische Mutterliebe, Margot stirbt im Kugelhagel und Pearl greift später auch zur Waffe, um Rache zu nehmen.

Auch wenn manchmal sprachlich manchmal an der Grenze zum Kitsch bezüglich der Liebessongs und Kalendersprüche vermittelt das Buch für mich eine äußerst intensive und eindringliche Botschaft hinsichtlich der für uns Mitteleuropäer nicht nachvollziehbaren mythischen Waffenverliebtheit der Amerikaner, bezüglich Gewalt und amerikanischem Albtraum, in der Waffen das einzige Machtmittel und die einzige Sicherheit der ohnmächtig am Rande der Gesellschaft Lebenden zu sein scheint.
Unbedingte Leseempfehlung, für mich war es ein Lese-Highlight.





Jennifer Clement: 
"Gun Love"
Roman gebunden, 252 Seiten
Erschienen im Suhrkamp-Verlag
September 2018
ISBN 9783518428320

22€

28. Oktober 2018

...da waren‘s nur noch neun...



Ein rasanter und äußerst spannender Horrorthriller mit vielen Überraschungen entwickelt sich aus einer Halloweenparty in Stil der 80er Jahre.
Jonas Winner hat mit seinem neuesten Werk „Die Party“ eine packende Herbstlektüre passend zu Halloween geschrieben, mit einem kleinen Augenzwinkern in Richtung 80er Jahre Teenie-Horrorfilme und dennoch nägelkauender Spannung; und ja, man muss so etwas mögen, um das Buch lesen zu können.

Am 31. Oktober feiern zehn Jugendfreunde eine Party im Stil der 80er Jahre, auf Einladung von Brandon, dem elften, in einem Haus mitten auf einem Felsplateau. Ohne Handys, die zu Beginn der Party abgegeben werden mussten, mitten im Wald und konfrontiert mit der Erkenntnis, dass ein Mörder unter Ihnen ist, sehen sich die Gäste einem Horrorszenario gegenüber, das gruselig, schockierend und kaum vorhersehbar ist. Und auch wenn zur Auflösung tief in die Trickkiste gegriffen wurde und vieles nicht gerade realistisch erscheint ist es ein Thriller, mit dem man eine durchwachte Nacht sehr gut verbringen kann und der angenehm an den Nerven zerrt.

Wer dieses Genre mag und nachts lieber Spannung statt Schlaf sucht, dem sei dieses Buch wärmstens empfohlen. Denn die Geschichte hat einen leichten Zugang für den Leser, treibt mit großem Tempo voran, lässt am Ende (im letzten Drittel) ein Weglegen des Buches kaum zu. Das Setting mit dem 80er Jahre-feeling ist natürlich Geschmacksache, und die Charaktere hätten ein bisschen mehr Tiefe vertragen. Dafür punktet Jonas Winner mit einer gut herausgearbeiteten psychologischen Komponente, nämlich das im Laufe der Party zunehmende Misstrauen unter den Gästen, damit erinnert er an Altmeisterin Agatha Christie.

Es ist ehrlich gesagt nicht so ganz mein Genre, ich bevorzuge langsamere Geschichten. Doch ich wusste vorher, worauf ich mich einlasse, und als temporeicher Thriller ist mir das Buch 3,5 Punkte und eine Leseempfehlung für Thriller-Leser wert.


Jonas Winner hat schon viele spannende Bücher geschrieben. Geboren in Berlin, aufgewachsen dort und in Rom arbeitete er nach Studium und Promotion in Philosophie als Journalist und TV-Reporter, gründete ein Label für Drehbücher und begann 2000 mit dem Schreiben.
Alle Titel, die er bisher schrieb, finden sich auf seiner Site http://jonaswinner.com/



Jonas Winner „Die Party“
Thriller, broschiert, 368 Seiten
Erschienen im Heyne Verlag
September 2018
ISBN 978-3-453439184
12,99 €

Starke Persönlichkeit



Mitten in den Wirren des Zweiten Weltkrieges spielt das Buch „Hemingway & Ich“, bei dem es auch um die Wirren der Liebe zwischen der Kriegsreporterin Martha Gellhorn und dem berühmten Schriftsteller Ernest Hemingway geht. Die Autorin Paula McLain hat gute Recherchearbeit geleistet und die Liebe und Ehe der beiden von 1936 bis 1945 als Basis für ihren Roman herangezogen.

