29. März 2017

Spanische Telenovela





Das Buch "Wenn ich jetzt nicht gehe" erzählt die abenteuerliche Geschichte eines armen Spaniers, der in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts mit seinen zwei kleinen Kindern nach Mexiko auswandert, dort durch Wagemut und Fleiß sein Glück macht, alles verliert und dann verzweifelt versucht, seine Familie und sein Ansehen zu retten. Das Werk der Autorin María Duñas wurde in Spanien beim Erscheinen mit großer Begeisterung aufgenommen. Es hat vieles, was einen guten und wahrhaft mitreißenden Roman ausmacht: eine spannende, tragische Familiengeschichte mit vielen Geheimnissen und Intrigen, eine junge unabhängige Republik, die sich von der Kolonialmacht losgerissen hat und im politischen Umbruch steht, ein wagemutiger Unternehmer und Abenteurer, der nach seinem tiefen Absturz erneut bereit ist, alles auf eine Karte zu setzen.

Der Held, Silberminen-Betreiber Mauro Larrea, ist verwegen ohne ruchlos zu erscheinen, stellt den Schutz seiner Kinder vor sein eigenes Wohlergehen und scheut nicht davor zurück, alles hinter sich zu lassen und den Ozean zu überqueren, um seinen Ruf zu wahren und die Geschäfte wieder zum Laufen zu bringen. Schöne Frauen begleiten den Witwer, als er auf Kuba landet und auch später in Spanien stiften sie Verwirrung und stellen seine Bemühungen und sein Leben gehörig auf den Kopf.

Ich mag Abenteuerromane sehr gerne, besonders solche, die vor einem gut recherchierten historischen Hintergrund angelegt sind. Doch trotz des großartigen Settings und der Wirrungen, in die Larrea gerät, hat der Roman in meinen Augen das Flair einer Telnovela, die zudem ständig wiederholt, zusammenfasst und hinterfragt, was passierte. Dadurch leidet die Spannung enorm und die wirklich hervorragende Idee der Geschichte gerät nach einem guten ersten Teil, der in Mexiko und auf Kuba handelt, zum seichten Abklatsch einer Vorabendserie.
Irgendwann verdreht man beim Lesen die Augen, wenn Larrea nach vielen Rückschlägen endlich sein Ziel vor Augen hat - gutgekleidet übrigens, auch das ist wesentlich für den Roman - und die nächste Schwierigkeit völlig unerwartet auftaucht. Leider wird das von der Autorin sehr genüsslich ausgereizt, und die Geschichte mit den überbordenden schicksalshaften Wendungen wirkt dann nur noch unglaubwürdig.
Die handelnden Charaktere wirken im zweiten Teil hölzern, es interessiert mich nach der x-ten Beschreibung wirklich nicht mehr, wie lang die Arme der Angebeteten sind oder welches wundervolle Kleid sie trägt, während sie um die nächste Ecke mit dem nächsten Schicksalsschlag schreitet. Die Geheimnisse, die die Figuren mit sich herumtragen, bleiben leider auch vor dem Leser zu lange geheim und man wird nicht warm mit ihnen. Innere Nabelschau betreibt der Held Larrea, der im ersten Teil ganz dicht und glaubhaft beim Leser agiert, im zweiten Romanteil durch fiktive Gespräche mit seinem Freund in Mexiko, ein durchaus interessantes Stilmittel, wenn es nicht überreizt wird.

Ich denke, dass es begeisterte Leser(innen) gibt, die Geschichten über aufopferungsvolles männliches Handeln für leidenschaftliche und geheimnisvolle Frauen lieben, aber ich gehöre nicht dazu, weshalb mich der Roman leider nicht erreicht hat. Deshalb gibt es von mir 3 Sterne.



