24. Januar 2020

Die Stimme der Native Americans?





Eine Frau wird zum Katholischen Priester im fiktiven Reservat der Ojibwe „Little No Horse“, nachdem sie als junges Mädchen bei Nonnen untergekommen war, mit einem Deutschen Auswanderer in wilder Ehe gelebt hatte, einem Bankräuber und einer Flutkatastrophe knapp mit dem Leben entkam. Das genügt für ein Buch? Nicht bei Louise Erdrich, die in ihrem neuen Roman „Die Wunder von Little No Horse“ nicht nur das Leben von Agnes alias Father Damien Modeste aufrollt sondern gleichzeitig viele Lebens-Fäden von Menschen aus dem Reservat der Ojibwe spinnt, die mit dem Priester zusammenleben. Dabei mag es hilfreich sein, wenn man andere Werke der Autorin kennt, die seit fünf Jahrzehnte bereits Lebenslinien der Ojibwe kreuzen.

Anfangs gleichzeitig ernüchtert wegen des riesigen Umfanges an Personal, bei dem man ohne den vorangestellten Stammbaum der Ojibwe-Familien durchaus den Überblick verlieren könnte, und zugleich gefesselt vom subtilen Humor, mit dem die Autorin die Geschichte, wie Agnes zu Father Damien wurde, aufspult, hat mich das Buch im weiteren Verlauf immer mal wieder verloren, auch wenn es eine spannende Geschichte ist, die erzählt wird, über das gesamte 20. Jahrhundert hinweg mit dem weiblichen Priester im Reservat als Wegmarke. 
Es ist eine Sammlung unendlich vieler Blitzlichter und Momente aus dem Leben der Reservatsbewohner, die aneinandergereiht für den aufmerksamen Leser einen Einblick in das Leben der Native Americans, ihre Traditionen und Geisterwelt, ihren Verfall durch Krankheit, Alkohol und Verlust ihres Landes gewährt. Wertungsfrei erzählt Louise Erdrich vom Niedergang einst starker Familien, deren Frauen kraftvolle Jäger, anerkannt und bewundert von den Männern keine Unterdrückung kannten. Das Elend und die Armut brachten die weißen Einwanderer, in Form von Krankheiten und Landraub durch Betrug. Ohne dass dies ständig von der Autorin herausgestrichen wird wirkt dies als ein wichtiger Fakt im Roman. 
Eine löbliche Ausnahme ist Father Modeste, der sich wahrscheinlich weil er selbst mit seiner Identität hadert, sehr gut in die Ureinwohner hinein versetzen kann und einen erstaunlich gut funktionierenden Mischmasch aus Katholizismus und naturverbundener Weisheit gelten und leben läßt. Dass es ihm dabei selbst gut geht spürt man deutlich. 
Weniger deutlich ist für mich, wie es den übrigen Reservatsbewohnern dabei geht. Die Autorin prangert an, aber alle Figuren außer Father Modeste bleiben mir sehr fern. Ich lese für meinen Geschmack zu viel weiße sprachverliebte Passagen, und ich kann mir überhaupt nicht vorstellen, dass dies der Denk-und Redeweise der Native Americans entspricht. So bleiben die Charaktere auf großer Distanz, fast ein bisschen durch die westliche satirische Lupe von oben herab betrachtet, und das gefällt mir überhaupt nicht. Ich hätte mir hier mehr Verbundenheit und Nähe sehr gewünscht.
Auf der anderen Seite lese ich über einen sehr weichgezeichneten versöhnlichen Katholizismus, und auch das kann ich mir kaum vorstellen, dass es tatsächlich so abgelaufen ist. Selbst wenn es einzelne Priester gegeben hat, die Humanität und Menschenliebe vor den Glauben stellen, so war die Bekehrung zum katholischen Glauben doch viel gewalttätiger.
Gelobt wird die Verbundenheit der Autorin mit der indianischen Kultur, aufgewachsen in den 1960er Jahren in einem Reservat und mit späteren Literaturstudium am Dartmouth College ist Louise Erdrich sicherlich in zwei Kulturen zu Hause und erzählt mit großem Erfahrungsschatz vom Zusammenprall der Kultur der Ureinwohner und dem westlichen rationalem Denken, dem Konflikt zwischen Naturreligion und Katholizismus. Doch an keiner Stelle ist der Völkermord thematisiert, ihr Umgang mit dem Thema ist zwar kritisch aber dennoch versöhnlich, stellenweise sogar fast ein bisschen westlich-arrogant und herablassend.
Was habe ich also gelesen? Einen interessanten episodenhaft erzählten oft überraschenden und unterhaltsamen Roman mit für meinen Geschmack viel zu vielen Fäden und Personen, die sich immer wieder verlieren, und für mich zu sehr weichgezeichnet dort wo Konfrontation hätte sein sollen.




Louise Erdrich „Die Wunder von Little No Horse“
Roman gebunden, 509 Seiten
Erschienen im Aufbau Verlag
am 8. November 2019
ISBN 978-3351037864

Preis 24 €

Ein schnelles Buch für eine schnelle Welt?




Die Geschichte einer Welt, die kopfsteht und eine Verneigung vor Kafka wagt Ian McEwan in seiner Novelle „Die Kakerlake“, wobei die Geschichte des Ungeziefers Gregor Samsa nur der Aufhänger einer bösen Brexit-Satire ist.

Begriffe wie „Reversalismus“ und „Vordreher/Rückdreher“ als einfache politische Kakerlakensprache funktionieren in McEwans Werk genauso wie das kakerlakenhafte Pheronon-Kollektivbewusstsein zur Gleichschaltung britischer Kabinettsmitglieder. 
Zu Beginn des Textes tauscht die Gemeinschaft der Kakerlaken den britischen Premier unbemerkt durch einen der ihren aus, in kurzen äußerst satirischen Passagen verfolgt man zunächst die Menschwerdung der Kakerlake zum britischen Premier Jim Sams, um dann staunend mitzuerleben, wie dieser den Willen des Volkes nach mehr Sicherheit und Abschottung entgegen aller üblichen Absprachen zwischen Regierung und Opposition trickreich umsetzt. Es ist eine kopfstehende Wirtschaft, in der man am Monatsende dafür bezahlen muss, arbeiten zu gehen, und das Verschleudern von Geld belohnt wird, ja sogar notwendig ist.

