20. April 2017

Begeisterndes Debüt: ein kleines böses schnörkellos erzähltes Buch




Der Roman "Der Club" von Takis Würger ist für mich eine Lese-Überraschung unter den Frühjahrsbüchern. Der Autor hat ein kleines Juwel geschaffen, und der Verlag Kein & Aber hat dem Text einen sehr passenden bibliophilen Rahmen gegeben.

"Die Einsamkeit war ein Loch, das ich in meinem ganzen Körper spürte, als wäre von mir nur die Hülle eines Menschen übrig geblieben."  

Hans Stichler, ein Junge aus einfachen Verhältnissen, bekommt die Chance, an der Universität Cambridge zu studieren. Als Kind hatte er die Mutter durch Krankheit und später den Vater durch einen Unfall verloren. Er war ein Außenseiter unter den anderen Kindern, als er angeregt durch seinen Vater mit dem Boxen begann und darin eine Stütze für sich findet.

"Wenn ich heute an diese Zeit zurück denke glaube ich, dass mir andere Menschen erst erträglich wurden, als ich anfing, mich mit ihnen zu schlagen."

Später, im Internat unter Mönchen, ist das Boxen für Hans die einzige Möglichkeit, dem harten Alltag und der Einsamkeit zu entfliehen. Kurz vor dem Abitur bietet ihm seine Tante Alex, eine Professorin in Cambridge, endlich die ersehnte Möglichkeit, bei ihr zu sein, getarnt als Stipendiat an ihrem College. Er soll ihr helfen, hinter die perfekte Fassade des elitären Pitt-Club zu blicken, dessen Eintrittskarte das Boxen ist. Hans weiß zunächst nicht, warum er Nachforschungen anstellt, doch je mehr sich zwischen altehrwürdigen Mauern, angefüllt mit Chesterfield-Möbeln, Trophäen und Kristall ereignet, umso mehr wünscht er sich, dazu zu gehören und nichts zu wissen. Er muss sich letztlich entscheiden, ob er für den richtigen Zweck bereit ist, das Falsche zu tun.

"An manchen Abenden in diesem Club hatte ich mich gefühlt, als löse sich mein Ich langsam auf und irgendwann bliebe nur noch Hans Stichler übrig. Aber an diesem Abend wusste ich genau, wer ich war und wer ich nicht sein wollte."

Die Geschichte, unterteilt in kurze Kapitel wie die Runden eines Boxkampfes, ist aus verschiedenen Perspektiven erzählt. Das ermöglicht beim Lesen neben interessanten Einblicken einen Vorsprung gegenüber dem Protagonisten. Gebannt folgt man Stück für Stück der Demaskierung der Figuren und ihren Lebensumständen und wirft gemeinsam mit Hans einen höchst erschreckenden Blick hinter die Fassade der britischen Oberschicht. 
Nach einem langsamen Start entwickelt sich das Geschehen nach Hans' Einführung in den Pitt-Club recht rasant. Und auch wenn der Hintergrund der Geschichte schnell durchschaubar ist, knabbert man an den einzelnen Verwicklungen ebenso wie an der Motivation der Charaktere, was subtil, höchst interessant und spannend ist.

"Es ist egal, was du machst, wenn die Storys, die die Leute über dich erzählen, gut genug sind."

Hans Stichler erweist sich als Charakter, dem man beim Lesen gerne nahe ist, weil er authentisch wie eine Figur aus dem echten Leben als einfacher Junge geblendet von Reichtum, Macht und Traditionen seinen Weg finden muss, nicht überirdisch wirkt, stolpert, und glaubhaft im rechten Moment zurück auf seinen Weg und zu seinen Idealen findet. Er ist ein Kämpfer, dem man jeden Sieg gönnt und dessen Gang ich beim Lesen gefesselt folgte. Der Autor hat selbst einige Jahre an einer Eliteuniversität in Großbritannien verbracht, war Mitglied eines Clubs und Boxer, wohl durch das eigene Erleben gerät seine Hauptfigur so lebensnah. Man fragt sich allerdings ständig, inwieweit die Schilderungen den Tatsachen entsprechen, doch diese Antwort bleibt aus.

"Die Wahrheit...sind die Geschichten, die wir solange erzählen, bis wir glauben, sie wären Wirklichkeit."

Ein wenig greifbarer und voluminöser hätte ich mir die beiden Frauenfiguren gewünscht. Alex, die Tante von Hans und Professorin in Cambridge, und Charlotte, ihre Studentin und Hans' Freundin, bieten beide viel und hochinteressanten spannenden Hintergrund, dennoch wirken beide auf mich etwas zu zweidimensional. Das mag daran liegen, dass das Hauptaugenmerk der Geschichte auf dem Pitt-Club und dem Boxen als Männerdomäne liegt und die Frauencharaktere den Hintergrund bilden, vor dem sich die Entwicklung abspult. Es ist ein ganz persönliches Empfinden, das der Rundheit des Buches jedoch nicht wirklich Abbruch tut.
Die männlichen Begleiter von Hans sind dafür umso faszinierender und vielschichtiger und auf den ersten Blick dubioser ausgearbeitet, sie offenbaren sich erst auf den zweiten Blick. Josh als Sohn reichen Eltern, elitär, überheblich, verwirrend aggressiv und gleichzeitig menschlich und gefühlvoll, bemüht sich um die Freundschaft zu Hans. Und Angus, die graue Eminenz des Pitt-Club und Vater von Charlotte, zu dem Hans Zugang durch das Boxen findet und zu dem er sich hingezogen fühlt, wirkt auf den ersten Blick väterlich-besorgt und loyal, jongliert gleichzeitig im Job mit Menschen wie mit Spielfiguren.

