27. August 2017

Schein und Sein




Was bringt ein Kindermädchen dazu, die ihr anvertrauten Kleinkinder einer jungen Pariser Familie zu ermorden und sich danach selbst zu richten? Dieser Frage folgt der Leser des spannenden Psychodramas „Dann schlaf auch du“ von Leïla Slimani, das völlig zu Recht im vergangenen Jahr mit dem Prix Concourt ausgezeichnet wurde.

Das junge Pariser Ehepaar Myriam und Paul Massé ist glücklich, als es die perfekte Kinderfrau, eine „Nounou“, für ihre beiden kleinen Kinder Mila und Adam einstellt. Myriam, die Anwältin, war nach der Geburt des zweiten Kindes unzufrieden mit ihrem Leben am Herd und kann wieder arbeiten, Paul muss bei nächtlichen Aufnahmen im Tonstudio keine Rücksicht auf die Familie nehmen. Alles wirkt perfekt, zumal Louise, die Nanny, wie eine Fee zusätzlich für penible Ordnung in der Wohnung und für lobenswert gutes Essen sorgt.

„Sie hat die stille Wohnung ganz in ihrer Gewalt, wie einen Feind, der um Gnade bittet.“

Louise hält alle Fäden in der Hand, macht sich unentbehrlich bei Eltern und Kindern, versucht um jeden Preis zu gefallen. Ahnungslos vertrauen Paul und Myriam ihr, nehmen sie im Sommer mit in den Urlaub, unterwerfen sich ihrem Regime ohne Rebellion, auch wenn ihre Erziehungsmethoden angestaubt und ihre prinzipielle Einstellung zu den Dingen pingelig ist und nicht der gewohnten Lebensweise des Paares entspricht. 
Niemandem fällt auf, dass Louise am Abgrund steht und mit ihrem oft zwanghaften Verhalten psychopathische Züge aufweist.

„Sie beobachtet die Kinder, wie man einen frisch geangelten Fisch mit blutigen Kiemen betrachtet, dessen Körper im Todeskampf zuckt.“

Getrieben vom Wunsch, zur Familie zu gehören, nicht wieder in ihre Einsamkeit zurückkehren zu müssen, wenn die beiden ihr anvertrauten Kinder zu groß für eine Nounou sind und in den Kindergarten kommen, tut Louise alles dafür, um ihren Platz in der Familie zu bewahren. Doch ihre Fassade bröckelt, ein paar Fäden lösen sich aus dem von ihr gesponnenen Netz und Löcher werden sichtbar, die auch Myriam und Paul nicht mehr übersehen können. Dennoch trennt sich das Paar nicht von der Nanny, zu wichtig ist sie dafür geworden, dass beide ihre Karriere verfolgen und das Leben uneingeschränkt leben können.

„Ihr Herz ist hart geworden. Die Jahre haben es mit einer dicken, kalten Kruste überzogen und sie hört es kaum noch schlagen.“

Die verletzliche und sensible Louise spürt, dass sie immer mehr ausgeschlossen wird, und so entwickelt sich das alltägliche Zusammenleben der Familie in der Pariser Wohnung im 10. Arrondissement zur Tragödie, mit der das Buch seinen Anfang nahm und sein Ende findet.

„Louise … erinnert an diese scheinheiligen Mütter, die im Märchen ihre Kinder im finsteren Wald aussetzen.“

Die Schriftstellerin schafft eine ganz besondere Atmosphäre, in der man sich beim Lesen bewegt. Wie heiße und kalte Güsse wirken ihre knappen, reportagenhaften, unterkühlten Sätze, die unterschwellig die Gefahr in der schönen sauberen heilen Welt spüren lassen. Kleinigkeiten sind es, die sowohl das Paar Myriam und Paul als auch den Leser zögern und zweifeln lassen, dass hier nicht wirklich alles in Ordnung ist. Unmittelbar nach einem Riss im perfekten Bild schließt dieser sich wieder und man fragt sich, was eigentlich gewesen ist. Dadurch entsteht eine sehr diffizile Spannung, die nicht richtig greifbar ist, aber dennoch treibend genug, um einfach weiterlesen zu müssen.
Der Ausgang der Geschichte ist vom ersten Satz an klar. Die Frage des Buches dreht sich um das Warum, und das ist sehr gekonnt und meisterhaft umgesetzt.

„Sie hat nur einen Wunsch: Teil ihres Lebens zu sein, ihren Platz zu finden, sich dort einzunisten, eine Nische zu graben, einen Bau, ein warmes Eckchen.“

Myriam steht stellvertretend für junge Frauen, die versuchen Kinder und Beruf unter einen Hut zu bekommen, ohne dabei auf Unterstützung ihres Mannes zählen zu können. Kinder aufwachsen zu sehen ist großartig, aber ebenso unbefriedigend auf Dauer, wenn eine Frau intellektuelle Ansprüche an sich selbst hat. Bei der Auswahl des Kindermädchens blitzt außerdem Alltagsrassismus durch, obwohl Myriam selbst Maghreberin und Paul weltoffen erzogen ist. Die Wahl fällt auf die knapp 50jährige Französin Louise, und wenn auch mit schlechtem Gewissen hatte das Paar junge Frauen mit Schleier oder Kindern oder solche ohne Papiere ausgeschlossen.
Doch von der Autorin wird dazu an keiner Stelle gewertet oder verurteilt.


Die Autorin Leïla Slimani wurde 1981 in Rabat geboren und wuchs in Marokko auf. Sie ging 1999 nach Frankreich, studierte Medien und Politik in Paris und arbeitet seit 2008 als Journalistin. „Dann schlaf auch du“ ist ihr zweiter Roman, ihr ebenfalls preisgekröntes literarisches Debüt wird derzeit verfilmt.


Dann schlaf auch Du
Leïla Slimani
Roman, gebunden, 224 Seiten
Luchterhand Literaturverlag
21. August 2017
ISBN 978-3630875545
20 €

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