24. September 2020

Historisches Kleinod

 



Sandra Bröckel hat mit ihrem Roman „Das hungrige Krokodil“ ein historisches Kleinod geschaffen, das sich auf berührende Weise dem Prager Frühling annähert und völlig kitschfrei auf literarischem Niveau die Lebensgeschichte von Pavel Vodák erzählt. Es ist eine wahre Geschichte, was das Buch umso beachtenswerter macht.


August 1968 rollen Panzer der damaligen Bruderländer in das sozialistische Prag, um die Reform zu zerschlagen. Das bedeutet das Ende für den Prager Frühling und damit auch für den tschechischen Arzt Pavel Vodák, der zur Gruppe der oppositionellen Reformsozialisten in Prag gehört. Auch wenn er nicht das berühmte Manifest der 2000 Worte unterzeichnete war er Teilnehmer der konspirativen Treffen und hat viele Schriftstücke verfasst.

Die Panzer zerstören alle Hoffnungen auf Veränderung und schleudern Pavel, seine Familie und die Tschechoslowakei zurück in eine finstere und misstrauische sozialistische Ära, die für den Chef der Prager Kinderpsychiatrie äußerst gefährlich wird. Aus Sorge um sich und seine Familie wagt Pavel die Flucht über Jugoslawien, mit seiner Frau Vera, seiner Tochter Pavli und seiner Schwiegermutter.


Eine Arzttasche gefüllt mit Dokumenten sind der Schatz, den die Autorin Sandra Bröckel für ihr Buch als Basis benutzt hat. Die Tasche voller Lebenserinnerungen des Prager Arztes Pavel Vodák bekam sie von ihrer Freundin Paula alias Pavli, der Tochter von Pavel. Das hungrige Krokodil als gefährliches Symbol, das man nicht füttern darf und das nur scheinbar träge schläft, stammt aus den Aufzeichnungen Pavels und wird im Roman als kraftvolles Bild verwendet.


Schon als Kind erlebt Pavel die Schrecken der Diktatur der Nazizeit. Später unmittelbar nach dem Krieg, als Student der Medizin in Prag, arbeitet er als ärztlicher Helfer in Theresienstadt, dem ehemaligen Konzentrationslager nahe Prag, wo er seine Frau Vera kennenlernt. Das Schwert kehrt sich nun um für den jungen deutschstämmigen Pavel, der noch völlig paralysiert von den Schrecken, wozu Menschen fähig sein können, in Prag erleben muss, wie Tschechen Deutsche umbringen. Als mit den Sowjets kommen muss Pavel sich vor dem Russischen Bären und seinem Uniformismus in Acht nehmen, bis unter Alexander Dubček im Frühling 1968 vorsichtige Reformen möglich zu sein scheinen. Pavel schließt sich begeistert der Gruppe Oppositioneller in Prag an und unterstützt durch seine Arbeit das „Manifest der 2000 Worte“, unter den ängstlich-besorgten Blicken seiner Frau Vera, die unter den Russen nicht weiter Medizin studieren durfte.

Nur zufällig gehört Pavel nicht zu den Unterzeichnern des Manifests, und er wird in den nachfolgenden Jahren vielfach von der nunmehr strengeren Diktatur bedroht und reglementiert. Schließlich sieht er in der Flucht die einzige Möglichkeit, der drohenden Verhaftung zu entkommen und seiner Tochter Pavli ein Studium zu ermöglichen.


Das Verlassen der Heimat als einzigen Weg, ein freies Leben ohne Angst zu führen, ist ein zeitlos aktuelles Thema. Leise und sehr eindringlich erzählt Sandra Bröckel die Geschichte Pavel Vodáks und seiner Familie, die Geschichte des Prager Frühlings und dessen Zerschlagung. Spannend und dramatisch, gut lesbar jedoch völlig ohne Kitsch und Rührseligkeit konnte ich das Buch kaum weglegen. Die Geschichte macht nachdenklich und regt zu weiterer Recherche an, Das Buch damit ist ein wertvolles Steinchen im historischen Puzzle des vergangenen Jahrhunderts, das einen sehr persönlichen und authentischen Blick auf die Entwicklung der Tschechoslowakei vom zweiten Weltkrieg bis zur Öffnung der Grenze 1989 wirft und dabei historische Geschehnisse wie die Entstalinisierung mit der Sprengung des monströsen Stalinmonuments in Prag oder die Selbstverbrennung des Studenten Jan Perlach am Ende des Prager Frühlings einbezieht. Lebensechte Charaktere geben der Geschichte großes Gewicht, die persönliche Sicht Pavel Vodáks auf die Ereignisse funktionieren für dieses Buch ebenso hervorragend wie das Bild des hungrigen Krokodils, das sich wie ein Faden als Ausdruck für schlummernde immer anwesende Gefahr durch den Roman zieht.