"In Cambridge hatte ich gelernt, wie viel Großes der Mensch leisten kann: er kann die Grundlagen der formalen Logik entwickeln, die Geschwindigkeit des Lichts errechnen und ein Medikament gegen Malaria finden. Aber in Cambridge habe ich auch gelernt, was der Mensch in seinem Kern ist: ein Raubtier."

Am Ende geht alles auf, und Tarkis Würger hält noch ein paar kleine Überraschungen bereit, die sich im Nachhinein betrachtet perfekt und nahtlos ins Geschehen einfügen. 
Der recht kurze und mit passender schnörkelloser und stellenweise fast brutaler Sprache erzählte Roman wurde völlig zu recht mit dem Preis als bestes Roman-Debüt auf der Litcologne 2017 ausgezeichnet und mit seinem in den Farben und Stil einer Pitt-Club-Krawatte bezogenem Einband ist es nicht nur des Inhaltes wegen ein kleiner Schatz, den man unbedingt lesen sollte.


Takis Würger "Der Club"
Roman in Leinen gebunden
240 Seiten
Erschienen im Februar 2017
Verlag : Kein & Aber
ISBN 9783036957531

Preis 22 €


Geschichte über Freundschaft, Vertrauen und Betrug





Das Buch "Die Guten" von Joyce Maynard hat mich überrascht und von Anfang an gefangen gehalten. Der unaufgeregte und dennoch fesselnde Stil der Autorin, die Geschichte selbst und die nahe Beziehung zu ihren gut gezeichneten Figuren haben diesen Roman zu einen besonderen und empfehlenswerten Leseerlebnis für mich gemacht.

Die Protagonistin Helen versucht nach ihrer Scheidung von Dwight für sich und ihren kleinen Sohn Oliver als Fotografin und mit Kellner-Jobs zu sorgen. Ihr allabendlicher Weingenuss wird ihr zum Verhängnis, sie wird mit ihrem kleinen Sohn auf dem Weg ins Krankenhaus mit Alkohol am Steuer angehalten und verliert das Sorgerecht für ihren Sohn, der der Stern ihres Daseins ist. Nur alle zwei Wochen darf Helen ihren Sohn Oliver für ein paar Stunden sehen, der in seiner neuen Familie allein gelassen und unglücklich ist und sich immer mehr von seiner Mutter entfremdet. Helen räumt schnell und rigoros mit ihrem Alkoholsucht auf, hat aber dennoch wegen hoher Schulden wenig Chancen, Oliver schnell zurück zu bekommen und leidet sehr darunter. 
In dieser Situation lernt sie ein reiches hundevernarrtes Ehepaar, Ava und Swift Havilland, kennen, die Helen als Fotografin engagieren. Ava nimmt sich ihrer an, und schon bald geht sie im Haus der Havillands ein und aus, erledigt viele aufgetragene Aufgaben. Das charismatische Paar ist sehr großzügig, Helen genießt die Aufmerksamkeit der beiden sehr. Sie wollen ihr sogar dabei helfen, den Sorgerechtsprozess um Oliver zu bestreiten, doch irgendwann merkt Helen, dass dies alles mit Bedingungen gekoppelt ist und nach Ablösen der glanzvollen äußeren Lackschicht nicht alles ist wie es scheint.

Helen wirkt anfangs kraftlos und von ihrer Trauer um den Verlust des Sohnes beherrscht. Sie ist zwar beim Bekämpfen ihrer Alkoholsucht auf dem richtigen Weg, scheint aber für de Wiedererlangung des Sorgerechtes gegen Windmühlen zu kämpfen. Wie ein hohles Gefäß wird sie durch das perfekt erscheinende Ehepaar mit Lebensmut und Freude angefüllt. Helen lässt alle alten und neuen sozialen Beziehungen hintenanstehen und gibt sich völlig den Wünschen von Ava und Swift hin. Man möchte Helen schütteln, weil beim Lesen unterschwellig trotz allen Glanzes und Glücks ständig ein ungutes Gefühl präsent ist.

Langsam und unglaublich geschickt steigert die Autorin den Spannungsbogen, so dass man das Buch nach dem interessanten Auftakt kaum weglegen kann. Es ist keine plump-angstvolle Spannung, die aufgebaut wird, sondern eher das Schüren der Neugier durch subtile Verwicklungen und durch die Nähe zur Hauptfigur Helen, in der man sich von Anfang an befindet. Geschickt eingebaute Rückblicke und der Blick durch die Augen von Helen sorgen für ein rundes Bild auf das Geschehen, das genug Verwirrung für die Leselust stiftet, aber nicht so sehr verwirrt, dass man den Überblick verliert. 

Die Charaktere sind lebensecht und unterschiedlich genug dargestellt, um authentisch und interessant zu wirken. Helen als zurückhaltender jungen Frau, geprägt von freudloser Kindheit und völlig fehlgeschlagener Ehe, wird das weltoffene und überaus glückliche Ehepaar Havilland gegenübergestellt, mit ihrem weitläufigen Haus, dem erlesenen Freundeskreis, den gesellschaftlichen Verbindungen und den glanzvollen Parties. Ava, obwohl an den Rollstuhl gebunden und völlig abhängig von ihrem Ehemann, tritt sehr selbstbewusst, ein wenig glamourös und weltoffen auf. Ihr Ehemann Dwight gleicht einem kleinen Jungen, der jedem Spaß im Leben mit der Freude eines Kindes hinterher jagt und mit seiner ansteckenden Art Helens Sohn Oliver aus der Dumpfheit und Betäubung aufzuwecken vermag. 

