14. Februar 2020

Last der Vergangenheit





Monika Helfer erzählt in ihrem gerade mal 160 Seiten langen Roman „Die Bagage“ von der Last der Vergangenheit über mehrere Generationen hinweg, von der Zähigkeit des dörflichen Lebens, vom Fluch der Schönheit und von der Mühsal des Überlebens.
Vom Weltkrieg bis in die Gegenwart reicht das schmale Buch, das trotz der Knappheit eine Familiengeschichte dreier Generationen enthält, die die eigene der Schriftstellerin ist.
Maria und Josef leben am Rand des österreichischen Bergdorfes, haben viele Kinder, aber an allem anderen herrscht Knappheit. Als Josef eingezogen wird als Soldat im Ersten Weltkrieg verschlimmert sich die Situation für die Familie Moosbrugger. Maria ist eine Schönheit, seit langem von den Männern begehrt und von den Frauen verachtet. Der Bürgermeister des Dorfes, den Josef um Schutz für seine Frau bat, macht sich gewaltsam an Maria heran. Die Vorführung männlicher Potenz, die Eifersucht und Missgunst der Frauen treten immer mehr zutage, dazu der Krieg, der auch die abgegrenzte Dorfwelt berührt.
Maria wird schwanger, und es ist unwahrscheinlich, dass das Kind vom sehr selten gesehenen Josef ist. Fragen kommen auf, ob der Bürgermeister oder Georg, ein Mann aus Hannover, in den sich Maria verliebte, der Vater sein könnten. Das Kind, Grete, ist die Mutter der Autorin, von dem letztlich sogar Josef glaubt, daß ihm ein Kuckucksei ins Nest gelegt wurde. Nach dem Krieg ist die Tochter Grete für ihn nicht existent, er spricht sein ganzes Leben kein Wort mit ihr.
Die Bagage sind arme Menschen und gleichzeitig Lasten, die man mit sich herumträgt. Zeitlebens gemobbt von Josef, was die Autorin äußerst naturalistisch darzustellen vermag, wächst Grete in armen Verhältnissen und umgeben von Geheimnissen und Missgunst auf, trägt die Last ihrer armen Herkunft und den Makel ihrer Geburt.
Das Buch „Die Bagage“ ist dicht erzählt, und durch die Nähe zur Familiengeschichte der Autorin ist man beim Lesen ganz nahe am Geschehen, auch wenn große Zeitsprünge und Vielstimmigkeit höchste Konzentration verlangen. Der emotionale Ballast wird weitergereicht von einer Generation zur nächsten, und alle erzählen davon. 
Liebevoll und zugleich schonungslos, ohne Schnörkel, betrachtet Monika Helfer ihre Figuren, die sich auf oft krummen Wegen im Abseits bewegen müssen. Dass es sich dabei um ihre eigene Geschichten handelt, macht das Buch für mich umso eindrucksvoller. 
Stilistisch ist das Buch nur scheinbar einfach verfasst, entsprechend der dörflich-hinterwäldlerischen Redeweise, denn es steckt voller hintersinnigem Witz. Man merkt dem Text an, dass die österreichische Schriftstellerin schon mehrere Romane veröffentlicht hat, von dem einer vor zwei Jahren für den Deutschen Buchpreis nominiert war.





Monika Helfer „Die Bagage“
Roman, gebunden, 160 Seiten
Erschienen im Carl Hanser Verlag
am 1. Februar 2020
ISBN 968-3-446265622

Preis 19€

13. Februar 2020

Erstklassige Kriminalliteratur




Zwei unterschiedliche Schwestern, einst kaum zu trennen, heute ohne Kontakt und auf unterschiedlichen Lebenslinien und Frauenmörder im kriminell-heruntergekommenen Stadtteil Kensington von Philadelphia sind die Zutaten zum nunmehr vierten Roman der amerikanischen Autorin Liz Moore „Long Bright River“, den ich nach dem Beginn kaum noch aus der Hand legen konnte.