Eine Kakerlake in Menschengestalt an der Spitze der Britischen Regierung - was für eine grandiose Idee, absurd und satirisch von dem Schriftsteller, vor dem man sich wegen seiner vielen gelungenen Romane einfach nur verneigen kann. Dass McEwan ein Brexit-Gegner ist und das ihm zur Verfügung stehende Mittel der Kritik, das Schreiben, zeitnah und tagesaktuell ausnutzt, hätte hervorragend funktionieren können, wenn er seiner subtilen ironischen Art durchweg treu geblieben wäre. Auch die Kürze des Textes wäre nicht störend gewesen, aber im Verlauf der Handlung verliert sich McEwan, die Idee wirkt mit der Zeit „abgelutscht“ und massentauglich.
Die komplizierten Verstrickungen und Fäden, anfangs so geschickt gesponnen und mit dem klugen Witz erzählt, den ich bei McEwan schätze, verlieren sich, sprachlich flacht der Text ab, und es passiert auch nichts wirklich überraschendes mehr.

Dennoch habe ich das Buch gerne gelesen, denn es strotzt vor Widerstandsgeist, der sich zwar im zweiten Teil ein bisschen in Resignation zu wandeln scheint, so dass man sich am Ende traurig fragt, in welcher Zeit wir eigentlich leben, in der so etwas Verrücktes wie Reversalismus möglich sein könnte, in der Populismus Konflikte und Kriege heraufbeschwört und die Demokratie scheitert (zumindest in McEwans Text).

McEwan Fans dürften wie ich ein klein wenig enttäuscht sein. Zu schnell geschrieben, liest man in vielen Kritiken. Ich sehe es so, dass McEwan vielleicht ein einfaches Buch, für viele verständlich schrieb, und dabei sein subtiler Humor und seine ansonsten grandiosen Romankonstrukte ein bisschen auf der Strecke blieben.



Ian McEwan „Die Kakerlake“
aus dem Englischen von Bernhard Robben
Roman, gebunden, 112 Seiten
Erschienen im Diogenes-Verlag
am 27.November 2019
ISBN 978-3257071320

Preis 19 €


14. Januar 2020

Sperrige Beziehungsgeschichte




Matthijs Dien hat 1997 mit „Unter den Menschen“ eine sperrige ungewöhnliche Beziehungsgeschichte zweier Eigenbrötler vorgelegt, angesiedelt in der Einsamkeit der niederländischen Deiche wirkt der Roman noch schräger.

Man denkt sofort an „Bauer sucht Frau“ und andere Klischees, wenn man die Inhaltszusammenfassung liest, doch das macht gar nichts. Denn mit diesem Stück guter und sehr unterhaltsamer Literatur werden alles andere als Klischees bedient, im Gegenteil. Voller Spott und mit schöner Lakonischer Sprache erzählt beginnt zwar die Beziehung auch hier via Kontaktanzeige, aber die leisen einsamen Töne spielen eine mindestens genauso große Rolle für die Atmosphäre wie die existenziellen hemmungslosen Passagen.

Jan, der seit dem Unfalltod seiner Eltern allein auf dem Hof an der niederländischen Nordsee lebt, sehnt sich nach Gesellschaft, am liebsten die einer Frau. Wil antwortet auf seine Kontakt-Anzeige hin, doch sie sucht Ruhe vor dem Stadtleben und ihren vergangenen Enttäuschungen statt Liebe. Sie will unbedingt ans Meer. Die Beziehung ist alles andere als traute Zweisamkeit, Jan und Wil sind definitiv nicht füreinander geschaffen. Unausgesprochenes gepaart mit Erwartungen, alten und neuen Verletzungen, verschärft das Schweigen zwischen den beiden.

Die Geschichte steckt voller tragisch-komischer Passagen, manches überspannt, manches fast zum Weinen schön. Sprachlich knapp und klar wird der Plot und das herrschende Schweigen sehr gut unterstrichen. Stimmungsvoll bekommt auch die Küstenlandschaft ihren Platz, bildlich in ihrer Weite und Einsamkeit. Und die Langsamkeit, mit der sich das spröde sperrige Paar annähert, wie Existenzielles, Hemmungen und Verletzungen hochkommen, ist manchmal anrührend und oft einfach nur schön.



Matthijs Dien „Unter den Menschen“
Roman, gebunden, 192 Seiten
Erschienen im Mare Verlag 
am 12. Februar 2019
ISBN 978-3866482807

Preis 20 €


Korrektur der Geschichte





Anselm Oelze hat mit „Wallace“ ein scheinbar aus der Zeit gefallenes unterhaltsames und amüsantes Buch über den Naturforscher Alfred Russel Wallace und den Museumsnachtwächter Bromberg auf dessen Spuren vorgelegt.

Nach Alfred Russel Wallace ist eine Trennlinie der Arten im Malaiischen Archipel benannt. Er war ein Zeitgenosse von Charles Darwin und hat gleichzeitig mit dem weltbekannte Erfinder der Evolutionstheorie selbige ebenfalls entwickelt. Russel, britischer Zoologe, Botaniker, Artensammler und Reisender Naturforscher war mir bis zur Lektüre dieses Debütromans nicht bekannt.

Genau darum geht es in diesem philosophischen Abenteuerroman, dass die Forschungen von Wallace, die Charles Darwin erst zur Veröffentlichung seiner eigenen Forschungen anregten, ins rechte Licht gerückt werden, dass durch den Museumsnachtwächter Bromberg die Geschichte korrigiert wird. Ist das statthaft? Aber immerhin hatte Wallace seinen Brief mit seinen Forschungsergebnissen an Charles Darwin anstatt an ein Wissenschaftsjournal geschickt, und vermutlich war der Öffentlichkeitsdruck hinsichtlich des Erfolges nicht geringer als heute. Darwin jedenfalls erwähnt Sallace im Vorwort zu seinem bekanntestem Werk „Über die Entstehung der Arten“, aber Wallace blieb trotzdem die Nummer zwei in der Geschichte.