Das Buch ist Charakterstudie, Entwicklung, Gesellschaftskritik und nicht zuletzt eine interessante und sehr lesenswerte Geschichte über Manipulation und Verlust. Feinsinnig, intelligent und eindringlich spinnt die Autorin den Faden für den Leser mit der Geschichte, die sich tatsächlich so zutragen könnte. Am Ende fragt man sich, wie weit man selbst bereit wäre sich aufzugeben oder ob man stark bleiben könnte. Ich gebe eine unbedingte Leseempfehlung für diesen großartigen Roman, der nicht der letzte der Autorin für mich sein wird.

Joyce Maynard, die bereits mehrere vielbeachtete Romane und Sachbücher veröffentlicht hat, lebt und schreibt in Kalifornien. Internationaler Bestseller wurden ihre in viele Sprachen übersetzten Erinnerungen an ihre gemeinsame Zeit mit dem Schriftsteller J.D. Salinger.


Joyce Maynard "Die Guten"
Broschürt, 384 Seiten
Erschienen bei Harper Collins
Oktober 2016
ISBN 9783959670487
16,00 €

15. April 2017

Moderner Gesellschaftsroman




Der hochgelobte zeitgenössische Gesellschaftsroman "Unterleuten" von Juli Zeh beschreibt authentisch das Leben in einem Dorf in Brandenburg, das auf den ersten Blick wie ein Postkartenidyll wirkt, bei näherem Hinsehen aber tiefe Probleme und viele alte Wunden hat, die im Laufe der Geschichte aufbrechen.
"Unterleuten" ist aber mehr als nur ein Buch. Die Autorin hat einen hermetisch geschlossenen Schauplatz geschaffen, der dennoch die ganze Bandbreite der Bewohner der Republik widerspiegelt. Unterleuten erfuhr außerdem ein ungewöhnliches und progressives Marketing, indem der Kosmos des Buches online als website zu finden ist.

Klappentext
Manchmal kann die Idylle auch die Hölle sein. Wie das Dorf "Unterleuten" irgendwo in Brandenburg. Wer nur einen flüchtigen Blick auf das Dorf wirft, ist bezaubert von den altertümlichen Namen der Nachbargemeinden, von den schrulligen Originalen, die den Ort nach der Wende prägen, von der unberührten Natur mit den seltenen Vogelarten, von den kleinen Häusern, die sich Stadtflüchtlinge aus Berlin gerne kaufen, um sich den Traum von einem unschuldigen und unverdorbenen Leben außerhalb der Hauptstadthektik zu erfüllen. Doch als eine Investmentfirma einen Windpark in unmittelbarer Nähe der Ortschaft errichten will, brechen Streitigkeiten wieder auf, die lange Zeit unterdrückt wurden. Denn da ist nicht nur der Gegensatz zwischen den neu zugezogenen Berliner Aussteigern, die mit großstädtischer Selbstgerechtigkeit und Arroganz und wenig Sensibilität in sämtliche Fettnäpfchen der Provinz treten. Da ist auch der nach wie vor untergründig schwelende Konflikt zwischen Wendegewinnern und Wendeverlierern. Kein Wunder, dass im Dorf schon bald die Hölle los ist …
Mit „Unterleuten“ hat Juli Zeh einen großen Gesellschaftsroman über die wichtigen Fragen unserer Zeit geschrieben, der sich hochspannend wie ein Thriller liest. Gibt es im 21. Jahrhundert noch eine Moral jenseits des Eigeninteresses? Woran glauben wir? Und wie kommt es, dass immer alle nur das Beste wollen, und am Ende trotzdem Schreckliches passiert?

Zahlreiche Dorfbewohner agieren in Unterleuten, ohne dass man den Überblick verliert. Manche Figuren begleitet man näher und enger als andere, wie in einer echten Dorfgemeinschaft. Es gibt ein heimliches Oberhaupt, Wortführer, Seilschaften und Bündnisse ebenso wie Neid und Missgunst. Die Echtheit und die Unmittelbarkeit, mit der die Autorin den Leser nach Unterleuten versetzt, ist beeindruckend. Man schaut den Bewohnern beim Lesen fast über die Schulter, so authentisch sind die Figuren in der Geschichte platziert.

Alle haben ihren festen Platz im Beziehungsgeflecht, das empfindlich gestört wird, als das Dorf zum Fördergebiet für erneuerbare Energien werden soll. Die fragile Gesellschaftsstruktur bricht auf und Juli Zeh beschreibt mit gewohnt kühlem und distanziertem Blick den Kampf der Bewohner um ihren Platz in der Gemeinschaft, die Schwachstellen der Dorfgesellschaft, die in Aggression, offener Gewalt und im Kampf auf Leben und Tod münden. Eindrucksvoll legt die Autorin den gesellschaftlichen Niedergang dar, der subtil beginnt und von Geld- und Machtgier vorangetrieben wird, so dass letztlich jeder für sich allein stehen und kämpfen muss.

Der Text ist absolut mitreißend und spannend, und mit bis ins Detail ausgefeilten Charakteren liest sich das Buch stellenweise wie ein Thriller, schockierend und ungemein unterhaltend. 
Juli Zeh lenkt den Blick auf gesamtgesellschaftliche Probleme ohne erhobenen Zeigefinger. 
Mit ihrem komplexen und nachdenklich stimmenden Gesellschaftsbild mit dramatischem und zugleich zufrieden stellendem Ende und mit der Internetseite zum Buch, dem Who-is-Who-Kosmos des Dorfes, legte Juli Zeh ein für mich herausragendes Buch vor, das sich trotz der Thematik leicht und schnell wie ein Unterhaltungsroman wegliest. Unbedingte Leseempfehlung.