Wenn ich jetzt nicht gehe
María Dueñas
Roman, 589 Seiten
Verlag: Insel, 2017
ISBN 978-3-458-17702-9
24,00 €

21. März 2017

Gemütlicher Krimi aus Amsterdam





Ich bin Neuling in der erfolgreichen und gelobten Krimireihe um den Hobbydetektiv Pieter Posthumus vom Autorenduo Britta Bolt. Im Hoffmann und Campe Verlag erschien in Februar 2017 der dritte Teil "Der Tote im fremden Mantel", ein beschaulicher und solider Krimi, den man hervorragend ohne Vorkenntnisse der Vorgängerbände lesen kann.

Was haben ein einsamer toter Junkie in einem teuren Kamelhaarmantel, eine globale Energiekonferenz in Amsterdam und ein ehemaliger Hausbesetzer miteinander zu tun?
Pieter Posthumus arbeitet für die Stadtverwaltung Amsterdam im "Büro der einsamen Toten", wo er sich voller Hingabe um die würdige Bestattung von unbekannten oder in Einsamkeit gestorbenen Menschen kümmert. Ein toter Junkie in einem viel zu teuren Mantel landet bei ihm, und als Pieter in der Innentasche des Mantels die Visitenkarte eines Teilnehmers der Energiekonferenz "Earth 2050" findet, der kurz zuvor überfallen wurde und später ebenfalls stirbt, ist sein Interesse geweckt und er beginnt in Sherlock-Holmes-Manier zu ermitteln. Er stochert bei seinen Untersuchungen in ideologischen und persönlichen Motiven, kreuzt die eigene Vergangenheit in Form von Hausbesetzerfreunden, die als Demonstranten gegen die Energiekonferenz agieren und nicht ganz unschuldig erscheinen, und gerät in Konflikt mit dem organisierten Verbrechen im Amsterdamer Rotlicht-Milieu.

Die Geschichte entwickelt nur sehr langsam Spannung, viel Raum nehmen die gemütliche Amsterdamer Lebensart, der persönliche Bereich von Pieter und sein Alltag ein. Es ist angenehm und schön, gemeinsam mit ihm in seiner Wohnung an der Kracht zu frühstücken, mit der Fahrrad und Schirm in der Hand auf den Markt zu fahren, seine Freunde abends in der Kneipe "Dolle Hond" kennenzulernen, ohne dass der Text dabei zu beschaulich und langweilig wird. Man erfährt beim Lesen auch als Serienneuling genug background, um sich ein Bild von den vielen Charakteren und den schönen Nebenschauplätzen machen zu können, ohne überfordert zu sein. Genießerisch berichtet die Geschichte von den vielen gemütlichen Ecken Amsterdams, von der Freundschaft und Verbundenheit in Quartierskneipen und von der Freude, frisch auf dem Markt gekauftes zu kochen und zu genießen. Man wird sehr schnell warm mit den Figuren und dem Umfeld, fühlt sich beim Lesen wohl und integriert.

Die Krimihandlung nimmt viel Raum im Buch ein und entwickelt gegen Ende der Geschichte auch eine Brutalität, die mir allerdings wie ein kleiner störender Gegenstand vorkam. Spannung wird anfangs sehr langsam aufgebaut, es gibt viele Nebenschauplätze und Verwicklungen, denen der Faden folgt. Dadurch verzettelt sich der Krimiteil der Handlung leider etwas zu sehr. Am Ende hingegen stürmt der Fall mit ziemlich brutalen Details in Hochgeschwindigkeit zur Auflösung. Das passt in meinen Augen nicht sehr gut zum Rest des Buches, in dem Pieter Posthumus viele winkelige und verschlungene Wege geht und nicht geradewegs auf das Ziel losrennt.

Nach den Rezensionen zu den vorangegangenen Bänden hatte ich mir mehr Handlung zu Pieters Arbeit als Organisator von Bestattungen in seinem Amt für Katastrophenschutz und Bestattungen erhofft. Das wird im vorliegenden Band wenig berührt, was ich ein wenig schade finde. Andererseits ist es für mich jetzt fast Pflicht, die beiden hochgelobten Vorgängerbände der Reihe zu lesen.

