25. Juli 2017

Britisch, etwas schrullig und wortgewandt






Unterhaltsam, etwas schrullig und betulich, also „very British“ präsentiert sich der Roman „Eine von uns“ der britischen Autorin Harriet Cummings. Das Buch zeigt treff- und stilsicher die Zerbrechlichkeit einer Gemeinschaft, und dies mit der Dynamik der Furcht und Unsicherheit vor Unbekanntem.
Die Geschichte nimmt Bezug auf reale Ereignisse im Sommer 1984, als in Dörfern in den Chiltern Hills (GB) ein Einbrecher namens Fox umging, der zwar nichts gestohlen, aber Unordnung in der Häusern verursacht hat.

Delores ist jung, hübscher als Madonna und auf der Suche nach harmloser Ablenkung von ihrer frustrierenden Ehe in einem kleinen englischen Dorf in den 1980er Jahren. Sie verliert ihre neue Freundin Anna, eine unscheinbare junge Frau, die einfach so verschwindet. Die Dorfbewohner vermuten, dass der geheimnisvolle Einbrecher Fox verantwortlich ist, der nichts stiehlt sondern die Ordnung in Häusern, insbesondere in den Schlafzimmern ihrer Bewohner, ein wenig durcheinander bringt. Die Angst greift um sich, Vermutungen zur Identität von Fox führen zu gegenseitigen Anschuldigungen und schließlich zur Bewaffnung…

Die Autorin Harriet Cummings zeichnet in ihrem Debütroman ein treffendes und abgründiges Bild einer englischen Dorfgemeinschaft abseits der Hauptstraße. Einiger der Bewohner führen über lange Zeit ein Schattendasein, man würde ihr Verschwinden wahrscheinlich nicht einmal bemerken. Neulinge und Zugezogene finden nur schwer oder gar nicht ihren Platz, es gibt keine Willkommenskultur, sie sind Fremde und werden so behandelt. 
Als sich die Unsicherheit und Hysterie unter den Bewohnern breit macht, bröckelt auch der einstmals gute, auf genaueren Blick aber sehr fragile Zusammenhalt unter den Menschen haltlos. Die augenscheinliche Idylle fällt und raffiniert spielt die Autorin mit gegenseitigem Misstrauen und der zunehmenden Aggressivität.

Unterstützt wird die Spannung durch die gut angelegte Charaktere. Neben Deloris, die zunehmend frustriert erscheint, gibt es ihre neue Freundin Anna, die jahrelang ein Schattendasein in der Krankheit ihrer Mutter führte und auch nach deren Tod kaum wahrgenommen wird, Brian der Dorfpolizist ist offen und sympathisch dargestellt, er kümmert sich um seinen kranken Bruder, oder der neue Vikar Jim, der mit seiner dunklen Vergangenheit zu kämpfen hat und wie Delores ein Fremder und Neuling im Dorf ist.


Im Klappentext wird Hochspannug á la Hitchcock versprochen. Das sollte man von diesem Buch nicht erwarten. Wenn auch spannend erzählt dreht sich die Geschichte mehr um schrulliges und abgründiges Verhalten, um soziale Bindungen und um den Platz des Einzelnen in einer festgefahrenen Gemeinschaft. Es ist ein tiefgreifendes und für mich hochinteressantes Portrait einer abgeschotteten Dorfgemeinschaft in der Krise, das die Autorin zeichnet, sie hat den Finger auf der Wunde und betrachtet das Ganze dennoch mit angenehmen Witz, ohne dabei zynisch zu werden.




Harriet Cummings "Eine von uns"
Roman gebunden, 368 Seiten
Deuticke Verlag
Juli 2017
ISBN 978-3552063358
20,00 €

Ende und Anfang






Klimatisches Chaos, Anstieg des Meeresspiegels und Überflutung einer Großstadt direkt vor der eigenen Haustüre ist die Ausgangssituation diese Buches, das die beängstigende Flucht vor der Klimakatastrophe thematisiert. Ungewöhnlich beschrieben bildet die Katastrophe selbst nur das Hintergrundrauschen des Weges einer namenlosen jungen Frau mit ihrem Neugeborenen Z und ihrem Ehemann R weg vom steigenden Meeresspiegel, aber auch weg von der gewohnten Umgebung, vom Zuhause, von der Zivilisation.