Website Unterleuten



Juli Zeh "Unterleuten"
Roman, gebunden
640 Seiten
Erschienen bei Luchterhand Literaturverlag
März 2016
ISBN 9783630874876
24,99 €


(Das Taschenbuch erscheint im September 2017)

Liebevolle und schrullige Geschichte




David Foenkinos schaut in seinem neuesten Roman mit einem Schmunzeln auf den Literaturbetrieb und den Hype um ständig neue Bestseller. Für das Buch "Das geheime Leben des Monsieur Pick" hat Foenkinos eine bretonische Bibliothek für Unveröffentlichtes erfunden, in Anlehnung an die tatsächlich existierende Brautigan Library in den USA, die wiederum auf eine Romanidee des Schriftstellers Richard Brautigan zurück geht.

In einer kleinen Bibliothek im Ort Crozon in der Bretagne endet "die literarische Variante des Jakobswegs", die Wallfahrt des Scheiterns, die Schriftsteller mit ihren unveröffentlichten Manuskripten unternehmen können. Jean-Pierre Gourvec, der den Menschen ansehen könnte, welches Buch sie würden lesen wollen, richtet in seiner Bibliothek ein Regal mit abgelehnten Manuskripten ein, einen Platz, an dem auch das Scheitern bewahrt wird. Nach seinem Tod droht dies in Vergessenheit zu geraten, bis die junge Pariser Lektorin Delphine Despero in eben diesem Regal eine sensationell gute Geschichte findet und in ihrem Verlag veröffentlicht. Das Leben vieler Menschen wird dadurch völlig umgekrempelt, angefangen von den Angehörigen des aus Crozon stammenden Autors und Pizzabäckers Henri Pick bis zu Delphine selbst und ihrem Liebsten, dem Schriftsteller Frédéric Koskas, dessen veröffentlichter Roman kaum beachtet wurde.

"Als müsste man mit jedem Satz zeigen, was für ein gewaltiger Schriftsteller man ist. Der erste Roman ist immer der eines fleißigen Schülers. Nur Genies sind von Anfang an faul."

Witzig, ein bisschen mäandernd, aber dabei nie den Faden verlierend, mit teils scharfem Blick und wirklich gelungener poetischer Sprache wird die Geschichte aufgerollt. 
Die Charaktere sind liebevoll-überspitzt dargestellt, mit kritischem aber nicht maßregelndem Blick. 
Man amüsiert sich gleichermaßen über Pragmatismus und Wortkargheit von Madeleine, der Ehefrau des nunmehr berühmten Monsieur Pick und über den etwas wunderlichen und wegen des Rummels um ein fremdes Buch eifersüchtigen Frédéric der lieber mit sich allein als mit anderen ist:
"Die Angewohnheit der Menschen, sich für eine Stunde oder zwei zu verabreden, um irgendwelche Neuigkeiten auszutauschen, erschien ihm absurd. Er tauschte sich lieber mit der Stadt aus, das heißt, er ging spazieren"

Die Geschichte selbst entwickelt sich recht gemütlich. Foenkinos' Stil zeigt, dass er unverkrampft und mit viel Leichtigkeit schreiben kann, bei manchem ein bisschen zu lange verweilt, über anderes einfach hinweg springt. Das macht den Charme des Romans aus und ist gleichzeitig ein Manko im mittleren Teil, wenn die Geschichte stockt und ein paar Längen hat.

Der Fokus des Romans liegt für mich zum einen in der mit zwinkerndem Auge betrachteten Literatur und im Finden und Erkennen guter Geschichten, zum anderen aber auch in der Kraft, die von Paaren ausgeht. Delphine und Frédéric zum Beispiel sind recht gegensätzlich sind dabei, mehr übereinander herauszufinden, oder Madeleine und Henrí, die sich offenbar nicht gut kannten und erst auf den zweiten Blick Gemeinsamkeiten haben. Auch hier blickt Foenkinos mit liebevollem  Humor auf seien Figuren:
"Ein linearer, elektrischer Lichtstrahl kündigte ihre (Delphines) Ankunft an. Frédérik schlenkerte dagegen ruckartig hin und her, seine Fahrweise hatte mehr etwas künstlerisches." 
So schön lassen sich Gegensätze durch Radfahren ausdrücken!

"Nur für sich selbst schreiben ist, als würde man die Koffer packen, um anschließend nicht zu verreisen."

Normalerweise mag ich solche rundum-Wohlfühlbücher nicht  sehr, aber wegen der vielen Kleinigkeiten, die mich teilweise haben lachen lassen, der wirklich verdrehten Charaktere, die oft nicht aus ihrer Haut können und dadurch ihre ganz persönlichen kleinen Katastrophen auslösen, und der für mich doch kauzigen Art, wie der Autor Schicksal spielt und alles wieder zurecht rückt, hat mir das Buch gut gefallen.
Empfehlen kann ich das Buch allen, die eine amüsante und nicht tief greifende Geschichte über die Liebe zum Lesen, die Liebe zum Leben und den Mut zur Veränderung lesen wollen.


David Foenkinos
"Das geheime Leben des Monsieur Pick"
Roman gebunden, 336 Seiten
Erschienen im DVA Verlag
März 2017
ISBN 9783421047601
Preis 19,99 €



Faustscher Stoff




Thea Dorn hat mit dem Roman "Die Unglückseligen" eine anspruchsvolle, sprachlich herausfordernde Geschichte mit eine Prise Wahnsinn geschrieben, die zum modernen Klassiker werden könnte und mich gefordert, festgehalten und begeistert hat.

