15. Mai 2018

Erinnerungen bewahren





Der Roman „Idaho“ polarisiert, man schwankt zwischen der Beurteilung des Textes als absolut geniale Darlegung von Veränderungen und ihren Auslösern und einem sich verzettelnden, unausgereiften und enttäuschend unfertigen Buch. Es kommt auf den Blickwinkel an, und wer es schafft, sich vom irreleitenden Klappentext zu lösen, der entscheidet sich vielleicht wie ich für ersteres, nämlich ein geniales Debüt, das um Kreuzwege im Leben kreist, mit Erinnerungen spielt und dem Leser Ursachen und Auswirkungen auf ungewöhnliche und sehr persönliche Weise erschließt.
Genau das war für mich der Knackpunkt beim Lesen, und glücklicherweise hatte ich es schnell geschafft, den Klappentext auszublenden und das Buch als das zu sehen, was es ist, ohne die Erwartung, einen Thriller zu lesen.

Der Roman dreht sich um das Leben von Wade, seinen Frauen und seiner Familie, um das Verwischen seiner Erinnerungen infolge von Demenz und um die fremde Sichtweise auf Ereignisse, die sein Leben und das seines Umfeldes gravierend verändern. Man blickt durch die Augen von Ann, der zweiten Frau von Wade, auf Ereignisse, die Ann selbst nie erlebte, sondern die sie sich aus anderen Quellen zusammenreimt. Anfangs liest sich das alles sehr verwirrend, was für mich gewollt und großartig gemacht erscheint. Man bekommt beim Lesen einen glaubhaften Eindruck von der Hilflosigkeit, mit der Ann versucht, die schwindenden Erinnerungen ihres Liebsten festzuhalten. Allerdings nimmt die Autorin den Leser dabei nicht an der Hand, sondern lässt ihn selbst voran stolpern, schafft unglaubliche Spannung und große Verwirrung durch die Andeutung kleiner Lichtblitze auf Ereignisse. Dabei ist sehr schnell unterschwellig spürbar, dass es keine Aufklärung im Hinblick auf den Wahrheitsgehalt geben wird, denn das ist eben nicht Thema des Romans. 
Ein zweiter Handlungsstrang begleitet Jenny, Wades erste Frau, und ihre Zellengenossin Elisabeth in der Haftanstalt. Jenny war schuldig gesprochen worden, ihre und Wades kleine Tochter May ermordet zu haben, wozu sie sich zuvor bekannt hatte. Jenny ist nach jahrelanger Haft körperlich und geistig völlig am Ende. Extrem beklemmend, mit psychologisch wohlplazierten Geschossen, ohne Rückzugsort für den Leser ist die Passage anfangs erzählt, wie sich die beiden Frauen nach Jennys fünfjährigen Einzelhaft und nach Elisabeths Terror an ihrer letzten Zellengenossin annähern und beginnen, aufeinander aufzupassen.

Rückblickend wird das Leben von Jenny und Wade, das die beiden vor dem alles verändernden Tod der kleinen May führten, beleuchtet, und man ist durch den Klappentext leider ein bisschen darauf fokussiert zu hoffen, dass es Aufklärung zum Tathergang selbst gibt. Doch genau das ist nebensächlich, denn der Tod von May wird neben anderen Ereignissen als Auslöser für tiefgreifende Veränderungen betrachtet und von der Autorin auch so behandelt. Es ist nur einer von vielen Auslösern, die Wendepunkte sind, und wer bereit ist, das so zu akzeptieren, kann ein wirklich tiefgreifendes und beeindruckendes Buch über Gedächtnisverlust, der Wahrhaftigkeit von Erinnerungen und den Mühen im Umgang mit der eigenen und einer fremden Vergangenheit, verpackt in eine interessante Familiengeschichte erleben.
Die Autorin transportiert auf diese Art ganz nebenbei für mich eindrucksvoll und sehr gekonnt das mir bisher fremde Krankheitsbild der Demenz und ihrer Folgen.


Ich kann das Buch sehr und besonders nachdrücklich empfehlen als anspruchsvolle und manchmal sehr fordernde Lektüre, allerdings sollte man den Klappentext vorher besser nicht lesen, denn durch die absolut nicht treffende Sicht werden nicht erfüllbare Erwartungen geweckt und dem Leser ein völlig falsches Bild vom Buch suggeriert, leider.




Emily Ruskovich „Idaho“
Roman gebunden, 384 Seiten
Verlag Hanser Berlin
Februar 2018
ISBN 978-3446258532
24,00 €

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