10. April 2017

Weise, berührend und bedrückend





Unaufgeregt erzählt der preisgekrönte Roman "Das Leben wartet nicht" von Marco Balzano von der Flucht des Kindes Ninetto aus dem bitterarmen italienischen Süden nach Mailand in den 1950er Jahren und schlägt damit einen überaus aktuellen Bogen zur heutigen Flüchtlingssituation.
Die Geschichte selbst könnte eine moderne Oliver-Twist-Variation sein, die sprachlich unglaublich nah am Geschehen geschrieben ist und den Leser dabei fast einbezieht.

Ninetto ist neun, als er sich nur in Begleitung eines Familienfreundes aus dem sizilianischen Dorf San Cono in das Dickicht der norditalienischen Stadt Mailand aufmacht, um für seinen Lebensunterhalt sorgen zu können. Die Bilder der Armut seiner lieblosen Kindheit in Sizilien, das Leben in engen Wohnblocks bei seiner Ankunft in Mailand, die ihn an einen Bienenstock erinnern, seine große Liebe zu dem Mädchen Maddalena aus der Backfabrik, die er mit nur 15 Jahren heiratet und die immer die Liebe seines Lebens ist, erzählt Ninè rückblickend.

"Das wahre Leben war für mich meine armselige Kindheit, die Emigration nach Mailand und das Überleben in diesen schwierigen Jahren. Mit dem Eintritt in die Fabrik hatte ich zwar ein geregeltes Einkommen, aber ich bin in einen dunklen Tunnel geraten."
(Seite 217)

Ninè, der in jungen Jahren dem Glück und dem Leben nachjagte, hat das Leben im Prinzip verpasst. Nach seiner Ankunft in Mailand aus der sizilianischen Armut, beschimpft als Hungerleider oder "Napulì" findet er tatsächlich Arbeit, kann dem Bienenstock entkommen und lernt seine Liebste kennen. Doch dann zerrinnt ihm das Glück wieder zwischen den Fingern bei trister Fabrikarbeit bei Alfa Romeo und er landet wegen eines schlimmen Fehlers letztlich für 10 Jahre im Gefängnis. Fünfzig Jahre später blickt er zurück und nach vorn, sieht, dass sich für sein Glück nichts verändert hat und das Leben ohne ihn weiterging und weitergeht. Er lebt immer noch in einer Mietskaserne in Mailand, allerdings inzwischen umgeben von anderen Gesichtern der Flucht. Nur durch seine kleine Enkelin Lisa könnte er etwas Glück finden, doch der Weg für ihn dorthin ist weit und steinig.

"...die Nähe zwischen uns war verloren, und das Leben drängte sie weiter."
(Seite 243)

Völlig unverblümt führt Ninetto als Ich-Erzähler durch die verschiedenen Zeitebenen der Geschichte, die mit seiner Entlassung aus dem Gefängnis beginnt. Er lässt seine Gedanken laufen, wodurch viele Brüche und Sprünge entstehen, die seine Erzählung sehr lebendig und authentisch wirken lassen. Er bezieht den Leser dadurch ein und man fühlt sich von ihm mitgenommen.

"Man kann nicht auf jeden Zug aufspringen, einige muss man verpassen, andere fahren lassen und sich damit abfinden."
(Seite 142)

Auf der Jagd nach dem Leben und auf der Flucht vor der Melancholie und Depression blitzt viel Witz durch die einzelnen Passagen, der nie in Zynismus mündet. Ninè kommt mit den neuen Anforderungen den Lebens nach seinem Gefängnisaufenthalt nicht gut zurecht, er ist ein Aussortierter, der auf der Suche nach Arbeit bereits am Ausfüllen von Computerformularen für den Euro-CV scheitert. Gemeinsam mit ihm lächelt man beim Lesen über die Absonderlichkeiten, die die moderne Welt hervorbringt.

"Sich zu erinnern ist schöner als zu leben, denke ich..."
(Seite 143)

Schlimm, dass er sich im Gefängnis geborgener und beschützter fühlte als draußen in der Welt der Suche und des Hastens. Eigentlich hätte Ninetto mit seinem forschen und anpackenden Wesen das Leben bei den Hörnern packen und viel erreichen können, doch die Tristheit der Fabrikarbeit, seine Schwermut und sein Bruch mit der Familie durch seine Eifersucht bremsen ihn und lassen ihn schließlich hinter dem Leben und dem Glück zurück. Er passt nicht mehr ins Schema, hat das Leben satt. Erst als er es schafft, zu vertrauen und um Verzeihung zu bitten statt heimlich zu beobachten und sich zurückzuziehen ergibt sich für ihn ein Glücksmoment, der am Ende des Buches Hoffnung gibt.

"Es trennt uns, wenn Dinge passieren, die größer sind als wir, so ist das nun mal." (Seite 257)

Marco Balzano ist ein Autor der leisen Töne. Diese über mehrere Generationen erzählte Familiengeschichte berührt, macht traurig und hat gleichzeitig viel Witz und Weisheit in sich. Die Lebensgeschichte von Ninetto ist zugleich ein Teil der Geschichte Italiens des 20. Jahrhunderts mit der in den 1960er Jahren dort üblichen Kinderflucht. Und man stellt sich am Ende die Frage, inwieweit man gegenüber den Lebensumständen machtlos ist oder ob man das Glück des Lebens selbst in die Hand nehmen kann.
Völlig zu recht würde der Roman ausgezeichnet mit dem regionalen Literaturpreis "Premio Campiello".



Marco Balzano
Das Leben wartet nicht
Roman gebunden, 304 Seiten
erschienen im Februar 2017 im Diogenes-Verlag
ISBN 9783257069839
Preis 22 €

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