Inhalt (Verlag):
Johanna Mawet ist Molekularbiologin und forscht an Zebrafischen zur Unsterblichkeit von Zellen. Während eines Forschungsaufenthalts in den USA gabelt sie einen merkwürdigen, alterslosen Herrn auf. Je näher sie ihn kennenlernt, desto abstrusere Erfahrungen macht sie mit ihm. Schließlich gibt er sein Geheimnis preis. Er sei der Physiker Johann Wilhelm Ritter, geboren 1776. Starker Tobak für eine Naturwissenschaftlerin von heute. Um seiner vermeintlichen Unsterblichkeit auf die Spur zu kommen, lässt sie seine DNA sequenzieren. Als Johannas Kollegen misstrauisch werden, bleibt dem sonderbaren Paar nur eines: die Flucht, dorthin, wo das Streben nach wissenschaftlicher Erkenntnis und schwarze Romantik sich schon immer gerne ein Stelldichein geben - nach Deutschland. 
In ihrem ersten Roman seit "Die deutsche Seele" nimmt Thea Dorn uns mit in die Extreme moderner Biomedizin und zieht uns zugleich in die Untiefen einer romantischen Seele. „Die Unglückseligen“ ist ein großes Lese- und Erkenntnisvergnügen, in dem sich die lange Tradition des Fauststoffes zeitgemäß spiegelt.

Ich gebe zu, dass ich zu Beginn der Lektüre große Schwierigkeiten hatte, mich in die Geschichte hineinzufinden, was vor allem am besonderen Stil des Schreibens liegt. Bei der Stange gehalten hat mich meine große Neugier auf das Buch und die vielen begeisterten Besprechungen, denen ich mich nach dem Lesen nur anschließen kann.

Drei Stimmen führen durch das Geschehen. 
Johanna, die Frau unserer Zeit, 30jährige Molekularbiologin benutzt auch unsere heutige Sprache - Deutsch eingefärbt mit Anglizismen. Johann Ritter verwendet den Sprachtonus seiner Zeit, aus dem späten 18.Jahrhundert, er hat in Anlehnung an die Schriften der Romantiker einen weit ausholenden und ausschmückenden Stil, der dennoch nie langweilt. Die dritte Figur, der Teufel, benutzt eine gewaltige und mächtige Sprache, die gemäß der Autorin ein altes deutsches Versmaß ist und zur Musik wird. Man weiß durch klare Trennung immer sehr genau, welche Figur man gerade begleitet.

Die Sicht und Art des Erzählens selbst wechselt ebenso wie die Sprache, auch hier hat Thea Dorn sehr ungewohnte Wege beschritten.
In einzelnen Passagen wird die Geschichte zum Theaterstück und an einer Stelle gar zum Comic, der fast paralysiert. Das Schriftbild selbst gerät zum Buchkunstwerk, je nach Blickwinkel gibt es verschiedene Schriftarten - einschließlich Frakturschrift. Und eine Fledermaus nebst Abbildung kommt vor, als die Geschichte aus deren Sicht weitererzählt wird - verrückt.

Hervorragende und sicherlich gewaltige Recherchearbeit liefern eine philosophische, geistliche und wissenschaftliche Diskussion in Faustscher Manier über das ewige Leben und das Sterben, wie es der Verlag versprochen hatte. Es ist eine höchst interessante und zugleich anspruchsvolle Thematik, einer Wissenschaftlerin, die den Tod bezwingen will und dafür forscht, den Teufel und einen 240 Jahre alte Menschen zur Seite zu stellen, der wohl unsterblich sein muss. Johanna, die moderne Frau auf der Suche nach Unsterblichkeit, erfährt von Teufel und der Unbeugsamkeit des Todes, Wahnsinn und Liebe, Leben und Genie der sich querstellenden heutigen Wissenschaft, die mehr neue Geheimisse zu erzeugen scheint als preisgibt. 

Für mich war es ein hochinteressantes Thema, ein höchst ungewöhnlicher Lesegenuss und großes Vergnügen an der Sprache und an der Optik des Textes. Ich habe zugegebenermaßen lange gebraucht beim Lesen, aber die Geduld hat sich sehr gelohnt und ich kann allen Liebhabern anspruchsvoller und ungewöhnlicher Lektüre nur empfehlen, das Buch zu lesen, es ist ein echtes Highlight.



Thea Dorn 
"Die Unglückseligen"
Roman gebunden
569 Seiten
Erschienen im Knaus Verlag
Februar 2016
ISBN 9783813505986
Preis 24,99 €

(erscheint als Taschenbuch im Dezember 2017)





14. April 2017

Dritter Fall für Cormoran Strike





J.K. Rowling hat mit dem Krimi "Die Ernte des Bösen" den dritten Band um ihren Privatdetektiv Cormoran Strike und seine Assistentin Robin Ellacot unter dem Pseudonym Robert Galbraith veröffentlicht. Nach den ersten beiden Bänden wird der Ton und die Gangart härter gegenüber den satirischen Blicken auf die Modeszene in "Ruf des Kuckucks" und auf den Literaturbetrieb in "Der Seidenspinner", die allerdings auch schon nicht für zarte Seelen geschrieben waren.