Anfang und Ende - Katastrophe und Geburt - Apokalypse und Neubeginn, damit spielt die Autorin Megan Hunter in ihrem Debütroman. London steht unter Wasser, und eine junge Frau entbindet im Krankenhaus ein Baby wie auf einer Arche, benannt ausrerechten nach dem letzten Buchstaben des Alphabets -Z. 
Die gewohnten Fixpunkte der westlichen Zivilisation schwimmen anfangs langsam und dann immer schneller mit den Fluten davon, als die kleine Familie zunächst aufs Land zu den Schwiegereltern flieht und dann weiter in Flüchtlingslager und in die Berge zieht.
Die Geschichte zerfasert immer mehr, mit dem Fortschreiten der Flucht brechen Informationsstrukturen wie das Handynetz, die Infrastruktur und der Familienzusammenhalt auseinander. Als Leser sieht man wie die Protagonistin die kläglichen einstmals wichtigen Reste des menschlichen Zusammenlebens nur noch in grauen Fetzen vorüberstreifen.
Es gibt allerdings auch kleine Enklaven des Friedens inmitten des nicht erfassbaren Chaos, wenn sich Gruppen alleinstehender Mütter in Lagern zusammentun und sich gegenseitig helfen erinnert das sehr an positive ursprüngliche menschliche Instinkte und gibt Hoffnung inmitten all der Trostlosigkeit dieses dystopischen Romanes.

Wie in Stein gemeißelte Sätze, die mich an biblische Texte und an ein Poem zugleich erinnern, abgehackte Gedankensplitter und Blitzlichter vermitteln dem Leser ein Gefühl, das die junge Frau auf ihrer Flucht haben muss: nämlich Abschottung, Informationsmangel, Ratlosigkeit und Ziellosigkeit. Man weiß ebensowenig wie sie, was eigentlich genau passiert ist, man spürt die Auswirkungen der Katastrophe und lebt wie sie auch im Augenblick, ohne Rückblick oder Weitsicht nach vorn. Nichts ist vorgekaut oder für den Leser zurechtgelegt. 
Das ist einerseits genial, da es das Gefühl der Hilflosigkeit und Bedeutungslosigkeit des Einzelnen auf grandiose Weise vermittelt, andererseits jedoch fordernd und anstrengend beim Lesen. Man muss sich darauf einlassen wollen, und wer das nicht schafft, wird wohl keinerlei Gefallen an dem Buch finden, denn es liefert keine Erklärungen sondern nur Momentblicke.
Zusätzlich wird durch Namenlosigkeit bzw. durch Verwendung von Anfangsbuchstaben bewusst Distanz zu den Personen aufgebaut, zum Beispiel sucht der Ehemann R panisch die Einsamkeit abseits von Flüchtlingslagern, und man spürt als Leser sehr deutlich, dass er sich auch als Charakter völlig zurückzieht und nicht greifbar ist, wie übrigens in meinen Augen alle Charaktere des Buches.

Ich war und bin hinsichtlich der Beurteilung des Buches zwiegespalten. Einerseits genial, innovativ, modern und sehr zeitgemäß, andererseits schwierig zu lesen, auch wenn man der Geschichte selbst sehr gut folgen kann, von hingeworfenen Brocken geprägt, wie die oft stichpunktartigen Tagebuchaufzeichnungen einer Person, zu der man keinen Bezug herstellen kann.
Ich habe das Buch eher analytisch und weniger mit der loslassenden Freude an einer guten Geschichte gelesen und konnte von meinem bequemen Lesesessel aus andererseits deutlich spüren, wie grauenvoll, einsam und trostlos eine erzwungene Flucht aus dem gewohnten Umfeld ist.
Vielleicht liegt genau darin der Reiz der Lektüre? Dass man keine vorgegebenen Wege gehen kann, sondern wie die flüchtende junge Frau gebeutelt und hin und hergerissen ist? Dass man mehr erfühlt als durch Worte erfährt? 

Eine pauschale Leseempfehlung kann ich nicht geben, doch es ist eine höchst interessante Leseerfahrung, und wer moderne, dystopische und nicht unbedingt detailverliebt erzählte Geschichten mag, sollte sich auf das Buch einlassen.




Megan Hunter "Vom Ende an"
Roman gebunden, 160 Seiten
Verlag C.H. Beck
Erstauflage Mai 2017
ISBN 978-3-3406705076
16,00 €