In einer Bar in Key West, während einer Familienreise mit Mutter und Bruder, trifft die 28jährige Martha auf den 10 Jahre älteren Ernest Hemingway, den sie als junge Autorin bewundert und vergöttert. Sie hat ihre ersten Gehversuche als Schriftstellerin gerade gemeistert, und dort, wo man im Süden Floridas der damaligen Zeit als Leser das Leben riechen und fast schmecken kann, erweist sich Ernest als vollendeter Reiseführer und Charmeur.
Für Martha tun sich ungeahnte Möglichkeiten auf, sie, die Suchende und Reisende, folgt Ernest in Francos Spanien, beauftragt von der New Yorker Zeitschrift „Collier‘s“. Sie schlägt sich bei der Überfährt und in Spanien allein bis nach Barcelona durch, lebt in Madrid in Sicht- und Hörweite der Front im berühmten Hotel „Florida“ und begründet neben ihrer Karriere als Kriegsreporterin auch ihre stürmische Liebesbeziehung zu Ernest. Inmitten von Kämpfen der Republikaner gegen Francos Truppen, abendlichen Gelagen mit anderen Journalisten, Schriftstellern und Bohemians und zunächst geheimen nächtlichen Treffen mit Ernest in ihrem Zimmer lebt Martha ihren gefährlichen und für die damalige Zeit äußerst untypischen Traum.
Hemingway trennt sich nach der Rückkehr von seiner zweiten Frau Pauline, er lebt mit Martha auf Kuba und wird die Sonne in Marthas Universum, um den ihr schriftstellerisches Engagement kreist. Ernst Hemingway ist mit der Veröffentlichung seines Werkes „Wem die Stunde schlägt“ einer der bekanntesten und wichtigsten Schriftsteller seiner Zeit, und auch wenn Martha mit eigenen Werken kleine Erfolge feiern kann, steht sie doch als Autorin hintenan. Es treibt sie um, und ihr unbedingter Wille zur Unabhängigkeit jagt sie aus dieser Konkurrenzsituation heraus, um erneut als Kriegsreporterin zuerst in Finnland, dann in China und später in Großbritannien und Frankreich zu recherchieren und zu berichten. 
Für Ernest wird sie damit viel zu unabhängig, er, der es gewohnt ist, der Mittelpunkt des Geschehens zu sein, beruft sich auf das damalige US-Matriarchat, auf seinen Weltruf als Schriftsteller und verbaut Martha die Chance auf weitere Berichterstattung bei der Landung der Amerikaner in der Normandie.

Paula McLain hat den Roman auf der Basis wahrer Begebenheiten geschrieben. Sehr beeindruckend und bewegend liest sich das Schicksal von Martha Gellhorn während des Zweiten Weltkrieges, in dieser Zeit, in der sie ihre Berufung als Kriegsberichterstatterin mit dem Fokus auf ganz persönlichen Schicksalen und dem Leiden der Armen während eines Krieges findet. Sie ist als ambivalenter Charakter gezeichnet, getrieben von ihrer Unabhängigkeit, ihrer Reise- und Abenteuerlust, von ihrem Ehrgeiz und gleichzeitig von ihrem Mitgefühl und ihrem Gespür für soziale Missstände, immer bereit, dafür selbst zurück zustecken. Man neigt beim Lesen zunächst ein wenig dazu, sie in die Ecke der unzufriedenen und verzogenen Göre zu stecken, die von der Sucht nach Erfolg zerfressen ist, aber das ist sie nicht. Im Laufe der Geschichte entpuppt sie sich als ernst zu nehmende Reporterin, die ihren Weg inmitten vieler Querelen sucht, zu denen nicht zuletzt gehört, dass sie eine Frau und eben kein Mann ist. Sie verleiht den Geknechteten und Unschuldigen eine Stimme, ohne selbst als Heldin erscheinen zu wollen.
Hemingway hingegen hat für mich in diesem Buch gegen Ende des Krieges eher den Eindruck eines großen Jungen hinterlassen, der gern Krieg spielen möchte und um jeden Preis dabei sein will. Er ist der große Retter und Held, kein Mann der leisen und trauernden Töne.


