27. Mai 2017

Großartig und wichtig





"...denn um in der Natur und mit der Natur zu leben, müssen wir uns von der eigenen Natur entfernen."

Ein düsteres Zukunfts-Szenario einer Welt ohne Bienen ist der Beginn des preisgekrönten Buches "Die Geschichte der Bienen" der Norwegischen Autorin Maja Lunde. Mit großer Erzählkraft entfaltet sich dieses Debüt vor dem Leser, das ein anspruchsvoller und spannender Familienroman gespickt mit interessanten Sachdetails und zugleich Historienbuch und ebenso Dystopie ist.

"Die Kinder ernten die Zahlen und einige Schriftzeichen, davon abgesehen war die Schule aber nur eine Form der kontrollierten Verwahrung. Der Verwahrung und der Vorbereitung auf das Leben draußen."

Das Buch spielt in drei Zeitebenen, deren Verbindung die Bienen sind. Es setzt ein in einer Zukunft ohne Bienen mit Tao, der jungen chinesischen Arbeiterin, den Aufgabe zusammen mit tausenden anderen das Bestäuben von Obstbäumen ist und die sich für ihren kleine Sohn Wei-Wen eine bessere Zukunft erträumt. Doch plötzlich verschwindet der Junge auf unerklärliche Weise und Tao begibt sich auf die Suche nach ihm.
Im England des Jahres 1852 begleitet der Leser den gescheiterten und depressiven Biologen William. Als achtfacher Vater hatte er große Hoffnungen in seinen gescheiterten Sohn gesetzt und seine klügste Tochter Charlotte nicht beachtet. Als er mit der Erforschung der Bienenstöcke beginnt und einen perfekten Bienenstock entwirft, bekommt Williams Leben neuen Aufschwung.
Die dritte Geschichte erzählt vom Imker George in Ohio im Jahr 2007, der mitansehen muss, wie seine Bienen verschwinden und immer weniger werden. Der Sohn Tom soll den Hof mit der Imkerei übernehmen, dieser hat jedoch andere Pläne.

Maja Lunde spannt den Bogen von den Wurzeln der professionellen Imkerei Mitte des 19. Jahrhunderts zum Beginn des Bienensterbens Anfang des 21. Jahrhunderts bis zu einer Welt ohne Bienen im Jahr 2098. Alle drei Geschichten dienen letztlich der Frage, wie eine Welt ohne Bienen aussehen würde und wo und wie der Anfang vom Ende begann. Sie vermittelt das Gefühl der Freude am Erfinden und Forschen für den Biologen William, die massive Hilflosigkeit und Ohnmacht von George, der seinen Bienen beim Sterben zusieht ebenso wie den Mut und die Kraft einer jungen Mutter, die ihren Sohn finden möchte und auf der Suche nach einem kleinen Hoffnungsschimmer gegen das System rebelliert. 
Gleichzeitig hat die Autorin ein feines Gespür für familiäre Beziehungen von Eltern und Kindern, insbesondere die Erwartungshaltung von Vätern an ihre Söhne, die sich über die Jahrhunderte nicht geändert hat, und die Kraft der Frauen, die der Sprachlosigkeit und Enttäuschung Paroli bieten können.

"Wie verwachsene Vögel balancierten wir auf unseren Ästen, das Plastikgefäß in der einen Hand, den Federpinsel in der anderen. ...
Das kleine Plastikgefäß war gefüllt mit dem luftigen, leichten Gold der Pollen, das zu Beginn des Tages exakt abgewogen an uns verteilt wurde, jede Arbeiterin erhielt genau die gleiche Menge. Nahezu schwerelos versuchte ich, unsichtbar kleine Mengen zu entnehmen und in den Bäumen zu verteilen."

Vieles, was wir essen, hängt von der Bestäubung durch Insekten ab, und wenn Menschen wie Vögel mit Pinsel in Bäumen hängen um Blüte für Blüte selbst zu bestäuben erinnert das nicht nur an Mao, der in China vor Jahrzehnten alle Insekten ausrotten wollte und die Blüten auf die im Buch dargestellte Weise bestäuben ließ, sondern ist für den Leser eine durchaus greifbare Version einer vom Hunger geprägten und streng kontrollierten Zukunft. Ein weltweites Bienensterben hat verheerende Folgen für uns alle, und Maja Lunde ist nicht nur eine Autorin, die einen spannenden und sehr gut recherchierten Roman zum Thema geschrieben hat, sondern auch besorgte Mutter, die aufrütteln will. Das ist ihr gelungen, und ich vergebe begeisterte fünf Sterne für das Buch.


