17. Juni 2020

Leichte Unterhaltung ohne Leichtigkeit





Zwei ungleiche Schwestern, ein Elternhaus an der Ostsee, das nach dem Tod der Mutter ausgeräumt und verkauft werden muss, sind die Grundzutaten für diesen unaufgeregt erzählten und kitschfreien Unterhaltungsroman. Ich habe mich von der Grundstimmung, die die Geschichte verspricht, zum Lesen locken lassen - Kindheitserinnerungen an das Meer, an die verstorbene Mutter, gespickt mit ein paar Verwicklungen in der Gegenwart. 

Ada und Toni, die Schwestern, die nicht ungleicher sein könnten, treffen sich nach dem Tod der Mutter in ihrem alten Elternhaus an der Ostsee in Gragaart. Ada lebt mit weit offenen Augen und Herzen, ganz Künstlerin, in Hamburg, hat eine Affäre mit einem verheirateten Mann, der sie an der kurzen Leine hält. Toni, die durchstrukturierte und durchgestylte Planerin, verheiratet mit zwei fast erwachsenen Kindern, führt hinten in ihrem Lehrerkalender codierte Listen über ihr Sexleben mit ihrem Ehemann. Ada freut sich auf die Zeit mit ihrer Schwester im Elternhaus und auf die Reise in die Vergangenheit, doch Toni sperrt sich und ist anfangs schnell wieder in ihr komplett verplantes Alltagsleben mit Lehrerjob und Familie eingebunden. Erst allmählich nähern sich die beiden ihrer Vergangenheit, lassen mit alten Kleidern aus Überseekoffern glückliche Tage wieder aufleben und kommen dabei ihrer Mutter, ihrem schon lange totem Vater und sich selbst näher. Und wie so oft, wenn das Leben kurz innehält, schärft sich der Blick der beiden auf die eigene Situation, die für keine der Schwestern eine glückliche ist. Mit hoffnungsvollem offenem Schluß enden die zwei Wochen im alten Elternhaus an der Ostsee für beide, kitschfrei und mit Spielraum für verschiedene Wege.

Eine angenehme Geschichte, unaufgeregt und (fast) kitschfrei erzählt, Sommerstimmung am Meer und im alten Haus mit schönem Bauerngarten und Familienerinnerungen - das verspricht einen angenehmen Unterhaltungsroman.
Ich bin jedoch nicht wirklich im Buch angekommen, was hauptsächlich stilistisch bedingt ist. Der Schreibstil ist mir zu hölzern mit Nebensätzen, die manchmal unpassend, oft sperrig und stocktrocken wirken. Deutsch-unterkühlt und sehr sachlich nicht zur Situation passend, mit gestelzten Nebensächlichkeiten, die für mich oft uninteressant für die Geschichte sind.
Und die Figuren bleiben mir sehr fern, sie handeln stereotyp, passen sehr gut in für sie vorgesehene Schubladen. Ich vermisse in der Geschichte Leichtigkeit und Poesie, die sehr gut zur Grundidee der Story gepasst hätte. Ein paar Konstruktionen und Verwicklungen sind mir zu vorhersehbar und aufgesetzt.

Es ist eine leicht lesbare leichte Unterhaltungslektüre, die, um mit dem bei Whatchareadin neu geschöpften Ausdruck zu arbeiten, durchaus viel mehr „Hängemattigkeit“ im Sinne von Leichtigkeit und Poesie, etwas mehr Bildhaftigkeit und weniger Gestelztheit vertragen hätte. Auch eine nicht ganz so chronologische Erzählweise und die eine oder andere Überraschung hätten dem Buch gut getan.




Anne Müller
Zwei Wochen im Juni
Roman gebunden, 240 Seiten
erschienen bei Penguin
am 27. April 2020
ISBN 978-3328601098
Preis 18,00 €

11. Juni 2020

Fiktives Memoir





In ihrem fiktiven Memoir „Die Schauspielerin“ begibt sich eine Tochter auf die Spuren ihrer Mutter, versucht hinter die Fassade zu sehen. Die preisgekrönte irische Autorin Anne Enright hat dafür auch die Figur der Tochter erfunden, die Schriftstellerin ist, ebenso alle Schlüsselfiguren ihres sehr lesenswerten Romans.