Fazit
Das Buch ist eine solide Kriminalgeschichte mit vielen Nebenschauplätzen und Charakteren, die eine angenehm zu lesende Hommage an die Stadt Amsterdam und die holländische Lebensart bietet, ohne hausbacken zu sein. Für Liebhaber von Regionalkrimis ein lesenswertes Buch, für hartgesottene Krimifans dürfte die Handlung allerdings zu wenig Spannung bieten.


Britta Bolt "Der Tote im fremden Mantel"
Roman gebunden, 304 Seiten
Hoffmann und Campe Verlag
17. Februar 2017
ISBN 978-3455406269
20,00 €

8. März 2017

Dramatische brasilianische Familiengeschichte






Der Debütroman "Luana" von Luiza Sauma ist eine mitreißende und tragische Familiengeschichte, die nach Hitze, Sonne und Wehmut Brasiliens schmeckt.

"Mamãe starb im Januar 1985 bei einem Autounfall auf der Straße, in der ich aufgewachsen bin. Alles, was danach passierte, war zweitrangig."

André Cabral ist 16 Jahre alt, als seine Mutter in Rio de Janeiro tödlich verunglückt und die Familie mit dem Vater und seinem 10 Jahre jüngeren Bruder traumatisiert zurück lässt. Er erlebt nach dem Unfall alles wie durch einen Schleier, kapselt sich von seinen Freunden ab und versucht, den Tod der Mutter zu verarbeiten. Unterschwellig spürt er ständig den Verlust, fühlt die Leere in der Wohnung, die sie zurück gelassen hat, sieht sie in seinen Träumen und Albträumen.
Andrés Vater verschanzt sich hinter seiner Arbeit als Schönheitschirurg, der kleine Bruder Thiago sucht Trost bei Rita, dem Hausmädchen, das mit ihrer Tochter, wie damals bei reichen Brasilianern üblich, in der Wohnung der Familie in Rio wohnt.
Es ist die Zeit des Endes der Militärdiktatur in Brasilien, doch André bekommt wegen seiner Trauer kaum etwas davon mit und es interessiert ihn auch nicht wirklich. Er ist, wie seine Freunde auch, aufgewachsen mit dem silbernen Löffel im Mund, ohne politische Sorgen.
Ein Jahr nach dem Tod der Mutter verlieben sich André und Luana, die schöne halbwüchsige Tochter von Rita, ineinander, und sind sich dabei bewusst, dass ihre Liebe wegen Überschreitung der gesellschaftlichen Klassengrenzen keine Zukunft hat.
André verlässt Rio nach der Schule mit 18 Jahren und geht nach London, wo er Medizin studiert, seine spätere Frau Esther kennenlernt und mit ihr eine Familie gründet. Nach vielen Jahren bekommt er einen Brief von Luana mit rätselhaften Andeutungen, der ihn aus der Bahn wirft...

"Ich werde Dich warten lassen, so wie Du uns hast warten lassen.“

André ist zu Beginn des Buches über 40 Jahre alt und gestandener Hausarzt, wohlsituiert und seit kurzem getrennt von seiner Frau in London lebend, erinnert sich an seine Jugend in Brasilien, insbesondere an die Zeit nach dem Unfall seiner Mutter. Einfühlsam, poetisch und ein bisschen melodramatisch erzählt die Autorin die Geschichte des jungen André, der versucht, sein Leben weiter zu leben. Er vermisst seine Mutter, die Umarmungen des liebevollen schwarzen Hausmädchens Rita, denen er als 17jähriger fast-Mann entwachsen ist und um die er seinen kleinen Bruder beneidet. Zurückgezogen leidet er allein, nachts, in seinen Träumen.
Sein Vater versucht, ihn zur Arbeit anzuleiten, er möchte, dass sein Sohn seine Klinik übernimmt. Doch André wehrt sich gegen den ihm eigentlich nicht vertrauten Vater, bricht aus Konventionen aus, zum Beispiel durch seine Liebe zu Luana, und flüchtet schließlich aus Brasilien, ohne zurück zu blicken.