Fasziniert von menschlichen Abgründen böser Seelen rollt die Autorin die Geschichte um einen monströsen Killer und Serienmörder auf, er mit seinen Taten diesmal direkt auf den ehemaligen Militärpolizisten und Privatermittler Cormoran Strike abzielt. 
Robin Ellacot bekommt ein Paket mit einem abgetrennten Frauenbein geschickt, amputiert an genau der Stelle, an der Cormoran in Afghanistan sein verwundetes Bein amputiert wurde. Mögliche Verdächtige gibt es genügend, sein Stiefvater- ein ehemaliger Rockstar, den Cormoran für den Mörder seiner Mutter hält, und zwei wegen Gewalttaten unehrenhaft aus der Armee entlassene Soldaten, Männer mit psychopathischen Zügen. Sie alle hassen Strike und haben auch allen Grund dazu, was beim Aufrollen der Vergangenheit des Privatdetektivs klar wird.

Das sympathische Duo Strike und Ellacot ermittelt traditionell durch Befragungen und Recherchen, bei denen man sehr gut miträtseln kann. Diese Passagen lesen sich gut, aber dennoch vermisse ich hier ein klein wenig den angestaubten Charme, den die ersten beiden Bände transportierten.
Zwischendurch gibt es Blicke durch die Augen des Killers, die grausam und verabscheuungswürdig sind. Natürlich herrscht hier weit mehr Spannung als bei althergebrachter Detektivarbeit, aber auf ein paar Details hätte ich sehr gut verzichten können.

Einen großen Teil  des Romanes nehmen private Angelegenheiten von Cormoran und Robin ein, da letztere sich verheiraten möchte und ihre manchmal vor erotischer Spannung knisternde Beziehung zu ihrem massigen und kettenrauchenden Chef überdenkt. Die Autorin bedient hier leider wenig subtil das Klischee, dass Robins zukünftiger Ehemann Matthew nicht der ideale Partner für sie zu sein scheint, und auch Cormoran stolpert gedanklich häufig über den Neubeginn einer Beziehung und über seine Gefühle gegenüber seiner Sekretärin Robin. 
Dadurch rückt der eigentliche Fall etwas in den Hintergrund, erst im letzten Drittel drängt die Autorin mit voller Kraft und Spannung in Richtung Aufklärung des geheimnisvollen Ansatzes ihres Krimis.

Der Privatdetektiv Cormoran Strike mit seiner Vergangenheit und den vielen Ecken und Kanten ist eine interessante und streitbare Figur, die den Roman beherrscht und schlauer als die polizeilichen Ermittler handelt. Die übrigen Charaktere könnten für meinen Geschmack lebendiger sein und weniger klischeehaft agieren. So sind Polizisten prinzipiell feindselig gegenüber privaten Ermittlern eingestellt und arbeiten gegen Strike, Studenten sind zu blind, um als Zeugen zu taugen oder überhaupt etwas bemerkt zu haben. Der Serienkiller ist ein abgründig böser und völlig asozialer Psychopath, der an einer für mich nicht nachvollziehbaren psychischen Störung der Sehnsucht nach Amputation leidet.

Die Autorin lässt, wie gewohnt, bis zum Ende alles offen, wer tatsächlich der Täter ist und verblüfft mit ihrer Lösung. Der Roman hat mich insgesamt gut unterhalten, auch wenn ich mir mehr vom gut konstruierten Fall und weniger von der Beziehung der beiden Protagonisten gewünscht hätte. Wer vor wirklich grausamen Killern nicht zurückschreckt, dem sei dieses Buch mit 3,5 Sternen empfohlen.



Robert Galbraith "Die Ernte des Bösen"
Roman, gebunden, 
672 Seiten
Erschienen bei Blanvalet, 
Februar 2016
ISBN 9783764505745
Preis 22,99 €

(demnächst als Taschenbuch
erscheint im August 2017)



13. April 2017

Spannende und emotionale Reisebiografie






Gregory David Roberts hat mit "Shantaram" und "Im Schatten des Berges" eine atemberaubende Geschichte vor der exotischen Kulisse Indiens geschrieben. Das Hörbuch liest Jürgen Holdorf, einer meiner Lieblings-Hörbuchsprecher, mit viel Esprit und versetzt den Hörer nahe ans Geschehen.

Zum Inhalt:
Der Australier Lindsay taucht nach seinem Ausbruch aus dem Gefängnis auf der Flucht vor Interpol in Mumbai unter und versucht sich dort abseits des Tourismus und losgelöst von jedem Indien-Pathos der Rucksacktouristen in das Stadtleben einzufinden und mit diesem zu verschmelzen. Das gelingt ihm durch Vertrauen, gute Intuition und offene Augen und Ohren und ein offenes Herz. Der junge indische Führer Prabaker, hilft ihm, seine Möglichkeiten auszuloten und seinen ruhenden Pol wiederzufinden. Seite an Seite mit den Armen fühlt er sich sicher, doch dann trifft er eine junge Frau, die ihn aus dem Gleichgewicht wirft.
In der Fortsetzung "Im Schatten des Berges" wird der Faden der Geschichte aus "Shantaram" aufgegriffen und fortgesetzt. 
Der Autor erzählt sehr emotional von Liebe und Freundschaft, von der Mafia in Mumbay und deren Verbrechen, von der Freiheit und von philosophischer Suche nach dem Lebenssinn. Tragik und Glück stehen dicht beieinander und eine gesunde Portion Optimismus am Ende versöhnen den Hörer mit der faszinierenden, schmutzigen, armen und traurigen und zugleich so anregenden und aufregenden Welt Indiens.