Maja Lunde "Die Geschichte der Bienen"
Roman gebunden, 512 Seiten
Verlag: btb
Erschienen im März 2017
ISBN 9783442756841
20 €

26. Mai 2017

Verstörende Geschichte




Hat ein Massenmörder eine zweite Chance verdient? Wen steht es zu, darüber zu entscheiden?
Im für mich sehr überraschenden Buch "Heute leben wir" von Emmanuelle Pirotte steht ein asozialer Menschenhasser zusammen mit einem kleinen jüdischen Mädchen im Mittelgrund der Geschichte. Eine ungewöhnliche Konstellation, die noch dazu verleitet, schreckliche Taten zu verzeihen und nach Menschlichkeit, Wärme und Vergebung bei einem Mann zu suchen, der für die SS vollkommen kaltblütig offen und verdeckt hinter feindlichen Linien mordet.

Der Roman ist angesiedelt 1944 in Belgien, wo das kleine jüdische Mädchen Renée auf der Flucht vor den Nazis dem US-Soldaten Matt anvertraut wird. Der vermeintliche Retter Matt oder besser Matthias ist jedoch Teil einer im Belgien verdeckten agierenden SS-Einheit, die bei der "Operation Greif" sowohl den Feind als auch in Belgien versteckte Juden ausrotten soll. Doch Renée bewirkt etwas bei Matthias, der sie nicht erschießt und sich ihrer sogar annimmt. Völlig gegensätzlich befinden sich nun beide auf der Flucht, Matthias, die Tötungsmaschine, der nicht erst seit der Naziherrschaft aus reiner Lust am Töten gemordet hat und Renée, das in sich gekehrte und abgeklärte Mädchen, das viel erlebte und einen faszinierend einfachen und klaren Blick auf Wesentliches hat, und finden sich versteckt auf einem belgischen Bauernhof wieder, umgeben von Nazis und Alliierten Befreiern.

Der vielschichtige und intensiv erzählte Roman hält viele Überraschungen in der Handlung und in der Vergangenheit der Hauptcharaktere bereit. Verstörend nahe steht man Matthias, der rein rational betrachtet ein hassenswerter Charakter ist, den man gerne verurteilen möchte. Aber die Autorin spielt mit dem Leser, sie verführt dazu, dass man geneigt ist, Matthias Glück für die Flucht zu wünschen. Nichts ist wie es scheint, wenig bekommt man direkt dargeboten und oft genug ist man verblüfft und fühlt sich herausgefordert, eigene Werte und ethische Normen zu Rate zu ziehen und das Dargebotene zu hinterfragen.

Nicht nur die beiden Hauptfiguren sind vielschichtig und interessant, auch die anderen Charaktere entziehen sich Schubladendenken, lassen viel Platz und Spielraum für Interpretationen und überraschen in ihrem Handeln. Wagemut und Zivilcourage finden genauso Platz wie Ängstlichkeit und Opportunismus, und interessanterweise misst sich das Handeln der Nebenfiguren meist an der mutigen und gnadenlos realistischen Renée. Mit abschätzendem Blick einer Außenstehenden scheint sie alle Ereignisse zu analysieren, egal ob sie dabei in menschliche Abgründe blickt oder kindliche Freude spürt. Matthias, der eigentlich zu allen den negativen Gegenpol geben könnte, manipuliert nicht nur die Menschen in der Geschichte, sondern auch den Leser mit seiner nahezu perfekten Maske.

Ein ganz winziger Kritikpunkt ist, dass ich sehr gerne nicht den weiteren Verlauf der Geschichte nach der Befreiung des kleinen Bauernhofes erfahren hätte. Für mich geht dadurch die psychologische Faszination der Situation auf dem belgischen Hof, die wie ein Blitzlicht aus dem großen Ganzen heraus eine Menschengruppe fokkusiert, verloren in den nachfolgenden Erklärungen und Ereignissen. Aber das ist wie immer Geschmackssache...

Es ist ein großartiges Buch, das nicht nur spannend und ergreifend eine tiefgründige Geschichte erzählt, sondern auch Zweifel an Moral und Ethik in den Raum stellt, zur Menschlichkeit und Sympathie verführt für die nicht wirklich fassbaren Hauptfigur Matthias und mir so vor Augen führt, dass ich durchaus manipulierbar bin, auch wenn ich mich sehr gerne dagegen wehren möchte.
Ich vergebe fünf Sterne und eine unbedingte Leseempfehlung.




Emmanuelle Pirotte "Heute leben wir"
Roman gebunden, 288 Seiten
Verlag: S. Fischer
ISBN 9783103972115
Erschienen im März 2017
20 €