Der Roman bewegt beim Lesen, ist spannend geschrieben, und ich habe es sehr genossen, von dieser starken Frau, die sich unter die Fittiche ihrer Faszination für den großen Hemingway begibt, zu lesen und ihren Weg zurück in die Unabhängigkeit zu verfolgen. Martha Gellhorn ist eine beeindruckende Persönlichkeit, und diesem Ruf wird die Autorin auf dem kurzen Lebensabschnitt, den das Buch umfasst, mehr als gerecht. 





Paula McLain „Hemingway & ich“
Roman gebunden, 448 Seiten
Erschienen im Aufbau-Verlag
Oktober 2018
ISBN 978-3-351037451
24,00 €

2. Oktober 2018

Episch und sehr amerikanisch



Die Pulitzerpreisträgerin Jennifer Egan hat mit ihrem neuesten Roman „Manhattan Beach“ ein vielschichtiges, spannendes und sehr amerikanisches Buch geschrieben, das Familiengeschichte, Frauenschicksal und ein Sittengemälde New Yorks in den 30er und 40er Jahren in sich vereint und sich locker wegliest. Wer allerdings höchsten Anspruch erwartet, wird enttäuscht werden, allerdings ist ihr Stil gewohnt gekonnt, ihre Recherchearbeit zum Buch äußerst gründlich und die fast episch zu nennende Geschichte verknüpft Wahrheit und Fiktion so geschickt, dass ein Buch vorliegt, bei dem das Lesen großes Vergnügen bereitet.

Im Mittelpunkt der in den 1930er und 1940er Jahren spielenden Geschichte steht die junge Anna Kerrigan, die für Kriegszwecke in der Marinewerft arbeitet. Ihre Mutter kümmert sich um die schwerstbehinderte Schwester Lydia, ihr Vater Eddie ist verschwunden. Annas Leben ändert sich, als sie einen Taucher beim Übungsgang beobachtet, sie kämpft mutig und sehr entschlossen darum, Marinetaucherin zu werden. Und sie trifft Dexter Styles, Verbrecher, Nachtclubbesitzer und Syndikatsmitglied. Für ihn hatte ihr Vater Eddie gearbeitet, bevor er verschwand.
Anna ist als Frauenfigur gezeichnet, die in einer Männerwelt ihren Weg sucht und eisern verfolgt. Sie hat es dabei nicht leicht und muss viele Rückschläge hinnehmen, die immer mit Vorurteilen ihrer Vorgesetzten zu tun haben, nie mit ihren mangelnden Fähigkeiten, denn alle Herausforderungen des Taucherberufes meistert sie gekonnt.
Jennifer Egan schreibt mit der Geschichte der Marinetaucherin Anna eine eindringliche Hommage an Frauen, die in Männerberufen bestehen, sich ihren Weg erkämpfen müssen. Sie taucht dazu in die Vergangenheit eintaucht und ergänzt diese durch Fiktion. Denn in der Realität gab es zu dieser Zeit nie Frauen, die als Taucherinnen in der Marine waren. 