Es ist ein Hörmarathon von knapp 80 Stunden, aber jede davon hat sich für mich gelohnt. Die tollkühne und bewegende biografische Geschichte einer Reise ist authentisch und spannend. Viele interessante Details, Blicke nach links und rechts vom Erzählstrang und nicht zuletzt die Lesestimme von Jürgen Holdorf mit sehr angenehmer Tonlage bereiten großen Genuss beim Hören. 
Von ruhiger und unaufgeregter Art bis zum dichten und spannenden Lesen reicht die Bandbreite, mit der der Sprecher den Büchern Leben einhaucht. Er ist eine großartige Stimme für den überschwänglichen und ein wenig arroganten Ich-Erzähler Lindsay, der manchmal eine übertriebene und blumig-poetische Sprache benutzt. Doch letzteres gehört zur mit viel Leidenschaft dargebotenen Geschichte dazu, die an die Biografie des Autors angelehnt ist. Gregory David Roberts verbrachte 10 Jahre mit gefälschtem Pass in diesem Land der Gegensätze.

Die Leidenschaft des Autors für das Land Indien und die dort lebenden Menschen ebenso wie die so passende Sprecherstimme machen das Hörbuch zu einem Genuss, trotz oder vielleicht gerade wegen der Länge. Es gibt eine klare Empfehlung von mir, jede Minute davon zu genießen.



Shantaram und Im Schatten des Berges 
Gregory David Roberts
Ungekürzte Lesung, Gelesen von Jürgen Holdorf
Erschienen: 17. Oktober 2016
Der Hörverlag
(7 mp3-CDs, Laufzeit: 78h 57)
ISBN 978-3-8445-2315-7
Preis 29,99 €



10. April 2017

Weise, berührend und bedrückend





Unaufgeregt erzählt der preisgekrönte Roman "Das Leben wartet nicht" von Marco Balzano von der Flucht des Kindes Ninetto aus dem bitterarmen italienischen Süden nach Mailand in den 1950er Jahren und schlägt damit einen überaus aktuellen Bogen zur heutigen Flüchtlingssituation.
Die Geschichte selbst könnte eine moderne Oliver-Twist-Variation sein, die sprachlich unglaublich nah am Geschehen geschrieben ist und den Leser dabei fast einbezieht.

Ninetto ist neun, als er sich nur in Begleitung eines Familienfreundes aus dem sizilianischen Dorf San Cono in das Dickicht der norditalienischen Stadt Mailand aufmacht, um für seinen Lebensunterhalt sorgen zu können. Die Bilder der Armut seiner lieblosen Kindheit in Sizilien, das Leben in engen Wohnblocks bei seiner Ankunft in Mailand, die ihn an einen Bienenstock erinnern, seine große Liebe zu dem Mädchen Maddalena aus der Backfabrik, die er mit nur 15 Jahren heiratet und die immer die Liebe seines Lebens ist, erzählt Ninè rückblickend.

"Das wahre Leben war für mich meine armselige Kindheit, die Emigration nach Mailand und das Überleben in diesen schwierigen Jahren. Mit dem Eintritt in die Fabrik hatte ich zwar ein geregeltes Einkommen, aber ich bin in einen dunklen Tunnel geraten."
(Seite 217)

Ninè, der in jungen Jahren dem Glück und dem Leben nachjagte, hat das Leben im Prinzip verpasst. Nach seiner Ankunft in Mailand aus der sizilianischen Armut, beschimpft als Hungerleider oder "Napulì" findet er tatsächlich Arbeit, kann dem Bienenstock entkommen und lernt seine Liebste kennen. Doch dann zerrinnt ihm das Glück wieder zwischen den Fingern bei trister Fabrikarbeit bei Alfa Romeo und er landet wegen eines schlimmen Fehlers letztlich für 10 Jahre im Gefängnis. Fünfzig Jahre später blickt er zurück und nach vorn, sieht, dass sich für sein Glück nichts verändert hat und das Leben ohne ihn weiterging und weitergeht. Er lebt immer noch in einer Mietskaserne in Mailand, allerdings inzwischen umgeben von anderen Gesichtern der Flucht. Nur durch seine kleine Enkelin Lisa könnte er etwas Glück finden, doch der Weg für ihn dorthin ist weit und steinig.

"...die Nähe zwischen uns war verloren, und das Leben drängte sie weiter."
(Seite 243)

Völlig unverblümt führt Ninetto als Ich-Erzähler durch die verschiedenen Zeitebenen der Geschichte, die mit seiner Entlassung aus dem Gefängnis beginnt. Er lässt seine Gedanken laufen, wodurch viele Brüche und Sprünge entstehen, die seine Erzählung sehr lebendig und authentisch wirken lassen. Er bezieht den Leser dadurch ein und man fühlt sich von ihm mitgenommen.

"Man kann nicht auf jeden Zug aufspringen, einige muss man verpassen, andere fahren lassen und sich damit abfinden."
(Seite 142)

Auf der Jagd nach dem Leben und auf der Flucht vor der Melancholie und Depression blitzt viel Witz durch die einzelnen Passagen, der nie in Zynismus mündet. Ninè kommt mit den neuen Anforderungen den Lebens nach seinem Gefängnisaufenthalt nicht gut zurecht, er ist ein Aussortierter, der auf der Suche nach Arbeit bereits am Ausfüllen von Computerformularen für den Euro-CV scheitert. Gemeinsam mit ihm lächelt man beim Lesen über die Absonderlichkeiten, die die moderne Welt hervorbringt.