Unterbrochen werden die Erinnerungen, die André an seine Jugend hat, von Luanas Briefen, wodurch Stück für Stück ein vergrabenes Geheimnis offenbart wird, das André letztlich dazu bringt, nach Brasilien zu reisen. Doch die Vergangenheit lässt sich nicht ändern, zu spät und nach zu langer Zeit hat André sich erinnert und aufgerafft, manchmal kann nichts bereinigt oder gerichtet werden.
Darin liegt wohl die Tragik der Geschichte, er versucht, seiner Vergangenheit zu entfliehen und wird nach vielen Jahren von ihr doch wieder eingeholt.

„Du warst zu jung, um zu wissen, was du tatest und ich war zu jung, um dich davon abzuhalten.“

Wie André übergeht die Autorin in ihrem Buch die gesellschaftspolitische Lage im damaligen Brasilien weitgehend. Man bekommt einen kleinen Einblick in die Klassenteilung, erfährt am Rande des Geschehens von der täglichen Gewalt durch Raubüberfälle, spürt der Lebensart der reichen hellhäutigen Brasilianer nach. Mehr jedoch nicht, und darum geht es in dem Roman auch nicht vordergründig. Die Kritik ist subtil und unterschwellig eingeflochten, wenn zum Beispiel die Rede davon ist, dass die Dienstmädchen Rita und Luana der Familie Cabral nicht gleichgestellt sind, oder dass Luana die Schule nicht beenden kann. Für André, durch dessen Augen man das Geschehen betrachtet, ist dies normal, und durch seinen Schmerz hat er keinen freien Blick entwickeln können. Erst im Nachhinein erlebt er diesbezüglich eine Änderung, als er schon lange in London gelebt hat.


Völlig unkitschig schreibt sie Autorin, von der Trauer, von der Liebe zwischen André und Luana und von seinem Neuanfang in Europa. Ohne Happy End, ohne Tränen sondern einfach so, wie im richtigen Leben, schließt sich der Kreis für André bei seiner Reise nach Brasilien, und er muss für sich selbst einen neuen Anfang finden.
Sprachlich schafft es die Autorin dabei, die Hitze und Lebenslust der Brasilianer spürbar zu machen. Gleichzeitig gelingt ihr auch der Vermittlung der verzweifelten Versuche Andrés, sein Leben zu meistern und mit der Trauer um seine Mutter zurecht zu kommen. Ein bisschen wohldosierte Melodramatik, wie in einer guten Telenovela, bekommt der Geschichte dabei sehr gut.

Fazit
Ein mitreißendes und eindringlich erzähltes Buch, sehr zu empfehlen für alle, die unkitschige Familiengeschichten mögen; ein Buch, das durch Zeitwechsel, Rückblicke und teils überraschende Wendungen spannenden Lesegenuss bietet. Das ist mir eine Leseempfehlung und gute vier Sterne wert,

Die Autorin Luiza Sauma, geboren in Rio de Janeiro, lebt in London und wurde 2014 mit dem Pat Kavanagh Award ausgezeichnet. Luana ist ihr Debüt.


Luiza Sauma "Luana"
Roman, gebunden, 304 Seiten
Verlag Hoffmann und Campe
Erschienen am 17.02.2017
ISBN 978-3455000016
Preis 20,00 €

7. März 2017

Überlebenskampf



Das Buch "Herz auf Eis" ist die Geschichte eines Existenzkampfes auf einer einsamen Insel, die so dicht und eindringlich geschrieben ist, dass mich das Buch einfach nur überwältigt hat. Das Buch ist ein moderner Abenteuerromanen, Liebesroman, Extremerfahrung und Überlebenskampf und lässt den Leser nicht mehr los, so packend und spannend erzählt die Autorin Isabelle Autissier.