Auch wenn alles Fiktion ist erzählt Anne Enright in ihrer Geschichte tiefsinnige Wahrheiten anhand einer Mutter-Tochter-Beziehung, schafft berührende Momente und blickt sehr präzise und gekonnt hinter sorgsam aufgebaute und ständig vom Einsturz gefährdete immer wieder geflickte Fassaden. Es macht nichts, dass die Personen nie wirklich gelebt haben, denn die Familiengeschichte, die sich im Buch abspult, ist voller Leben und Detailreichtum, der liebevolle und sorgsame Umgang der Autorin mit ihren Figuren lassen beim Lesen schnell vergessen, dass alle nie lebten.

In den 1970er Jahren in Dublin wird man direkt ins rückblickende Geschehen gestellt, eine Party bei der gefeierten und mittlerweile alternden Schauspielerin Katherine O‘Dell zum 21. Geburtstag ihrer Tochter Norah. Beide Frauen befinden sich an einer Schwelle, was sich aus der Stimmung schnell herausspülen läßt, die aber nicht klar definiert sondern zunächst diffus umrissen wird. Der Dunstkreis von Katherine umwanderte sie, und auch Norah bekommt etwas vom verblassenden Glanz ab, so wie ihr ganzes bisheriges Leben.
Norah kennt ihren Vater nicht, und in Rückblicken aus der heutigen Zeit, nach dem Tod ihrer Mutter, begibt sie sich auf die Suche nach ihm und vor allem nach dem Wesen von Katherine, die mit zunehmendem Alter an Bekanntheit und Beliebtheit verlor und sich mit Alkohol und Tabletten betäubte, bevor sie schließlich verrückt wurde und einem Filmproduzenten in den Fuß schoß.

Es ist die Überfülle an Details, die vielen Kleinigkeiten, mäandernd erzählt, die zärtlichen Rückblicke auf Katherines Leben im Familienkosmos, die das Buch zu etwas Besonderem machen. Die Geschichte hat es in sich, auch schon vor dem Absturz aus den luftigen Höhen Hollywoods mit Stolperstrecken an Englischen und Französischen Theatern bis zur letzten rasanten Talfahrt in die Psychiatrie lüftet Norah gut gehütete Geheimnisse und blickt tief in die verwundete Seele ihrer Mutter, letztlich immer verzeihend. Die Symbiose der beiden Frauen wird getragen von vielen männlichen Figuren, beginnend beim Großvater FitzMaurice, der als Schauspieler zunächst mit einer irischen Wanderbühne umherzog und später im Fernsehen eine gewisse Berühmtheit erlangte, über viele Künstlerkollegen und Bewunderer bis hin zum Mythos von Norahs Vater. Die Parties in Katherines Haus in Dublin am Dartmouth Square zeugen vom Aufstieg und späteren Niedergang der Schauspielerin, den Norah beobachtet, Bewunderer und alte Freunde wenden sich beinahe immer mehr ab, im Hintergrund ein politisch zerrissenes Irland, dem Katherine, die Vorzeige-Irin mit englischen Wurzeln, ihren Tribut zollt.

Zwei Frauen, die einander brauchen, verletzen und sich lieben, die Tochter stets das Lebenslicht der Mutter und dennoch oft am Rande ihrer Welt allein gelassen, verletzt und verraten - die Fülle der Erinnerungen von Norah ist manchmal kaum zu fassen. Besonders wenn die Episoden scheinbar unverknüpft wie Gedankenfetzen in völlig anderem Zusammenhang auftauchen. Man muss das Puzzle beim Lesen geduldig selbst zusammen stecken, und am Ende fehlen dennoch ein paar Teile, wie im richtigen Leben. Mein einziger kleiner Kritikpunkt am Buch ist, dass in dem Gewimmel manches einfach untergeht und verlodert.

Das Buch „Die Schauspielerin“ von Anne Enright hat es auf die diesjährige Longlist für den „WOMEN’S PRIZE FOR FICTION 2020“ geschafft, völlig zu recht, wie ich finde.



Anne Enright „Die Schauspielerin“
aus dem Englischen von Eva Bonné
Roman gebunden, 304 Seiten
Erschienen im Penguin Verlag
Am 23. März 2020
ISBN 978-3328601340
Preis 22 €