Die Streifenpolizistin Mickey wachte in den letzten Jahren insgeheim über ihre drogenabhängige Schwester, doch sie kann sie nicht mehr auf der Straße finden und befürchtet das Schlimmste. 
In einem äußerst geschickten Mix aus spannendem Krimi, Milieustudie und Familiengeschichte breitet die Autorin die Handlung fast Filmszenenartig vor dem Leser aus. Mit Rückblenden in die Kindheit werden aus Mickeys Sicht  ungeschönt und lebensecht die Lebenslinien der ungleichen Schwestern verfolgt, aus dem Dunkel erscheinen Kriminelle und Drogendealer wie ins Blitzlicht getaucht sowohl am Rand der Geschichte als auch mittendrin.

Die einzelnen Handlungsstränge verknüpft die Autorin in meisterlicher Manier, ganz im Sinne ihrer angenehm minimalistischen Sprache, auf nicht vorhersehbare Weise. Das macht das Buch zugleich zu einem spannenden Krimi, bei dem man gut miträtseln kann. In beiden Ebenen der Geschichte erhält man tiefe Einblicke sowohl in die Familiensituation mit den drogenabhängigen Eltern, unfähig sich um die beiden Mädchen zu kümmern, mit Kleinkriminalität bei vielen Familienmitgliedern und mit Mickeys Einsamkeit durch ihren Job, der in der Familie nicht akzeptiert ist. Gleichzeitig schaut man beim Lesen ins Innere des heruntergekommenen Stadtteils Kensington und seiner zunehmenden Gewalt, nicht von außen mit bequemer Distanz sondern in der Mitte stehend.

Die Morde an drogenabhängigen Prostituierten sind der spannende Aufhänger der Geschichte um die zwei ungleichen Schwestern, durch den eindrucksvoll aus dem Blickwinkel einer verzweifelten Ermittlerin beim Leser eher Mitleid und Traurigkeit statt Abscheu hervorgerufen wird. 
Kein Thrillerartiger Zoom fokussiert die Gewalt, sondern der warmherzige und konsequente, wenn auch manchmal nutzlose Widerstand von Mickey gegen die Brutalität bestimmt die Grundstimmung im Buch und schafft Verständnis für die Situation. Und das macht den Roman zu einer Perle unter der Spannungsliteratur.




Liz Moore „Long Bright River“
Roman gebunden, 414 Seiten
Erschienen beim Verlag C.H. Beck
am 27. Januar 2020
ISBN 978-3-406748844

Preis 24 €

Kaltes Russland




Murmansk, nördlich des Polarkreises, ist Schauplatz des Buches „Klara vergessen“ von Isabell Autissier. Es ist ein Buch, auf das ich mich dieses Frühjahr ganz besonders gefreut habe, denn die französische Autorin schreibt nicht nur glasklar mit großer Spannung äußerst berührende  Geschichten, auch ihre kalten nordischen Naturbilder sind mehr als beeindruckend. 

Eine sehr russische schicksalhafte Geschichte dreier Generationen, bei der eine Entscheidung wie der Flügelschlag eines Schmetterlings die Lebenswege einer zersplitterten Familie bestimmt, beginnend in der Ära Josef Stalins bis in die heutige Zeit, erzählt Isabelle Autissier mit viel warmherziger Liebe und Nähe zu ihren Figuren und mit abweisenden kalten und kargen Bildern des totalitären Systems der ehemaligen Sowjetunion. 

Juri, der inzwischen in Nordamerika als anerkannter Ornithologe lebt, kehrt zurück in seine Heimatstadt Murmansk, weil sein Vater im Sterben liegt. Die Stadt seiner Jugend hat sich seit seinem Weggang vor knapp einem Vierteljahrhundert verändert: glitzernde Reklame und westliche Schaufenster wetteifern mit verrostenden Schiffen im alten Hafen und zerfallenden Häusern. Es ist nicht mehr seine Heimat, war es vielleicht auch nie gewesen, denn sein brutaler und despotischer Vater Rubin, ehemaliger Kapitän eines Fischtrawlers, hatte ihm das Leben in Murmansk mit Leibesertüchtigung, Prügeln, und seinem Hang zur Trinkerei und Brutalität zum Martyrium gemacht. Jetzt, auf dem Sterbebett, verrät Rubin seinem Sohn das Familiengeheimnis um die Großmutter Klara, die verhaftet wurde als Rubin noch ganz klein war, und schickt seinen Sohn damit auf eine Reise in die Vergangenheit, die mehr als nur eine Leiche im Familienkeller zutage fördern wird.