"Sich zu erinnern ist schöner als zu leben, denke ich..."
(Seite 143)

Schlimm, dass er sich im Gefängnis geborgener und beschützter fühlte als draußen in der Welt der Suche und des Hastens. Eigentlich hätte Ninetto mit seinem forschen und anpackenden Wesen das Leben bei den Hörnern packen und viel erreichen können, doch die Tristheit der Fabrikarbeit, seine Schwermut und sein Bruch mit der Familie durch seine Eifersucht bremsen ihn und lassen ihn schließlich hinter dem Leben und dem Glück zurück. Er passt nicht mehr ins Schema, hat das Leben satt. Erst als er es schafft, zu vertrauen und um Verzeihung zu bitten statt heimlich zu beobachten und sich zurückzuziehen ergibt sich für ihn ein Glücksmoment, der am Ende des Buches Hoffnung gibt.

"Es trennt uns, wenn Dinge passieren, die größer sind als wir, so ist das nun mal." (Seite 257)

Marco Balzano ist ein Autor der leisen Töne. Diese über mehrere Generationen erzählte Familiengeschichte berührt, macht traurig und hat gleichzeitig viel Witz und Weisheit in sich. Die Lebensgeschichte von Ninetto ist zugleich ein Teil der Geschichte Italiens des 20. Jahrhunderts mit der in den 1960er Jahren dort üblichen Kinderflucht. Und man stellt sich am Ende die Frage, inwieweit man gegenüber den Lebensumständen machtlos ist oder ob man das Glück des Lebens selbst in die Hand nehmen kann.
Völlig zu recht würde der Roman ausgezeichnet mit dem regionalen Literaturpreis "Premio Campiello".



Marco Balzano
Das Leben wartet nicht
Roman gebunden, 304 Seiten
erschienen im Februar 2017 im Diogenes-Verlag
ISBN 9783257069839
Preis 22 €

9. April 2017

Fast ein Kunstkrimi




Schicht für Schicht, wie bei einem Gemälde, baut der Autor des Buches "Das letzte Bild der Sara de Vos" seine Geschichte auf. Oft hat man das angenehme Gefühl, dass jedes Wort sitzt, wie die perfekten Pinselstriche bei einem Meisterwerk. Man merkt nichts davon, dass es sich um das erste Buch von Dominic Smith handelt, so sprachlich ausgefeilt wie er schreibt und so leicht, wie er dem Leser die ungewöhnlichen Verwicklungen ohne Hast nahebringt.

Die Romanfigur, die Malerin des Goldenen Zeitalters der Niederlande Sara de Vos hat reale Vorbilder, denen das Buch huldigt. Zwei Frauen (Sara an Baalbergen und Judith Leyster), die als Malerinnen versuchten, in der von Männern beherrschten Kunstszene des 17. Jahrhunderts Fuß zu fassen, sind die Künstlerinnen, auf deren Leben es im Buch Hinweise durch die fiktive Sara gibt. Sara de Vos muss sich nach dem frühen Pesttod ihrer Tochter allein durchs Leben kämpfen und schafft dies trotz vieler Widrigkeiten durch ihre Malerei.
Allerdings spielt das Buch nicht ausschließlich in der Vergangenheit. In der Gegenwart begegnet man der Kunstprofessorin Ellie, sie ist Spezialistin für das Goldene Zeitalter und in den 1950er Jahren  in New York und im Jahr 2000 in Sydney eng mit dem Gemälde "Am Saum eines Waldes" von Sara de Vos verbunden. In New York wurde das jahrhundertelang in Familienbesitz der Familie de Groot befindliche Meisterwerk gestohlen und durch eine Fälschung ersetzt, in Sydney soll es mit Ellie als Kuratorin ausgestellt werden, wobei plötzlich zwei Gemälde auftauchen.
Anders als erwartet und sehr passend findet die Geschichte sowohl in der Vergangenheit als auch in der Gegenwart zu einem schlüssigen Ende.

Es ist ein sprachlich ausgefeiltes, ruhig erzähltes Buch, das durch die Geschichte selbst viel Spannung erzeugt und das ich in sehr kurzer Zeit gelesen habe. Die Figuren der Malerin Sara im Goldenen Zeitalter und der Kunstkennerin Ellie in der Gegenwart sind mir beim Lesen sehr nahe und greifbar gewesen. Beide verbindet der Kampf, sich in der Kunstszene behaupten zu müssen, und das tun sie beide mit großer Bewusstheit über ihr Können, was letztlich mehr oder weniger erfolgreich ist. Das vermag der Autor beim Lesen zu vermitteln, ohne feministisch-kämpferisch den Zeigefinger zu erheben.
In jedem Zeitabschnitt, den der Roman streift, wird man als Leser an Nebenschauplätze entführt, die alles sehr rund machen. Im 17.Jahrhundert ist dies zum Beispiel ein Gefühl für die Lebensart in Amsterdam und auf den Landsitzen, die alles beherrschenden Gilden und ihre Macht. In den 50er Jahren in New York treibt man sich zusammen mit Ellie unter anderem in kleinen Jazzclubs herum. Nebenbei erfährt man von der Pingeligkeit der Arbeit eines Kunstfälschers und von den modernen Methoden zur Aufdeckung von Fälschungen, alles sehr passend mit der Geschichte verwoben.

Fazit
Der Roman hat für mich alles, was ein wirklich gutes Buch braucht und erzählt noch dazu eine sehr ungewöhnliche Geschichte auf ruhige, unvorhersehbare Art. Unbedingt lesen, es lohnt sich wirklich.



Dominic Smith
Das letzte Bild der Sara de Vos
Roman, gebunden, 352 Seiten
Verlag: Ullstein
ISBN 978-3550081873
20,00 €