Ich habe das Buch sehr gerne gelesen, und von mir gibt es großen Applaus für die spannende, authentische, interessante, komplexe tatsachenbezogenen und hervorragend recherchierte Umsetzung der Thematik, die es schafft, sehr zu berühren ohne kitschig zu werden. Ich wünsche dem Buch viele Leser und vergebe begeistert volle fünf Lesesterne.


Danke an den Pendragon-Verlag für die Möglichkeit, an einer Leserunde mit der Autorin teilzunehmen, das war für mich ein äußerst erhellendes und sehr bereicherndes Erlebnis.







Das hungrige Krokodil

Roman von Sandra Bröckel

Klappbroschur, 320 Seiten

Erschienen im März 2018

ISBN 978-3865326089

Preis 17 €


Melancholie und Komik

 



Lapidar geschrieben, witzig und manchmal sogar klamaukhaft, dennoch voller Melancholie und Ernsthaftigkeit erzählt Jean-Paul Dubois die Geschichte von Paul Christian Frédéric Hansen in seinem preisgekröntem Roman „Jeder von uns bewohnt die Welt auf seine Weise“.


Der Erzähler Paul, Sohn eines dänischen Priesters und einer französischen Kinobetreiberin, sitzt im Gefängnis und berichtet von seinem bisherigem Leben und vom Leben jetzt im Gefängnis. Der Zellengenosse ist ein Hell‘s Angel, dessen Angst vor dem Haareschneiden ebenso wie sein allabendliches Klogang-Ritual Paul Hansen unfreiwillig miterleben muss. Der Roman setzt im Winter 2009 ein und spult rückblickend Pauls Leben seit seiner Kindheit in Toulouse ab. Als Sohn eines konservativen Vaters und einer links-anarchistischen Mutter wuchs Paul zwischen Kirchensonntagen mit dem Vater und anarchistischem Kino der Mutter auf. Die Ehe der Eltern zerbricht letztlich, als Pauls lebensfrohe Mutter einen pornografischen Film ins Programm nimmt, ohne Rücksicht auf die Diskreditierung des Priesteramts ihres Ehemannes. Mit dem Weggang des Vaters nach Kanada ändert sich auch Pauls Leben. Er folgt ihm in das Asbestverseuchte Thretford Mines, einer von Tagebaulöchern umgebenen Stadt in der Provinz Québec. 

In Kanada tritt Paul später seine Stelle als Wohnanlagenverwalter an und lernt seine große Liebe kennen, die er 11 Jahr später auf tragische Weise verliert. Sein Job als „Deux ex Machina“ wird ihm letztlich zum Verhängnis und führt zum Gefängnisaufenthalt.

Im Gefängnis erzählend, umgeben von seinen drei Toten, läßt Paul bei seinen Erinnerungen den Leser teilhaben an einem von Verlusten geprägtem Leben. Beginnend mit dem Tod der Großeltern 1958 bei einem Autounfall zieht sich das Unglück durchs Pauls Leben wie ein roter Faden. Gefolgt von der Trennung der Eltern 1975, nachdem der gesellschaftliche Wandel die Familie zersplitterte, und dem Absturz und dem Tod seines Vaters bis zum Tod seiner Frau, die seinem Leben Halt und Sinn gab, zeichnet der Autor ein tragisches Lebensbild, das ohne die Bodenständigkeit und die genaue liebevoll-verzeihende Betrachtung der Figuren mit all ihren Fehlern fast ein Zuviel an Melodramatik hätte. 


Dubois erzählt Pauls Geschichte ohne Eile, mit ständigem Wechsel zwischen Gefängnisalltag, der manchmal erstaunlich derb-humoristisch, manchmal sanft und voller Melancholie und Trauer getragen ist, und den Rückblenden mit Blick auf ein Leben, das trotz allen Schmerzes auch Aufbruchstimmung, Harmonie und Liebe beinhaltet. 

Im Hintergrund wird Pauls Geschichte untermalt von einem Gesellschaftsportrait verschiedener Epochen des vergangenen Jahrhunderts. Angetippt werden Umbrüche mit revolutionärer Grundstimmung Ende def 1960er Jahre, Rohstoffraubbau ohne ökologischen und humanistischen Blick bis in die 1980er Jahre und ein unmenschlicher und kalter Start ins neuen Jahrtausend.


Ich habe den mit dem Prix Concourt ausgezeichneten Roman sehr gerne gelesen. Sprachlich grandios und auf brillante Weise manchmal am kleinen „Zuviel“ vorbei geschlittert erzählt Jean-Paul Dubois eine Geschichte, in der sich Melancholie und Komik die Hand geben, nie rührselig und mit großer Liebe zu seinen Charakteren, deren große und kleine Fehler lebensecht zum Straucheln führen und die dennoch Größe haben dürfen.





Jean-Paul Dubois

Jeder von uns bewohnt die Welt auf seine Weise

Roman, gebunden 256 Seiten

Erschienen bei dtv 

am 24. Juli 2020

ISBN 978-3423282406

Preis 22 €