Ein großer Teil der Handlung spielt im Gangstermilieu, Anna ist auf der Suche nach ihrem Vater Eddie, und der Erzählstrang über ihn verfolgt seine Kindheit im Heim zu zwielichtigen Geschäften im Gewerkschafts- und Mafia-Umfeld.
Gekonnt verbindet die Autorin die verschiedenen Ebenen des Buches, allerdings erfordert das Lesen große Aufmerksamkeit, denn die Szenenwechsel und Übergänge bewegen sich hart an der Grenze des „Zuviel“, da die Autorin auch öfters Trips in die Vergangenheit und zurück einbaut.

Ich habe diesen ungewöhnlichen Roman sehr gerne gelesen, und auch wenn der Stoff für mehr als ein Buch gereicht hätte schaffte Jennifer Egan es die ganze Zeit, mich zu fesseln und zu beeindrucken. Völlig zu recht wurde ihr Buch mit Erscheinen in den USA von der Presse gefeiert und stand auf der New York Times-Bestsellerliste.





Jennifer Egan
Manhattan Beach
Roman, gebunden
496 Seiten, S.Fischer Verlag
Erschienen August 2018
ISBN 978-3-103973587
22 Euro

    3. September 2018

    Herzerwärmend






    Herrliches Fabulieren mit wenigen Worten, eine trostspendende herzerwärmende Geschichte gegen die Langeweile und die Kälte, Ordnung im Durcheinander schaffen, das macht den neuen Roman „Königskinder“ von Alex Capus aus, in dem er eine Liebesgeschichte aus der vorrevolutionären Zeit im Frankreich Ludwig XVI. in den Rahmen einer Liebesgeschichte aus dem Heute setzt.

    Im Schneegestöber ist das Auto von Tina und Max auf einem Gebirgspass stecken geblieben und beide könnten etwas Hoffnung und Wärme gebrauchen, denn wie es aussieht muss das Paar die Nacht auf dem Pass verbringen, ohne Telefonempfang. Seit 26 Jahren miteinander liiert verstehen sie sich prächtig in großen und wichtigen Fragen, streiten sich aber ständig über kleine Dinge, Sie kennen sich also sehr gut, sind miteinander vertraut und haben ein besonderes Talent dafür, die Stimmung des anderen zu spüren.
    Gegen die Kälte, gegen die Panik und für die Hoffnung beginnt Max, seiner Frau eine „wahre“ Geschichte aus den Schweizer Alpen zu erzählen, die Geschichte eines Liebespaares aus dem 18.Jahrhundert.
    Beginnend im Jahr 1779 fabuliert Max über den Kuhhirten Jakob, der im Greyerzer Land hoch oben in einer Melkhütte allein lebt, ein Naturbursche und spröder Einzelgänger, ein „Tarzan der Berge“. Jakob verliebt sich in die 19jährige Bauerntochter Marie-Françoise, sehr zum Ärger ihres Vaters, der als reicher Bauer der Liason der beiden wütend entgegentritt. Jakob flüchtet zum französischen Militär, kehrt nach Jahren zurück und nimmt die nunmehr volljährige Marie mit in seine Berghütte. Doch das Glück ist kurz, denn Jakob wird auf Befehl des französischen Königs Ludwig XVI. nach Versailles geholt, auf den Vorzeige-Bauernhof seiner exzentrischen Schwester Elisabeth, die für ihre Schweizer Milchkuh-Herde natürlich einen authentischen Hirten braucht. Als Prinzessin Elisabeth bemerkt, dass Jakob nicht glücklich ist, lässt sie auch Marie-Françoise auf ihren Bauernhof holen, um die beiden als „Königskinder“ zu vereinen.

    Max ist ein begnadeter Erzähler, der die Geschichte unterbrochen und angefeuert von Tinas kritischen Kommentaren gegen die außerhalb des kleinen heimeligen eingeschneiten Autos herrschende Kälte der Schneenacht erzählt. Es ist nicht wichtig, ob die Geschichte wahr ist oder nicht, ob Max von einer angeblichen Melkhütte direkt gegenüber der Straße erzählt, am nächsten Morgen vielleicht eingeschneit und daher nicht mehr sichtbar, oder ob er das Geschehen mit Personendaten aus alten Melderegistern belegt. Wichtig ist, dass er Hoffnung gibt, tröstet und auf diese Art ein kleines warmes Licht für sich und seine Liebste entzündet.