Albrecht Bromberg, der Nachtwächter, überkorrekt, schrullig und höchst intelligent, will die Geschichtsschreibung korrigieren wegen eben dieser Entdeckung, 150 Jahre nach Versendung des Briefes von Wallace an Darwin. Bromberg begibt sich zusammen mit dem Leser in die Vergangenheit auf die Spuren von Wallace und fasst so den Plan, die Geschichte umzuschreiben.

Zwei Außenseiter im Leben, Wallace und Bromberg, begleitet man in episodenhaft erzählten Kapiteln, man erlebt Passagen aus den Forschungsreisen an den Amazonas, den Rio Negro und in den Indonesischen Archipel von 1848 bis 1862. Den besagten Aufsatz zur Evolutionstheorie schickte Wallace 1858 an Darwin, der Begleitbrief ist verschollen. Genau das ist der Kern des Rätsels, dem Bromberg nachgeht.
Amüsiert bewegt man sich beim Lesen durch das Geschehen in den zwei Zeitebenen, die sich auch sprachlich unterscheiden. Schachtelsätze, die Spaß machen und 
wohl der damaligen Verschlungenheit beim Formulieren Genüge tun, in der Vergangenheit. Abenteuerlich und voll von Sonderbarem sind Wallace Reisen geschildert, ich habe diese Passagen genossen, auch wenn Wallace namenlos als „der junge Bärtige“ seltsam fremd blieb.
Den skurrile Bromberg finde ich als Figur insgesamt sehr gelungen. Ebenso seine verrückten Freunde als Mitglieder des seltsamen Elias-Birnstiel-Gesellschaft, die sich mit Anordnungsschemata, Intelligenzforschung oder Primzahlen befassen.

Auch optisch macht das Buch aus dem Verlag Schöffling &Co wie immer etwas her und wird dem Inhalt mit dickem cremefarben getöntem Papier, der schönen naturkundlichen Umschlaggestaltung und dem farblich passendem Lesebändchen mehr als gerecht, läßt kein bibliophiles Herz ein bisschen höher schlagen.


Anselm Oelze „Wallace“
Roman gebunden, 264 Seiten
Erschienen bei Schöffling & Co
am 5. Februar 2019
ISBN 978-3895611322

Preis 22 €

Subtile Spannung




Dror Mishani, den ich als umwerfenden Autor von Kriminalromanen mit Handlungsort Tel Aviv kenne, legt mit seinem Roman „Drei“ ein Verwirrspiel erster Güte für den Leser vor. Der Verlag hat gebeten, in der Buchbesprechung wenig vom Inhalt zu verraten, was zum einen sicher kluge Marketingstrategie ist, andererseits den Genuss beim Lesen des Buches tatsächlich erhöht.

Drei gestresste, versehrte und von Leben zurückgewiesene Frauen lernen einen äußerst smarten Mann kennen, treffen sich mit ihm, und nichts ist wie es scheint. Ein Krimi in drei Teilen, die sich jeweils den Geschichten von Orna, Emilia und Ella widmen, die getrennt voneinander alle denselben Mann treffen.
Am intensivsten fand ich dabei die Geschichte von Orna, eine junge durch Scheidung versehrte Frau mit kleinem Sohn, die den smarten Anwalt Gil über ein online-Dating-Portal kennenlernt und ihn zu treffen beginnt. Es scheint in ihrem Leben langsam und sehr vorsichtig wieder bergauf zu gehen. Doch schon zu Beginn des Buches schleicht sich das Gefühl ein, dass das nur ein Wunsch von Orna ist, und dass sie in einen Strudel gerät, der sie nach unten zieht.

Letztlich gibt es auch einen Ermittler, der ein Verbrechen aufzuklären hat, doch das ist nicht der Fokus des Buches. Vielmehr zeichnet Dror Mishani mit gekonnter Feder die Psychogramme seiner drei Protagonistinnen als vom Leben gebeutelte und gezeichnete, aber dennoch, wenn auch verschüttet, lebenshungrige und selbstbewusste Frauen. Man fühlt sich wohl an ihrer Seite, der Autor vermittelt ihr Leben und ihre Gefühlswelt voller Empathie für seine Figuren, das läßt den Funken beim Lesen überspringen. 
Von Gil erfährt man lange Zeit sehr wenig. Er ist ein bekannter Anwalt, zurückhaltend und sehr verständnisvoll. Seine Gefühle bleiben versteckt, er dient eher als Projektionsfläche für die drei Frauen, mit denen er sich trifft.

Nur wenig ist wirklich greifbar, weder für die Protagonistinnen noch für den Leser. Der Autor spielt sehr gekonnt mit subtiler Spannung, die nur kurz den Vorhang lüpft und nie den ganzen Blick freigibt. Alles wirkt zu normal, zu unauffällig und zu liebenswürdig, und ein winziges kleines Gefühl ganz hinten im Kopf warnt, dass nichts ist wie es scheint. Dazu kommt eine düstere, fast depressive Grundstimmung im Buch, die auch schöne Momente nicht wirklich wegwischen können. 
Die Spannung steigt kontinuierlich, und sehr viele unerwartete Wendungen machen das Buch zu einem großen Lesegenuss nicht nur für Krimifans.



Dror Mishani „Drei“
aus dem Hebräischen von Markus Lemke
Roman gebunden, 336 Seiten
Erschienen im Diogenes Verlag
am 28.August 2019
ISBN 978-3257070842

Preis 24 €



11. Januar 2020

Feministischer Slapstick




Respektlose Schnoddrigkeit einer feministischen Superwoman, so könnte man das Buch der Amerikanerin Fran Ross „Oreo“ aufs Wesentliche reduzieren. Erschienen ist dieser auch heute noch erstaunliche Roman bereits 1974 in den USA als Debüt der Schriftstellerin Fran Ross, und ebenso erstaunlich wie der damals wohl aus der Zeit gefallene Text ist die kongeniale Übersetzung von Pieke Biermann.