"Als Kind hat sie geträumt, sie sei eine Heldin. Aber dem Leben sind die Träume egal."

Das Paar Louise und Ludovic, begütert und versorgt, verlassen das Pariser Leben für einen Segeltörn über der Atlantik. Die beiden hatten sich beim Klettern kennengelernt, und die schüchterne, zurückhaltende junge Frau kann es kaum fassen, dass der schöne und begehrenswerte Ludovic sich ausgerechnet in sie verliebte.
Ludovic, vom Leben verwöhntes Einzelkind und genervt vom grauen Job-Alltag, will aussteigen und überredet die auf Sicherheit bedachte und konventionelle Louise, deren Passion und Rückzug das Bergsteigen ist, zum Sabbatjahr für die Atlantik-Segeltour.
Von den Antillen entlang der Südamerikanischen Atlantikküste mit der Yacht "Jason" bis Kap Hoorn ist die Reise für die beiden der Inbegriff von Freiheit, sie fühlen sich stark und überlegen und glauben, der Essenz des wahren Lebens auf der Spur zu sein.
Doch das Reiseglück schlägt im Südatlantik um, als sie ohne vorher ihren Standort zu funken eine einsame Insel anlaufen. Durch einen Sturm, bei dem die "Jason" sinkt, unfreiwillig gestrandet auf der Insel Stromness (Südgeorgien) jenseits des 50. Breitengrades, 1400 km östlich der Falklandinseln gelegen, Naturschutzgebiet mitten im Meer und nur von Pinguinen und Robben bewohnt, stürmisch und eiskalt, felsig und abweisend, müssen sie sich ohne Ausrüstung dem Überlebenskampf stellen.

" Jason, ihr Schiff, ihr Haus, der Inbegriff ihrer Freiheit, ist einfach ausgelöscht, wegradiert wie ein Fehler. ... Sie sind geradezu empört, empfinden ihre Lage als unangemessen."

Das hochdramatische Ringen ums Überleben auf der Felseninsel, das psychologische Drama, das sich zwischen Louise und Ludovic entspinnt, der Versuch der beiden, Menschlichkeit zu bewahren, ist von der Autorin höchst eindringlich und spannend beschrieben. Anfänglicher Aktionismus und großer Elan dienen der Verdrängung der Gedanken an die Zukunft, Überleben scheint möglich.

"Die Gewissensforschung, der Stolz auf die geleistete Arbeit, die Anstrengungen - all das beweist ihr Menschsein, unterschiedet sie von Tieren...Solange sie die Gesellschaft nachahmen, gehören sie ihr noch an."

Anfangs als Partner agierend und die Schuldfrage und die Wut über das Geschehen notwendigerweise zurückstellend entwickelt sich das Verhältnis der beiden im Überlebenskampf immer mehr zu einem Kampf gegeneinander. Ludovic setzt sich durch und gibt wie seit Beginn der Beziehung der beiden den Takt an, schafft damit Situationen, bei denen der partnerschaftliche und zivilisierte Umgang des Paares in reine Abscheu und Gewalt umschlägt.

Dennoch verzehren sich Louise und Ludovic füreinander und brauchen sich gegenseitig. Sie schöpfen erneut Hoffnung aus gemeinsamer Arbeit, doch der sich verschlechternde Gesundheitszustand durch zu wenig und Mangelernährung, Sorge vor dem einsetzenden Winter und weitere Rückschläge schaffen eine ganz unmittelbare Leben-oder-Tod-Situation. Louise, die starke Kämperin, trifft allein eine Entscheidung, die sie an den Rand und darüber hinaus dessen bringt, das sie aushalten kann.