    Als Leser kann man sich bequem zurücklehnen und die äußerst gekonnte Sprache und die amüsante Geschichte von Alex Capus genießen, denn auch wenn es keine ungeheuer wichtige und absolut tiefgreifende Aussage enthält sondern einfach hervorragende warmherzige Unterhaltung bietet, ist dieses Buch ein Klejnod für Ordnung, Licht und Hoffnung im Dunkeln, für Zuversicht in scheinbar ausweglosen Situationen und steht dabei nicht zuletzt für die Kraft, die gute Geschichten enthalten und weitergeben können.


    Alex Capus „Königskinder“
    Roman gebunden, 176 Seiten
    Erschienen im Hanser Verlag
    August 2018
    ISBN 978-3-446260092

    21 Euro


    Tragisch-Stilvolle Inselgeschichte





    Tragisch und stilistisch gewollt angestaubt und altertümlich erzählt die preisgekrönte französische Autorin Sophie Van der Linden eine Liebesgeschichte zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts. Ihr Roman „Eine Nacht, ein Leben“ konzentriert die Handlung auf eine Nacht und auf eine Insel.

    Der Maler Henri liebt Youna und reist ihr auf die französische Insel B. nach, auf die sie sich vor über einem Jahr von Henri unverstanden zurückzog und seither nichts mehr von sich hören ließ. Henri hofft, durch seinen überraschenden Besuch das Geschehen zu verstehen und die einstmalige Beziehung wieder zu beleben. Er verbringt einen Tag und eine Nacht auf der Insel, nachdem er keine Antwort von der nunmehr unabhängigen Youna bekommen hat, bis der Beginn der Ersten Weltkrieges ihn aus der träumerischen und malerischen Landschaft der Insel, aus erstaunlichen und interessanten Begegnungen mit Inselbewohnern und aus seinem Lebenstraum reißt.

    Äußerst bildhaft und poetisch ist der Sprachstil der Autorin, ein bisschen klassisch und (wahrscheinlich gewollt) altertümlich, gespickt von stilvollen Landschaftsbildern, genauen Porträts vieler Randfiguren und Begegnungen von Henri mit den Inselbewohnern. 
    Das Stück Lebensweg, auf dem man Henri beim Lesen begleitet, ist zwar wesentlich aber äußerst kurz mit den anberaumten 24 Stunden, und es gibt wenige Rückblicke auf sein und Younas bisheriges Leben. Mäandernd weicht die Autorin immer wieder ab, um die vielen Nebenfiguren, die Henri nur aus der Ferne betrachten, unter die Lupe zu nehmen. Das schafft für mich wenig Nähe zur Geschichte selbst sondern eher Abstand, wie durch ein Fernglas betrachtet. Der Blick auf Henri und Youna verliert sich dabei.


    Ein schmales Büchlein, das mich leider nicht wirklich packen und überzeugen konnte, trotz des atmosphärischen, schönen und eleganten Stils entglitt mir die Geschichte beim Lesen.


    Sophie Van der Linden „Eine Nacht, ein Leben“
    Roman, gebunden 112 Seiten
    Erschienen im Mare Verlag
    August 2018
    ISBN 978-3-866482784
    18 Euro


    2. September 2018

    Warmherziges Sittengemälde





    In seinem neuem Roman „Die Gesichter“ lotet der Autor Tom Rachman eine aufregende Vater-Sohn Beziehung mit viel psychologischem Spürsinn aus, wirft dabei einen warmherzig-kritischen Blick auf einen Ausnahmekünstler mit dem ihn umgebenden Kunstapparat und schafft mit Leichtigkeit und wie nebenbei eine spannungsgeladene, äußerst lesenswerte und wirklich grandiose Geschichte.