Klara, Juris Großmutter, wurde vor mehr als 70 Jahren im stalinistischen Russland verhaftet. Sie war Geologin und wissenschaftliche Mitarbeiterin, genau wie ihr Mann Anton, den Juri bis zum Geständnis seines Vaters nur als stillen und melancholischen Menschen kannte. Die Verhaftung der Großmutter Klara, deren Umstände ungeklärt sind, ist das Sandkorn, das wie eine Lawine Ereignisse und Entwicklungen ins Rollen bringt. Es gibt ein klares Davor und ein Danach in der aufgesplitterten Familie, und der zurückgebliebene Großvater Anton und sein Sohn, der kleine Rubin, drohen an ihrem Schicksal zu zerbrechen. Juri soll nun für seinen Vater Fragen beantworten, die dieser sich nie zu fragen traute. Er beginnt seine Odyssee bei Memorial in Murmansk, einer Anlaufstelle für in der Sowjet- und Stalin-Ära Verhaftete und vermisste Personen und stößt nach einigen Anlaufschwierigkeiten auf eine wahrlich grausame Geschichte von Verrat, Haft und Deportation in einen Gulag. 

Über drei Generationen erzählt Isabelle Autissier die Geschichte aus den Blickwinkeln von Juri, Rubin und Recherchenotizen aus vergangener Zeit, die letztlich die Stimme und der Blickwinkel Klaras sind. Juri ist derjenige, der konsequent sucht und am Ende ein fast vollständiges Bild der verstörenden Ereignisse erhält, indem er seine Recherchen mit den Erinnerungen der Familienmitglieder und Freunden der Familie verknüpft. Isabelle Autissier lässt keine wichtigen Fragen offen, wendet jeden Stein um und verfolgt nicht zuletzt auf der Frage nach der Beeinflussung von Juris Lebensentscheidungen alle wichtigen Spuren. Dabei treten neben Klaras Erlebnissen auch Ereignisse aus Juris und Rubins Jugend zutage, die äußerst verstörend und zugleich lebensbestimmend für die beiden Männer sind. 
Die Entscheidungen und Wege aller drei Generationen sind zwar sehr vom politischen totalitären System und von der zerstörten Familie geprägt, aber jeder findet trotz aller Grausamkeit seine kleine freie Nische, in der sie/er zu existieren vermag. Klara schafft es trotz aller Grausamkeiten in ihrer Gefangenschaft, dem Leben einen Sinn abzugewinnen. Rubin findet Freiheit auf dem Nordmeer als Kapitän und Juri flüchtet sich in die Welt der Vogelkunde, die erst seine Berufung und sein Fluchtort, später sein Beruf wird. Das politische System beeinflusst und ändert zwar die Lebenslinien auf äußerst brutale und verstörende Weise, schafft es aber nicht, sie zu zerstören.

Unglaublich dicht und eindrucksvoll sind die Naturbeschreibungen, bei denen man neben Juri im Flugzeug im fahlen Nordlicht über die Tundra zu fliegen glaubt, mit ihm am verrotteten Kai in Murmansk steht, mit Rubin die pralle Freude über den Widerstand gegen raue See und zerstörerische Stürme auf dem Meer erlebt und voller Freude die Netze auf dem Fischtrawler einholt oder zusammen mit Klara durch die sumpfig-verschneiten Landschaften wandert.

Literarisch, authentisch, spannend, berührend und höchst interessant schreibt Isabelle Autissier die Geschichte vom Verschwinden Klaras, die alle vergessen sollten, die so viele Lebenslinien beeinflusst hat und die letztlich wie ein in den See geworfener Stein Wellen geschlagen hat, die deutlich sichtbar sind.
Beispielhaft für viele Schicksale von Verschleppten der Stalinzeit ist es nicht nur ein spannendes und berührendes, sondern auch ein sehr wichtiges Buch, dem ich viele Leser wünsche.




Isabelle Autissier „Klara vergessen“
Roman gebunden, 304 Seiten
Erschienen im Mare Verlag
am 4. Februar 2020
ISBN 978-3-866486270

Preis 24 €