Eine griechische Heldensage wurde herangezogen und substituiert auf eine jüdisch-schwarze Heldin, die sich schnoddrig, ordinär und äußerst gebildet durch das Geschehen bewegt. Theseus machte sich in der griechischen Sage genau wie „Oreo“ Christine Clark auf die Suche nach dem Geheimnis ihrer Geburt, sich entlang hangelnd an Hinweisen seines/ihres Vaters. Dass Oreos Vater die Liste mit Hinweisen der Lächerlichkeit preisgibt und es bereits an Slapstick grenzt, diese überhaupt zielführend zu nutzen, macht die Unkonventionalität des Romanes genauso aus, wie der Bezug auf europäische und äußerst männliche Sagenkultur für ein freches amerikanisches Feministenwerk.
Oreo, geschliffen durch diverse Hauslehrer, belesen und zurechtgestutzt im Hause der schwarzen Großeltern, wo der Großvater, ein Judenhasser, jahrelang hakenkreuzartig sitzend schweigt wegen eines Hirnschlages, die Großmutter mehr mit dem Kochen südstaatlicher Leckereien als mit ordentlicher   Sprache oder gar Kindererziehung beschäftigt ist und der kleine Bruder reimend singt, macht sich also wie der griechische Held Theseus auf den Weg, ihren Jüdischen Vater und das Geheimnis ihrer Geburt zu finden. 
Oreo besteht ein absurdes Abenteuer nach dem anderen, allesamt eine Persiflage auf die sagenhaften Heldentaten des Theseus, und für den begriffsstutzigen Leser von der Autorin am Ende als solche erklärt und eingeordnet werden. Ihr ausgeprägter Sinn für Gerechtigkeit, ihr Superhirn angereichert mit allerlei Wissen aus Klassik, Geschichte und Literatur machen sie ebenso bereit für Angriffe auf ihre Jungfräulichkeit wie auf die Beseitigung von Unrecht und Gewalt, und das alles nebenbei, während sie ihren jüdischen Vater findet und das Geheimnis um ihre Geburt zu lüften vermag.

Dieses Buch, in den USA mittlerweile mit Kultstatus geadelt, spaltet sicherlich die Leserschaft. Das äußerst freche slapstickhafte Werk mag man entweder oder nicht. Die aufgegriffenen Themen sind vielseitig und nach wie vor hochaktuell und spannend: Emanzipation, Prostitution, alles beherrschendes Geld, Technologie; und eine aus Zeit und eine aus Raum und Zeit gefallene feministische Superheldin, die wegen ihrer enormen geistigen Fähigkeiten voller spitzfindiger Anspielungen brachial durchs Geschehen zieht und alles schamlos niedermetzelt hat durchaus etwas für sich. Sprachlich erinnert mich das Buch an eine Mischung aus Bukowski und klassischer Literatur, gleichermaßen angefüllt mit Slang und literarischen und historischen Anspielungen, und ich ziehe den Hut vor der Übersetzung.

Ich hätte gern die Begeisterung vieler Rezensionen für diesen schelmenhaften Slapstick geteilt. Ich erkenne den Wert des Buches an, das sowohl griechische Tragödie und europäisch weißes Kulturgut als auch matriarchalische Werte Amerikas in den 1970er Jahren verhohnepipelt hat, ich sehe, dass es seiner Zeit weit voraus war, aber nein, mit Vergnügen habe ich es nicht gelesen.



Fran Ross „Oreo“
Roman gebunden, 288 Seiten
Erschienen im dtv-Verlag
am 20. September 2019
ISBN 978-3423281973

Preis 22 €

Scharfsichtige und warmherzige Unterhaltung




Der Roman „Ein Platz im Leben“ der Amerikanerin Anne Quindlen ist ein Plädoyer dafür, sich aufzuraffen und sich immer wieder neu zu erfinden, es ist ein Familienroman, ein virtuoser Gesellschaftsroman mit scharfem Blick auf eine zerbröselnde liberale Gemeinschaft und eine gelungene Hommage an die Stadt New York, das alles auf sprachlich hohem Niveau und sehr gut übersetzt von Tanja Handels.

Von Anfang an nimmt das Buch den Leser gefangen, auch wenn nicht allzu viel passiert und sich vieles in einer Sackgasse der Stadt New York innerhalb einer ziemlich abgeschotteten Gemeinschaft abspielt. Aber genau darin liegt wohl der große Reiz der Geschichte, die von Nora Nolan und ihrem Ehemann Charlie erzählt, von ihren Nachbarn und Bekannten, die alle mehr oder weniger glücklich im Wohlstand in New Yorks Upper East Side in stilvollen Stadthäusern leben. Nora Nolan glaubt glücklich zu sein mit ihrer Ehe, mit den fast erwachsenen Zwillingen und ihrem Job im Museum of Jewelry. Alles scheint perfekt, angefangen von ihren Kindern, die an hervorragenden Colleges untergebracht sind bis hin zu ihrem Traumhaus, das herrschaftlich-stilvolles Ambiente für Nachbarschaftsfeste bietet. Alle halten sich für unglaublich liberal, zahlen sie doch ihren südamerikanischen Hausangestellten einen extra Weihnachtsbonus und behandeln den puertoricanischen Handwerker der Straße, Ricky, scheinbar wie einen Gleichgestellten. Doch die Gemeinschaft, in der sie sich mit ihrer Familie bewegt, bröckelt, so wie ihre Ehe und so wie auch der altherrschaftliche Stadtteil, und ein überraschend brutales Ereignis in der Nachbarschaft spaltet die Bewohner in Lager. Nora muss erkennen, dass die Krise des liberalen Amerika auch ihre ruhige Sackgasse erreicht hat, dass eben nicht überall gleiches Recht für alle gilt sondern große gesellschaftliche Abschottung zwischen Reich und Arm herrscht, die sie mitgetragen hat. Nora, in mittleren Jahren, sucht ihren Platz neu, und das nicht nur innerhalb der Nachbarschaft, sondern auch für ihr Eheleben und für ihren Job.

