4. August 2020

Kostbares Kleinod




Es ist der letzte Roman, den der amerikanische Autor Kent Haruf kurz vor seinem Tod schrieb. Der Roman „Kostbare Tage“ ist ein Buch über das Sterben, angesiedelt in der fiktiven Kleinstadt Holt in Colorado, das sich unaufgeregt auf das Wesentliche konzentriert. Der Rückblick des sterbenden Dad auf sein Leben ist genaue Beobachtung, tröstliches Lesen und mit seinen starken Frauengestalten und rührenden Szenen eine äußerst lohnende Lektüre.

Dad Lewis bekommt am Anfang des Sommers die vernichtende Diagnose, dass er nur noch wenige Wochen zu leben hat. Krebs zwingt ihn, der sein ganzes Leben als Eisenwarenhändler in der Kleinstadt Holt verbrachte, in die Knie. Er erinnert sich an Vergangenes, an seinen verlorenen Sohn Frank, der die Familie wegen eines Streits mit Dad verließ und nie zurück kehrte, an einen Angestellten, der ihn betrog und sich später das Leben nahm. Liebevoll beim Sterben begleitet wird er von seiner Ehefrau und von seiner Tochter, inzwischen auch fast fünfzigjährig. Unterstützung findet die Familie bei einer Nachbarin und bei zwei Freundinnen, die ebenso Mutter und Tochter sind.
Gegenüber zieht mit der Enkeltochter der Nachbarin junges Leben ein, Alice ist mit ihrer sprühenden Jugend der Gegenpol für das Ende von Dad. Während er dahinsiecht umschwirren die Frauen die kleine Alice, die Radfahren lernt und zusammen mit den kinderlosen Frauen neue Kleider kauft oder Sommerpicknick veranstaltet.

Völlig unaufgeregt, mit sehr genauem Blick erzählt Kent Haruf die Geschichte von Dad. Es ist ein Abgesang auf sein enges Leben in Holt, das durch die Menschen Weite gewinnt und wichtig erscheint. Voller Offenheit agieren die Frauen, die Dad umsorgen, den Brummbären und Starrkopf, der seinem Sohn Frank die Homosexualität auch jetzt nicht nachsehen kann.
Trivialitäten und existenzielle Dinge treffen aufeinander, wenn das Leben schwindet, und Kent Haruf hatte die Gabe, das sehr genau und völlig ohne Pathos einzufangen. Er schreibt bravourös über die scheinbaren Belanglosigkeiten des Lebens, gemächlich und manchmal scharf an kitschigen Tränen vorbei, dafür mit umso mehr Zärtlichkeit für Alltägliches mit kleinen Glücksmomenten.
Wie ein breiter Strom, der ganz ruhig fließt, liest sich sein Buch, und nur ganz wenige Stellen verursachen Unruhe im gemütlichen und äußerst angenehmen Lesesog. 
Manche Szenen stehen dazu im scharfen Kontrast und stecken voller pralles Leben, wenn zum Beispiel vier Frauen in der flirrenden Sommerhitze zusammen mit der kleinen Alice nach einem Sommerpicknick nackt im Kuhtrog baden und sich danach, nur von Rindviechern beobachtet, in der Sonne trocknen lassen. 

Kent Haruf hat sich auf bemerkenswerte Weise in das Ende und das Zerrinnen eines Lebens hineinversetzt, äußerst detailgenau und unaufgeregt. Er hat ein Jahr vor seinem Tod ein Kleinod geschaffen, das tröstlich am Lebensende und lebensbejahend zugleich ist, voller schöner, trauriger und schmerzlicher Momente zum Sterben in der Sommerhitze Colorados.






Kent Haruf „Kostbare Tage“
Roman gebunden, 352 Seiten
Verlag: Diogenes
Erschienen am 27. Mai 2020
ISBN 968-3257071252
Preis 24€

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