"Sie hat sich einen Kokon gesponnen, der sie am Leben hält, oder eher zwischen zwei Leben, dem davor und dem danach."

Sprachlich präzise und knapp, sachlich und klar schafft es die Autorin auf dem reichlich 200-Seiten-Roman mit wenigen Worten, den Leser in bedrohliche Situationen zu stellen, ohne ablenkende oder beschönigende Umschreibungen. Die Beschreibung der kargen Insel und der Lebensumstände ist so gut getroffen, dass ich beim Lesen gefroren habe. Eindrucksvoll ist, wie man beim Lesen die Naturgewalten des Meeres, des Sturmes und des Eises ängstlich fühlen kann.

"Nicht mehr kämpfen, den Albtraum beenden, der doch zu nichts führt. Schlafen, schlafen ohne Hunger, ohne diese ständige Angst vor dem nächsten Tag."

Das Lesen des Romanes ist, wie die Geschichte selbst, eine grenzwertige Erfahrung. Man wird an den Rand des Erträglichen geführt, und obwohl man von der Autorin dort nicht allein stehen gelassen wird, ist es extem, insbesondere im Hinblick auf die psychologischen Aspekte. Der Kampf um den Erhalt der Menschlichkeit und Liebe, ums Überleben und gegen die Verzweiflung und gegen das Aufgeben sind derartig nachspürbar und dicht, dass es fast nicht auszuhalten ist.
Bravo dafür, ich bin komplett überwältigt von diesem großartigen, mitreißenden, traurigen und zugleich hoffnungsvollen Roman, der völlig zu Recht für den Prix Goncourt nominiert wurde.

Die französische Autorin Isabelle Autissier, geboren 1956, umsegelte übrigens 1991 als erste Frau selbst die Welt und weiß, wovon sie schreibt. Sie lebt in La Rochelle und schreibt seit den 1990er Jahren.




Isabelle Autissier "Herz auf Eis"
Roman, gebunden, 224 Seiten
Verlag: Mare
ISBN: 978-3-86648-256-2
Preis: 22 €

4. März 2017

Verwurzelung und Schieflage



"Betrunkene Bäume" ist der Titel des unaufgeregten Debütromans Ada Dorian, der 2016 für den Ingeborg Bachmann Preis nominiert war.
Betrunkene Bäume stehen in der sibirischen Taiga im Permafrostboden, sie entwurzeln und schwanken, wenn der Boden zu stark auftaut. Die Folge ist, dass sie durch schiefes Verwachsen das Ungleichgewicht auszugleichen suchen und in weitere Schieflagen geraten.

Wie die Bäume geraten auch die beiden Protagonisten des Romanes, der über 80 Jahre alte Erich und die jugendliche 17-jährige Katharina, in Schieflage.
Erich, der alte Professor eines Ost-Berliner Instituts, lebt alleine in seiner Wohnung, kämpft gegen das Altern an und versucht, trotz zunehmender körperlicher Schwäche und Eingeschränktheit seine Selbstbestimmung gegenüber der Tochter Irina zu bewahren. Er lehnt jegliche Unterstützung ab, außer die von Katharina, einer jungen Ausreißerin, die in der leergeräumten Wohnung gegenüber einen notdürftigen Unterschlupf gefunden hat. Katharina war gestrauchelt, als ihr Vater die Familie verließ, um in Sibirien zu arbeiten, und die Mutter konnte sie nicht halten. Erich hat früher für sein Institut auch in Sibirien geforscht, er hat die unermesslichen und wundervollen Baumlandschaften der Taiga im Herzen mit nach Hause gebracht, sie sind seither sein Lebensinhalt geblieben.
Nach den ersten flüchtigen Begegnungen der beiden verwurzeln Erich und Katharina tief miteinander, ohne zwangsläufig danach gesucht zu haben. Erich muss sich mit Vergänglichkeiten und den oftmals herben Problemen des Alterns herumschlagen, Katharina ist wie ein junges Bäumchen im Wind gebeutelt und versucht für sich, richtige Entscheidungen zu treffen. Unbewusst helfen und stützen sie einander, Katharina wird angeleitet und wächst, Erich öffnet sich der jungen Frau und vertraut ihr seine Geheimnisse an.