Feinsinnig, mitfühlend, sprachlich virtuos und voller kluger Wärme nimmt die preisgekrönte Autorin den Leser mit, läßt an Noras Träumen und Wünschen teilhaben und erzeugt durch viele kleine Episoden Spannung beim Lesen. Man liebt die Protagonistin, die sich voller Mut aufrafft und den Gegebenheiten ins Auge sieht, einen völlig neuen Weg geht und das letzten Endes leichten Herzens und mit der nötigen Weisheit. 
Die Entwicklung der zusammengewürfelten Gemeinschaft wird sehr genau ausgeleuchtet, Scheinheiligkeiten haben keinen Platz mehr, und ohne viel Pathos mit scharfem Fokus verfolgt der Leser den Zusammenbruch dort, wo es eigentlich auch vor dem Schlüsselereignis kein Füreinander gab.
Sprachlich großartig geschrieben ist das Buch für mich höchst unterhaltsam, hellsichtig und mit einem äußerst glaubwürdigen Ende verhaltener Hoffnung. Was will man mehr?



Anne Quindlen „Der Platz im Leben“
Roman gebunden, 369 Seiten
Erschienen im Penguin-Verlag
am 21. Oktober 2019
ISBN 978-3328600701

Preis 20 €



Heile Welt





In ihrem Debüt „Der größte Spaß, den wir je hatten“ erzählt die Autorin Claire Lombardo auf mehr als 700 Buchseiten die Geschichte einer Großfamilie, die zwar von Streitereien und modernen Neurosen geprägt ist, aber dennoch sehr gut funktioniert. Ganz nach dem Motto reine Harmonie ist langweilig und sowieso unrealistisch bereitet die Autorin das Parkett für die Auftritte von Marilyn und David sowie deren vier Töchtern Wendy, Violet, Liza und Grace. Dass es sich dabei eher um Unterhaltung statt großer Literatur handelt liegt dabei wohl in der Natur der Sache, und dass die Feiertage zu Thanksgiving am Ende des Buches Versöhnung und Familienfrieden nach vielen Querelen und Zerwürfnissen bringen wohl auch.

Der Roman feiert letztlich die dauerhafte Ehe und lebenslange erotische Anziehung des Paares Marilyn und David, was allein schon diese Familie heutzutage zu etwas Besonderem und Schönem, aber auch Weichgezeichnetem und Märchenhaftem macht. Die Einhaltung der Traditionen - Mann als Versorger und Frau bekommt viele Kinder und verzichtet auf ihre berufliche Karriere - und das Familienglück, der feste Zusammenhalt und die Hilfe in allen Lebenslagen für die vier Töchter mit Netz und doppeltem Biden, durch das auch ein uneheliches und weggegebenes Kind einer der Töchter nicht durchfällt, sind für mich schon fast ein bisschen realitätsfern.

In den USA hoch gelobt und gefeiert ist das Buch ein bisschen rosarote Brille gespickt mit vielen Problemchen und Problemen, die aber dank der Familie abgefedert und gelöst werden können. 
Es liest sich alles sehr gut und schnell weg, sprachlich bewegt sich das Buch auf einem durchaus literarischem Niveau, und offenbar hat die Autorin ihre Hausaufgaben hinsichtlich der großen Vorbilder des Amerikanischen Storytelling mit Bravour erledigt. Aber mir persönlich ist vieles in der Geschichte zu glatt und zu leichtgängig. Wirkliche Brüche und Verwerfungen gibt es nicht, und nach spätestens der Hälfte des Buches langweilt die Beschreibung der guten Ehe von Marilyn und David mit der neidisch machenden ständigen körperlichen Anziehung fast ein bisschen. 
Es ist ein lesenswertes Buch für alle, die gerne eine heile Welt mit garantiertem Sonnenschein nach Regen möchten, Unterhaltung auf sprachlich gutem Niveau, mit Spannung durch viele Blenden mit Cliffhangern und raffinierten zeitlichen Rückblicken. Das liest sich manchmal ein bisschen nach guter Schreibschule, nicht überfordernd und alles andere als stilistisch langweilig. Ich selbst bevorzuge allerdings die realistischeren unheilen und unrunden Geschichten.



Claire Lombardo „Der größte Spaß, den wir je hatten“
Roman, gebunden 736 Seiten
Erschienen bei dtv-Verlag
am 20. September 2019
ISBN 978-3423281980

Preis 25 €


Zynismus und Witz vom Feinsten





Der Roman „Die Altruisten“ ist das Debüt des Amerikanischen Autors Andrew Ridker, das er mit 25 Jahren schrieb und dem man weder den Erstling noch die Jugend des Autors anmerkt. Es ist ein dichter, schräger und lakonischer Roman um Arthur Alter und seine Familie.

Die Geschichte beginnt mit einem Paukenschlag, ein Hausbrand, der gleich zu Beginn zeigt, dass Streit um Nichtigkeiten essentieller ist als sinnvolles Handeln. Arthur Alter, dessen Name schon den Altruismus in sich trägt, strebt danach, ein guter Mensch zu sein. Doch wie bereits zu Beginn des Romans verstrickt er sich in Nichtigkeiten bis hin zur Lächerlichkeit, als er als junger Mann voller Idealismus in Simbabwe Entwicklungshilfe leistet. Ausgerechnet Toilettenhäuschen baut er in abgelegenen Dörfern, und anstatt zu helfen bringt er dadurch Krankheit und Tod. Ersteht damit als Sinnbild für Menschen, die dringend Bestätigung brauchen: wenn es vor der eigenen Haustür oder im normalen Job nicht klappt - ab ins Armenviertel und irgend etwas tun, Hauptsache Aktionismus, der bemerkt wird.
Gleichzeitig bettet Andrew Ridker Arthurs Narzismus äußerst kritisch in größere Zusammenhänge ein. Er bringt den Afrikanern eine tödliche Krankheit, indem er in bestehende und funktionierende Strukturen eingreift und sein System (Toilettenhäuschen) baut, ohne dass es ausgereift ist oder ohne Beachtung der Gegebenheiten. Das ist ein Paradebeispiel für die Überheblichkeit des Westens gegenüber alten Kulturen. Im Roman finden sich viele Beispiele, bei denen die Familiengeschichte für derartige kritische Ansätze herhält, die Schicksale und Befindlichkeiten der Einzelnen als zynische Kritik zu sehen ist.

