11. Juni 2020

Fiktives Memoir





In ihrem fiktiven Memoir „Die Schauspielerin“ begibt sich eine Tochter auf die Spuren ihrer Mutter, versucht hinter die Fassade zu sehen. Die preisgekrönte irische Autorin Anne Enright hat dafür auch die Figur der Tochter erfunden, die Schriftstellerin ist, ebenso alle Schlüsselfiguren ihres sehr lesenswerten Romans.

Auch wenn alles Fiktion ist erzählt Anne Enright in ihrer Geschichte tiefsinnige Wahrheiten anhand einer Mutter-Tochter-Beziehung, schafft berührende Momente und blickt sehr präzise und gekonnt hinter sorgsam aufgebaute und ständig vom Einsturz gefährdete immer wieder geflickte Fassaden. Es macht nichts, dass die Personen nie wirklich gelebt haben, denn die Familiengeschichte, die sich im Buch abspult, ist voller Leben und Detailreichtum, der liebevolle und sorgsame Umgang der Autorin mit ihren Figuren lassen beim Lesen schnell vergessen, dass alle nie lebten.

In den 1970er Jahren in Dublin wird man direkt ins rückblickende Geschehen gestellt, eine Party bei der gefeierten und mittlerweile alternden Schauspielerin Katherine O‘Dell zum 21. Geburtstag ihrer Tochter Norah. Beide Frauen befinden sich an einer Schwelle, was sich aus der Stimmung schnell herausspülen läßt, die aber nicht klar definiert sondern zunächst diffus umrissen wird. Der Dunstkreis von Katherine umwanderte sie, und auch Norah bekommt etwas vom verblassenden Glanz ab, so wie ihr ganzes bisheriges Leben.
Norah kennt ihren Vater nicht, und in Rückblicken aus der heutigen Zeit, nach dem Tod ihrer Mutter, begibt sie sich auf die Suche nach ihm und vor allem nach dem Wesen von Katherine, die mit zunehmendem Alter an Bekanntheit und Beliebtheit verlor und sich mit Alkohol und Tabletten betäubte, bevor sie schließlich verrückt wurde und einem Filmproduzenten in den Fuß schoß.

Es ist die Überfülle an Details, die vielen Kleinigkeiten, mäandernd erzählt, die zärtlichen Rückblicke auf Katherines Leben im Familienkosmos, die das Buch zu etwas Besonderem machen. Die Geschichte hat es in sich, auch schon vor dem Absturz aus den luftigen Höhen Hollywoods mit Stolperstrecken an Englischen und Französischen Theatern bis zur letzten rasanten Talfahrt in die Psychiatrie lüftet Norah gut gehütete Geheimnisse und blickt tief in die verwundete Seele ihrer Mutter, letztlich immer verzeihend. Die Symbiose der beiden Frauen wird getragen von vielen männlichen Figuren, beginnend beim Großvater FitzMaurice, der als Schauspieler zunächst mit einer irischen Wanderbühne umherzog und später im Fernsehen eine gewisse Berühmtheit erlangte, über viele Künstlerkollegen und Bewunderer bis hin zum Mythos von Norahs Vater. Die Parties in Katherines Haus in Dublin am Dartmouth Square zeugen vom Aufstieg und späteren Niedergang der Schauspielerin, den Norah beobachtet, Bewunderer und alte Freunde wenden sich beinahe immer mehr ab, im Hintergrund ein politisch zerrissenes Irland, dem Katherine, die Vorzeige-Irin mit englischen Wurzeln, ihren Tribut zollt.

Zwei Frauen, die einander brauchen, verletzen und sich lieben, die Tochter stets das Lebenslicht der Mutter und dennoch oft am Rande ihrer Welt allein gelassen, verletzt und verraten - die Fülle der Erinnerungen von Norah ist manchmal kaum zu fassen. Besonders wenn die Episoden scheinbar unverknüpft wie Gedankenfetzen in völlig anderem Zusammenhang auftauchen. Man muss das Puzzle beim Lesen geduldig selbst zusammen stecken, und am Ende fehlen dennoch ein paar Teile, wie im richtigen Leben. Mein einziger kleiner Kritikpunkt am Buch ist, dass in dem Gewimmel manches einfach untergeht und verlodert.

Das Buch „Die Schauspielerin“ von Anne Enright hat es auf die diesjährige Longlist für den „WOMEN’S PRIZE FOR FICTION 2020“ geschafft, völlig zu recht, wie ich finde.



Anne Enright „Die Schauspielerin“
aus dem Englischen von Eva Bonné
Roman gebunden, 304 Seiten
Erschienen im Penguin Verlag
Am 23. März 2020
ISBN 978-3328601340
Preis 22 €


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