    Bear Bavinsky, gefeierter Ausnahmekünstler, schillernde und exzessive Gestalt, Vater vieler Kinder und Mann zahlreicher Frauen, ist der leuchtende Mittelpunkt im Leben seines Lieblings-Sohnes Pinch. Bear malt wie besessenen mit großem Erfolg, verbrennt viele seiner Bilder, die ihn nicht zufrieden stellen, lebt Beziehungen zu seinen Frauen und Kindern immer solange, wie sie nicht kompliziert werden. Sein erklärter Lieblingssohn bewundert ihn und eifert ihm nach, doch mit einer einzigen Bemerkung über ein Gemälde von Pinch zerstört Bear alle Hoffnungen seines Sohnes auf ein Künstlerleben. Desillusioniert gibt Pinch das Malen für lange Zeit auf, träumt aber immer davon, seinem Vater menschlich und künstlerisch nahe zu sein. Und auch wenn es ihm gelingt, aus dem großen Kreis seiner Halbgeschwister derjenige zu bleiben, den der Vater zu seinem Lieblingskind und Nachlassverwalter bestimmt, steht er lange Zeit im übergroßen Schatten seines Vaters hintenan. Letztlich schlägt er sich als Lehrer an einer zweitklassigen Sprachschule in London durchs Leben. Nach dem Tod seines Vaters trifft Pinch eine ungeheuerliche Entscheidung und erreicht auf völlig überraschende Weise endlich das eigene innere Leuchten.

    Die äußerst komplexe Vater-Sohn-Beziehung steht im Mittelpunkt der Geschichte. Bear als unglaublicher Charakter, talentiert und übermächtig, hält zwar in Bezug auf sein Leben und das seines Sohnes die Fäden in der Hand, ist allerdings als Familienmensch und Vater ein totaler Versager. Pinch, lange Jahre in seinem Schatten stehend und sprichwörtlich von seinen Tischabfällen lebend, lechzt immer wieder nach der Anerkennung von Bear, will dieser großen warmen Sonne um jeden Preis nahe sein, auch nachdem Bear sich neuen Frauen und Familien zuwendet. Es ist erstaunlich tiefsinnig beschrieben, was Pinch zu diesem Zweck auf sich nimmt, wie wenig er eigenes Licht ausstrahlt und wie lange er ohne es wirklich zu merken eigene Interessen komplett hintenan stellt. Umso erstaunlicher und für mich auf sehr überraschende und skurrile Art geschieht seine Emanzipation gegenüber dem mächtigen Vater nach dessen Tod.

    Auch Bear muss um Anerkennung kämpfen auf künstlerischem Gebiet. Und das ist das zweite äußerst spannende Thema, dem sich der Autor zuwendet: der Kunstmarkt mit vielen Licht- und Schattenseiten, kapitalistischen Denkweisen versus wahrer Leidenschaft, Vermarktung, Spekulation und unzähligen skurrilen Galeristen, Sammlern, Journalisten. Was macht einen Künstler aus, genügt Talent für Erfolg oder braucht er Aufmerksamkeit durch Skandale und Ausschweifungen? Welche Hebel kann man manipulativ in Bewegung setzen?


    Es ist grandios, wie warmherzig Tom Rachman seine Figuren beschreibt, wie nahe er den Leser an sie heran lässt, wie miteifernd und mitfühlend man die Geschichte dadurch verfolgt. Wortgewaltig und emotionsgeladen sind die zwischenmenschlichen Konflikte, manchmal skurril und oft mit erstaunlichem Witz geschrieben. Tief berührend ist das Schicksal von Pinch, der zeitlebens um Anerkennung buhlt. Tom Rachman kann großartig schreiben und hat eine wirklich gute, anspruchsvolle, emotionsgeladene, spannende und erstaunlich moralische Geschichte zu erzählen, wenn man sich ganz darauf einlässt.


    Tom Rachman „Die Gesichter“
    Roman, gebunden 416 Seiten
    Erschienen bei dtv
    August 2018
    ISBN 978-3-423289696
    22 Euro