Die Autorin erzählt die Geschichte mäandernd, wechseln zwischen verschiedenen Zeitebenen und Orten. Allmählich erst bekommt man Einblick in Erichs früheres Leben und seine für ihn so eindrucksvolle Reise nach Sibirien, wo er mehr als ein halbes Jahr in den Wäldern verbrachte. Dort war er glücklich, er liebt die Bäume und spricht mit ihnen. Das verband ihn mit Wolodja, seinem damaligen wortkargem Scout und späteren Freund. Dort lernte er seine Geliebte und spätere Ehefrau Dascha kennen, die ihm nach Deutschland folgte.
Der heutige Erich wirkt einsam, traurig und verlassen, geplagt von Alltagsproblemen und der übereifrigen und dennoch kühlen Fürsorge seiner Tochter, die ihn am liebsten ins Heim stecken würde - hier wird für meinen Geschmack stellenweise ein wenig zu dick aufgetragen, Klischee blitzt aus manchen Passagen hervor.
Katharina fühlt sich von allen verlassen, vom Vater, der weit weg ist, von der Mutter, die seit Jahren einen ihr entgegengesetzten Tagesrhythmus hat und sämtlichen Mut und Stärke eingebüßt hat, und von ihrem Freund Felix, dem Streber, der im Gegensatz zu ihr aus gutbürgerlichen Verhältnissen stammt und sich von ihr abwendet. Das Straßenkind, das durch die Hilfe und das Interesse für einen einsamen alten Mann sich selbst helfen kann und auf den Weg zurück findet. Für Katharina - ein bisschen zu blauäugig für das, was sie hinter sich hat, musste ebenfalls in meinen Augen ein bisschen zu viel Schablonenhaftes herhalten.

Ich war dem Buch in der ersten Hälfte seltsam fern. Vielleicht lag es daran, dass der alte Erich und seine Probleme sehr viel Raum bekamen, mich hätte mehr interessiert, was aus seinem etwas planlosem Aufbruch in die Taiga geworden war. Vielleicht lag es aber auch an der bereits erwähnten Abdruckartigen Wiedergabe der Wirklichkeit. Ich war beim Lesen weder Erich noch Katharina wirklich nahe, wohingegen ich die Nebenfigur Wolodja als eindrucksvoll und greifbar dargestellt fand. Im zweiten Teil, wenn mehr zu Erichs Erlebnissen in der Taiga erzählt wird und das Bild klarer wird, hat mir das Buch besser gefallen. Davon hätte ich mir mehr gewünscht.

Trotz der angebrachten Kritik handelt  es sich um einen sehr lesenswerten Roman, der sprachlich dicht und klar formuliert einen ungewöhnliche und stellenweise auch berührende Geschichte von Heimat, Entwurzelung, Freundschaft und Schuld zu erzählen hat. 3,5 Sterne vergebe ich dafür.

Ada Dorian "Betrunkene Bäume"
Roman gebunden, 272 Seiten
Ullstein Verlag
Februar 2017
ISBN 978-3961010011
18,00 €

1. März 2017

Darwin und Explosionen



Was haben eine mysteriöse neue Haiart vor der Küste der Galápagos-Inseln und brennende Boote im Hafen von Puerto Ayora, ebenfalls Galápagos-Inseln, gemeinsam?
Damit beschäftigt sich der promovierte Biologe, Sachbuch- und Romanautor Bernhard Kegel in seinem neuesten Roman "Abgrund".