Arthurs „Heldentat“ läßt ihn später mutlos und bitter werden, als Professor für Ingenieurwesen ohne Festanstellung, als wenig an seinen beiden Kindern Ethan und Maggie interessierter Vater. Und er hat seine als Psychiotherapeutin erfolgreiche Frau, die den Löwenanteil des Familiären Einkommens erbringt und Arthur sich dadurch noch mehr in die Versagerecke gedrängt fühlt. Die Ehe mit Francine zerbröckelt, und als sie frühzeitig an Krebs stirbt vererbt sie ihr Vermögen an die beiden Kinder.

Andrew Ridker erzählt die Familiengeschichte mit Rückblicken aufgehängt an Arthurs finanzieller Situation in der Gegenwart, die ihn auf seine Kinder hoffen läßt, um sein Haus erhalten zu können. Er lädt Maggie und Ethan zu sich ein, um sie um Geld zu bitten. Der Versuch, die beiden um den Finger zu wickeln scheitert kläglich und ebenso lächerlich. Ethan, früher erfolgreicher Unternehmensberater, der mittlerweile sein Geld durchgebracht und in Einsamkeit und Suff in einer viel zu teuren Wohnung in New York sitzt, wird von Arthur ins Ballett „Schwanensee“ geschleppt, um Verständnis für die Homosexualität seines Sohnes zu mimen. Ebenso komisch und berührend ist auch sein Versuch der Annäherung an seine Tochter Maggie, die trotz ihres geerbten Treuhandfonds geradezu ärmlich lebt und nur ethisch korrekte Arbeit ausführen möchte.

Letztlich überspitzt der Autor seine Figuren, insbesondere Arthur, mit viel Sarkasmus, der sich wie eine Decke über die Geschichte legt. Er kritisiert auf lächerlich komische Weise das schnöde Geld, an dem sich der Roman letztlich entlang hangelt, die Ungerechtigkeit gegenüber Frauen und das Leben jenseits jedes Maßes ohne Folgen, wie Arthur und Ethan es führen. Mir gefällt ganz ausgezeichnet, dass Ridker seinen Leser nicht direkt darauf stößt, sondern über den Umweg einer Familiengeschichte mit völlig überzeichneten und verrückten Figuren agiert. 
Und für mich hat das ganz ausgezeichnet funktioniert, ich habe das Buch sehr gerne gelesen.



Andrew Ridker „Die Altruisten“
Roman, gebunden, 400 Seiten
Erschienen bei Penguin Verlag
am 23. September 2019
ISBN 978-3328600248

Preis 22 €

8. Januar 2020

Verwirrspiel mit der Wahrheit





Den Schriftsteller Gustav Meyrink kennt man von seinem berühmten Roman „Der Golem“. Viel mehr ist mir von diesem Autor nicht bekannt, und allein aus diesem Grund lohnt es sich, den Roman von Christoph Poschenrieder „ Der unsichtbare Roman“ zu lesen, denn mich regt die Verknüpfung von Historie und Fiktion, die hier auf ungewöhnliche Weise und sehr gut gelungen ist, zu weiteren Nachforschungen an. 

Gegen Ende des Ersten Weltkrieges ist die Schuldfrage zu klären, und zu diesem Zweck beauftragt das Auswärtige Amt aus Berlin den damaligen Bestsellerautor Gustav Meyrink mit dem Schreiben eines Romans, der die Schuld den Freimaurern in die Schuhe schiebt. Meyrink, am Starnberger See mehr dem Yoga und Rudern als der Politik zugetan, kassiert trotz anfänglicher Bedenken, den reichlichen Vorschuss und bringt sich damit in Zugzwang.

Der Autor entspinnt nach diesem Auftakt, der auf einer Tatsache beruht, auf höchst amüsante und unterhaltsame Weise die Lebensgeschichte des Autors und die Geschichte des unsichtbaren Romans um die Schuld am Krieg, der von Meyrink nie veröffentlicht wurde. Dabei folgt er der Handlungslinie zum Kriegsende und während der Novemberrevolution in München, bei der man Schriftsteller wie den stets ausgehungerten Anarchist Erich Mühsam oder den Politiker und ersten Ministerpräsidenten des Freistaates Bayern Kurt Eisner trifft. In Rückblenden wird von Meyrinks turbulentem Leben erzählt, episodenhaft als Erinnerungen. Zusätzlich schaut man dem Autor selbst über die Schulter, Poschenrieder hat einige Recherchenotizen in die einzelnen Kapitel aufgenommen, was eine Unterscheidung von Wahrheit und Fiktion zu ermöglichen scheint und auf mich originell und passend wirkt. Es sind Wegmarken im Geschehen, Anker in der Zeit, die sich auf Ereignisse und Personen beziehen.

Meyrink (1868 bis 1932) der oft für jüdisch gehalten wurde, stammt aus Prag und muss ein ungewöhnlicher Charakter gewesen sein. Er begann seine Karriere als Bankier in Prag, scheiterte, wandte sich der Alchemie und dem Spirituellen zu, ging bei einem Yogi in die Lehre und begann schließlich damals sehr erfolgreich Romane zu schreiben, die Auflagen vergleichbar mit denen von Karl May erreichten. Er war völlig unpolitisch, lebte in einem Haus am Starnberger See und war trotz seiner guten Verkaufszahlen oft knapp bei Kasse. 
Dass Christoph Poschenrieder sich zwar mehr oder wenig an diesen Lebensdaten entlanghangelt, aber als Hauptthema des Buches die ungewöhnliche Episode der Auftrages zu einem Freimaurerroman auswählt und durch seine Varianten in den eingeschobenen Notizen ein Versteckspiel mit der Wahrheit betreibt und den Leser mit dem unsichtbaren Roman fast an der Nase herumführt, ist außergewöhnlich und gefällt mir ausgezeichnet. Es passt für mich zu Meyrink, den man auch erst suchen muss und der so viele Gesichter hatte und sich mehrmals neu erfand. Zudem bekommt man so als Leser die Möglichkeit des Einblicks in die Schreibwerkstatt Poschenrieders.

Der Propaganda-Roman wurde nie geschrieben, auch wenn Meyrink (und Poschenrieder) das Auswärtige Amt und den Leser an der Nase herumführen, ein anderer wurde beauftragt - der Deutsch-Nationale Friedrich Wichtl, der mit seinen antisemitischen Hetzschriften den Nazis in die Hände spielte. Aber letzteres ist nur Randnotiz in Poschenrieders Roman, der den Beginn der Münchner Räterepublik und das Leben Gustav Meyrinks beleuchtet. Packend und fantastisch geschrieben ist das Buch bis zur letzten Seite offen und ein Verwirrspiel. Es macht einfach Spaß, dieses Buch zu lesen.


Christoph Poschenrieder „Der unsichtbare Roman“
Roman gebunden, 270 Seiten
Erschienen im Diogenes Verlag
am 25. September 2019
ISBN 978-3257070774

Preis 24 €

7. Januar 2020

Obsession




Der Debütroman von Fuminori Nakamura „Der Revolver“ aus 2003 vermischt Krimielemente mit einem Schimmer Noir-Roman und ist eine höchst spannende Studie der Obsession eines jungen Mannes.

Ein junger Mann findet einen Revolver neben einem Toten. Er ist fasziniert, gefangen, lässt sich zu Fantasien von Gewalt und Mord hinreißen und erwacht aus seinem langweiligen und eintönigen Lebenstrott als Student. Der Autor interessiert sich nicht für den Toten und die kriminalistische Ermittlungsarbeit, wie sonst in der Kriminalliteratur üblich. Er verfolgt vielmehr den Sog, den die Waffe auf den jungen Mann ausübt, begleitet seine neu erwachte Sucht nach dem Revolver und den asozialen verbotenen Handlungen, die damit verbunden sind.

„Der Revolver war ein Teil von mir geworden, hatte mein ganzes Denken und Handeln durchdrungen. Zu schießen war die eigentliche Bestimmung eines Revolvers, und so war es nur logisch, dass auch ich das wollte. Mich dagegenzustellen hätte bedeutet, zu meinem früheren Ich, meinem früheren Leben zurückzukehren – ein nicht nur sonnloser, sondern auch trostloser Gedanke.“

Der Student Nishikawa hat sich vor dem Fund nicht für Schusswaffen interessiert, auch zeigte er bisher keine gewalttätige Neigung. Aber in dem Moment, als er die Waffe vom Tatort nimmt und mit dem Revolver einfach wieder im Regen verschwindet ist eine innere Spannung und Unruhe geweckt, die den melancholischen Einzelgänger zu einem Getriebenen macht. Obsessiv entfaltet sich sein Verhältnis zu „seinem“ Revolver, er streichelt und poliert ihn, versichert sich der Vertrautheit und der Dauerhaftigkeit der Beziehung zwischen ihm und der Waffe. Nishikawa strudelt immer tiefer in seine Abhängigkeit, seine Handlungen sind die eines getriebenen asozialen Menschen, gleichgültig anderen gegenüber, unfähig zur Empathie oder gar Liebe. Seine Situation ist ausweglos, und auch wenn er erkennt, dass er Gefangener dieser Abhängigkeit ist, tut er nichts um dagegenzuhalten.

Grandios und trostlos, Großstadtanonym und bereit zur Gewalt zeichnet Nakamura seinen Plot und den darin gefangenen Nishikawa. Der Ich-Erzähler wirkt willenlos, lässt sich oft treiben, was ihn für seine Abhängigkeit prädestiniert. Auf schmalem Raum, vergleichbar mit den winzigen Wohnungen in Tokio, wo der Roman spielt, entwickelt der Autor die Geschichte, gespickt mit einigen Backgroundinformationen, die jedoch nicht wirklich zum Verständnis führen und das auch gar nicht sollen. Der Bewegungsradius von Nishikawa ist ebenso gering, begrenzt auf wenige Kontakte und Orte. Er wirkt von Beginn an versehrt, aber man vermag es nicht richtig zu greifen, was mit ihm nicht stimmt, sondern wird sofort auf seine Obsession fokussiert, dann auf die schrittweise Annäherung an die Tat, die Zweck der Schusswaffe ist. 
Es geht nicht um ein bestimmtes Verbrechen oder die Erforschung des Grundes dafür, sondern um eine abstrakte Annäherung an den Mord, um die Macht, die der Revolver auf seinen Besitzer ausübt. Die Auswahl der Opfers ist nebensächlich, es geht um den Tötungsakt mit der Waffe an sich, aus der Obsession heraus. Und das ist fast dämonisch, völlig asozial und eiskalt. 
Dennoch schafft es Nakamura erstaunlicherweise, den Protagonisten nicht mit Camus-haftem Abscheu und Verachtung darzustellen, sondern er erscheint für mich als Gefangener der Situation, ohne Macht, für sich einen Ausweg zu finden.

Soghaft getrieben durch den schmalen Roman bin ich gefangen gewesen vom äußerst düsteren Plot, von der Obsession und von der Frage, was eine Waffe aus einem Menschen macht.
Die passend knappe Menge an Personal und Örtlichkeiten, die knappe Sprache und der Touch eines Krimi Noir haben mir sehr gefallen.





Fuminori Nakamura „Der Revolver“
Roman gebunden, 240 Seiten
Erschienen bei Diogenes Verlag
am 25. September 2019
ISBN 978-3257070613
Preis 22 €

6. Januar 2020

Unterhaltungsroman mit viel Personal




Der Auftakt des Romans „Der Sprung“ von Simone Lappert mutet wie ein Kammerspiel an, in dem aus der ungewöhnlichen Ausgangssituation -  eine tobende junge Frau auf einem Dach im Zentrum einer Kleinstadt, Suizidverdacht - feine Verbindungen verschiedener Personen zu der Unbekannten geschaffen werden. Lebenslinien versehrter Charaktere spinnt die Autorin geschickt und spannend, und man fragt sich wo die Knoten der Verbindungen liegen, ob es überhaupt welche gibt und ob und warum das alles für die Frau auf dem Dach eine Rolle spielt. Da gibt es Finn, den Fahrradkurier, der aus Liebe zu ihr seine Lebenspläne über den Haufen wirft, und für den alles zu erlöschen scheint. Der Polizist Felix, der die Frau vom Dach holen soll und der zu viele schwermütige Erinnerungen mit sich herumträgt und nachts im Keller zur Meditation Küchengeräte zerlegt. Die pummelige Schneiderin Maren, die wegen der Frau auf dem Dach nicht in ihre Wohnung kann und deren Mann zum Gesundheits- und Fitnessfanatiker mutiert. Und die Schwester, Astrid, eine Frau auf dem Sprung in eine Lokalpolitik-Karriere. Daneben spielen Randfiguren eine Rolle wie Roswitha, die lebenskluge Kaffeehausbesitzerin, oder Egon, der ehemaliger Hutmacher, jetzt Metzger, der philosophisch-pessimistisch von den guten alten Zeiten träumt.
Die Kleinstadt hält kurz den Atem an, das Leben bleibt stehen und scheint in neuen Bahnen zu verlaufen, mit wankendem Gleichgewicht. Es gibt viele kluge Sätze und Passagen fürs Aphorismen-Album, die mir manchmal fast den Atem stocken lassen.