Galapágos - beim Klang dieses Namens denkt man sofort an Charles Darwin, seine legendäre Schiffsreise mit der "Beagle" und Finken als eine Basis der Evolutionstheorie, aber auch an Traumstrände, Vulkane, herrliche und abgeschieden Landschaften und ungewöhnliche, einzigartige Flora und Fauna.
Anne und Hermann, ein deutsches Liebespaar aus Kiel in mittleren Jahren, sie Kriminalistin und er Biologe, sind für ihren ersten gemeinsamen Urlaub auf dem Galápagos Archipel mit eben diesen Erwartungen gestartet, doch alles kommt anders.
Hermann begibt sich zusammen mit zwei Kollegen auf die Suche nach einem rätselhaftem Hai, den er zusammen mit Anne bei einem vorangegangenen Tauchgang entdeckt hatte, und stößt dabei auf überraschende Veränderungen der Lebensgemeinschaften von Riffen vor der Küste. Alles deutet auf neue Tierarten hin, die im Hexenkessel der Evolution aufgrund der globalen klimatischen Veränderungen entstanden sein könnten.
Anne, in Puerto Ayora auf Santa Cruz zurückgeblieben, wird in kriminalistische Ermittlungen verwickelt, als nachts Schiffe in Flammen aufgehen und der zuständige Inspektor sie um Hilfe bittet. Sie gerät dabei in ein kompliziertes Geflecht aus Naturschutz, traditioneller Fischerei, Tourismusboom und und dem komplizierten sozialen Gefüge der Inseln.

Das Buch ist vom Autor als Wissenschaftsroman angelegt und bietet eine mehr oder weniger glückliche Mischung aus Sachbuch, Forschungsberichten und Krimi.
Als Einstieg und Prolog erlebt man einen sehr schönen kurzen Ein- und Rückblick in Darwins Galapágos-Reise und das Sammeln der berühmten Darwin-Finken durch seinen Helfer und Begleiter Syms Covington. Der Rahmen schließt auf gelungene Weise, wenn im letzten Teil des Romanes die moderne und aktuelle Forschung an den Darwin-Finken die Handlung bestimmt.
Die Beschreibung der Tauchgänge zur Suche der neuen Haiart, zur Untersuchung des Lebens auf Riffen vor dem Archipel und die damit verknüpfte Vermittlung von Wissen zu Veränderungen dazu hat mir ebenso gut gefallen wie Informationen zu globalem Klimawandel und den damit verbundenen Folgen.
Weniger gelungen finde ich den Teil der kriminalistischen Handlung. Zum einen ist für mich sehr vorhersehbar, was passieren wird, zum anderen hätte hier etwas mehr Subtilität bei den Ermittlungen und ein weiterer Blickwinkel außer dem von Anne der Spannung gut getan, zumal sich insbesondere im mittleren Teil des Romans doch recht umfangreiche Passagen nur damit befassen.

Sprachlich halte ich das Buch für sehr geeignet, auch Nicht-Biologen gute erste Einblicke in die Abstammungslehre und die Forschung dazu zu geben. Es regt dazu an, auf diesem Gebiet weiteres zu lesen, bei mir zumindest hat das funktioniert. Angenehm fand ich beim Lesen, dass ich zwar ein paar Kleinigkeiten nachgeschlagen habe, da ich biologisch doch sehr unbedarft bin, der Roman jedoch nicht vor Unverständlichkeiten bezüglich Begriffe und Erläuterungen strotzt.

Insgesamt hat mir das Buch gefallen, wenn ich mir auch mehr Raum für Herman's Part und die Forschung nach Veränderungen in der Fauna und weniger für den Krimiteil gewünscht hätte.
Ich vergebe 3,5 Sterne für ein interessantes Buch bezüglich gut verpacktem Wissenserwerb, das etwas mehr Spannung vertragen hätte.



Bernhard Kegel "Abgrund"
Roman gebunden, 384 Seiten
Mare-Verlag
Erscheinungstermin: 28. Februar 2017
ISBN 978-3866482517
22,00 €