Aber leider zeigt die Geschichte nach diesem neugierig machenden Start im weiteren Verlauf wenig Tiefgang, die Autorin wartet mit noch mehr Personal auf, bedient sich tief am Boden der Klischee-Mottenkiste. Und auch wenn der episodenhafte Stil mit den vielen Perspektivwechseln ein hohes Maß an Spannung bringt, verstellt er andererseits einen tieferen Blick auf die anfangs eingeführten Figuren, den ich mir sehr gewünscht hätte. 
Und ich hatte beim Lesen das Gefühl, dass eine Grundidee hergehalten hat, die nicht wirklich zum Roman reichte, die mit vielen Seitensträngen angefüllt und aufgeplustert wurde und die gegen Ende des Buches sogar in wahrscheinlich ungewollten Slapstick und fast auf Lindenstraßen - Niveau abgleitet. 
Es gibt durchaus interessante Einzelschicksale, die ich gerne mehr aus der Nähe betrachtet hätte, doch die Menge an Personen und die Kürze des Romanes läßt dies nicht zu, und so bleibe ich nach dem Lesen etwas erschlagen von der Menge der Wendungen und unzufrieden mit dem Ende der Geschichte zurück. Nirgendwo wird richtig hinter die Kulissen geschaut, sondern meist oberflächlich nur kurz der Vorhang gelupft. Und auf manche Passagen hätte ich wegen des Friede-Freude-Eierkuchen-Feelings sehr gut verzichten können.


Nein, das war nicht wirklich mein Buch, obwohl ich nach dem gelungenen Start äußerst neugierig geworden war. Mit einer Unmenge Personal wurde eine zwar unterhaltsame, mir aber leider zu oberflächliche Geschichte aufgehübscht. Dort, wo ich mir Tiefe gewünscht hätte, kommt zu schnell die nächste Blende.


Simone Lappert „Der Sprung“
Roman, gebunden, 336 Seiten
Erschienen im Diogenes-Verlag
am 28.August 2019
ISBN 978-3257070743
Preis 22 €

Agententhriller mit Kultstatus




Die lahmen Gäule um Jackson Lamb sind zurück, die ausgemusterten Agenten des MI5, aus dem aktiven Dienst entfernt und auf das Abstellgleis im Slough House geschoben, aus verschiedenen Gründen. Jackson Lamb und seine Mitstreiter Louisa, Shirley, Catherine, Min, River, Roderick und Marcus sollen durch langweilige und vorgeschützte Aufgaben mürbe gemacht und zur Kündigung bewegt werden. Dabei haben sie keinesfalls tatsächlich versagt, sondern stehen ambitionierten Karrierebestrebungen anderer Agenten im Wege und sollen daher aus dem Weg geschafft werden.
Der neueste Auftrag betrifft den Schutz eines russischen Oligarchen, der als Informant für den Britischen Geheimdienst dienen soll. Zugleich stirbt ein ehemaliger Britischer Spitzel aus dem Kalten Krieg an Herzinfarkt im Bus in einer Gegend, in der er sich sonst nie bewegt. Er ist ein alter Kollege von Jackson Lamb aus Zeiten des Kalten Krieges in Berlin. Als der Leiter der Slow Horses mit seinen ungewöhnlich scharfen Instinkten auf seltsame Handyeinträge bei dem Toten und schlampige Ermittlungen, offenbar zwecks Vertuschung der Todesursache und schneller Ablage des Falles stößt, wird er hellhörig und misstrauisch. 
Auch der Abzug zweier seiner Agenten zum Schutz des russischen Oligarchen in London scheint mit einer Gruppe von russischen Schläfern, den Dead Lions, zu tun zu haben, die offenbar gerade erwachen...

Voller Ironie wendet Mick Herron in seinem zweiten Agententhriller den Blick auf den Britischen Geheimdienst und dessen Aktivitäten. Dazu präsentiert er einen höchst spannenden und komplexen Plot mit großer Liebe zum Detail, der auf mich nicht zuletzt durch die Macken der Charaktere authentisch und überzeugend wirkt. So entsteht ein für mich höchst amüsantes, unterhaltsames und spannendes Lesevergnügen.
Der skurrile verschrobene Einzelgänger Jackson Lamb versteckt sich und seine ungewöhnlichen Ermittler-Fähigkeiten hinter menschlichen Unzulänglichkeiten, die abstoßend und nervend wirken, ein richtiger Antiheld, ganz im Gegensatz zu strahlenden Agenten wie James Bond u Co., die andernfalls auf der Bildfläche derartiger Literatur erscheinen. Und das ist erfrischend und witzig, denn voller Ironie, mit vielen kritischen Tönen vom abgehalfterten Jackson Lamb hat Mick Herron eine Figur geschaffen, die abstößt und zugleich Bewunderung auslöst, unsympathisch und auf den ersten Blick tollpatschig und nicht gesellschaftstauglich wirkt, die am Ende des Buches kurz das Herz des Lesers erobert, um ihn sogleich wieder von sich zu stoßen. 
Ein wahrer Genuss mit meiner unbedingten Leseempfehlung, ich freue mich sehr auf den dritten Teil der Reihe.




Mick Herron „Dead Lions“
Roman gebunden, 480 Seiten
Erschienen im Diogenes Verlag
am 28.August 2019
ISBN 978-3257070460
Preis 24 €