24. Mai 2020

Armes Indien





Täglich knapp 200 Kinder verschwinden in Indien, die meisten werden nicht einmal vermisst.
Deepa Anappara benutzt für ihren Roman „Die Detektive vom Bhoot-Basar“ eine auf tatsächlichen Ereignissen beruhende Geschichte über die Entführung von Kindern. Die Autorin führt den Leser in ihrem großartigen Debüt-Roman in ein Armenviertel in Dehli, wo bei einer Entführungsserie Kinder aus dem Slum verschwinden und eine Bande von Kinderdetektiven dort ermittelt, wo die Polizei wegsieht. 
Weit weg von der glitzernden Bollywood-Welt wird man als Leser mit Grausamkeiten im Slum, unvorstellbaren Lebensumständen und Armut, Frauenfeindlichkeit und Übergriffen von nationalistischen Hindus auf Muslime aus naiver kindlicher Sicht konfrontiert. Beim Lesen wirkt das unschuldig, nicht Mitleid erheischend, aber dennoch wie eine Sozialstudie der indischen Unterschicht, die dadurch erträglich ist, dass die kleinen Protagonisten nicht hoffnungslos verloren sind, sich Glücksmomente und Freude bewahren und zumindest in den Geistergeschichten das Gute siegen darf.
Die Autorin weiß wovon sie schreibt, sie hat als Journalistin in Dehli gearbeitet und hatte dort viel Kontakt zu Straßenkindern, denen sie in ihrem Roman ein Gesicht gibt. Ihre Erfahrungen mit den Kindern spiegeln sich in ihrem Buch wider, es sind keine armen duldsamen Opfer sondern aufgeweckte mutige, schlaue und freche Kinder, die selbstbewusst durchs Leben gehen.

Der neunjährige Jai, seine kluge Freundin Pari und der muslimische Faiz sind die Kinderdetektive, die nach dem Verschwinden eines Schulfreundes aus Jais Klasse nach diesem suchen. Jai schaut zu viele Polizeidokus und schwingt sich zum Anführer der Bande auf, Pari kommt als Klügste von allen auf die besten Ideen und Faiz hat viel Lebenserfahrung, arbeitet er doch schon im nahe gelegenen Basar. Alle drei leben im Basti, einem illegalen Slum am Fuß einer großen Müllkippe, hinter der die Wohntürme der Betuchten HiFi-Leute aufragen. Als immer mehr Kinder verschwinden geraten auch die drei kleinen Ermittler in Gefahr.

Durch die Struktur der Geschichte fühlt man sich sofort an Emil und die Detktive oder an Kalle Blomqvist erinnert. Aber das Wesen des Romans besteht nicht in der Aufklärungsarbeit - dazu tragen die Kinder lediglich kleine Schnipsel bei - sondern im Blick auf das Leben in einer Großstadt im heutigen Indien. Ganz nahe darf man den Bewohnern des Basti über die Schulter sehen, ihre Armut im Alltag genauso beobachten wie den Umgang mit der Familie, mit Minderheiten, mit Geistern. Korrupte Polizisten treten im Basti auf genauso wie rechtsnationale Hinduisten. Man bekommt Einblick in die weit geöffnete Schere der Klassenunterschiede, wenn man davon liest, wie Jais Mutter sich für eine HiFi-Madam als Dienstmädchen abschuften muss. Oder wie der Vater eines der entführten Jungen, ein Mann, der für die Reichen die Bügelwäsche erledigt, durch den Wegfall der Arbeitskraft seines Jungen komplett im Schuldenstrudel versinkt. Von undurchdringlichem allgegenwärtigen Smog erzählt die Autorin ebenso wie von der Angst der Bewohner des Basti vor den Bulldozern. Alles betrachtet aus der Sicht des kindlichen Ich-Erzählers Jai, was den vielen Schrecken oft die Spitze nimmt und es für den Leser etwas erträglicher macht.
Es ist eine kluge Wahl der Autorin, den kleinen Jungen erzählen zu lassen. Er ist neugierig und aufgeweckt, unschuldig und darf sich irren, starrt genau hin wo ein Erwachsener wegsehen würde. Und er glaubt an von Mund zu Mund weitergegebene Geistergeschichten, die den Kindern und Verlassenen Hoffnung und Schutz vor der harten Realität spenden.

Am Ende kommt es durch die Mithilfe der drei Freunde Jai, Pari und Faiz zu einer Verhaftung, allerdings wird nicht endgültig geklärt ob es wirklich die Drahtzieher erwischt hat. Auch das Motiv bleibt offen, ebenso wie die entführten Kinder verschwunden bleiben. Wie im richtigen Leben endet das Interesse der Polizei und der Medien nach einem kurzen Aufflackern, denn die Ärmsten der Armen sind einfach nicht wichtig genug um mehr Anstrengungen zu investieren. Dazu fehlt ihnen einfach das Geld zur Bestechung in der korrupten indischen Gesellschaft.
Leichtfüßig beginnt die Geschichte, aber im Verlauf nimmt die Bedrückung immer mehr zu, beim Leser und bei den drei kleinen Detektiven, die zunehmend überfordert sind von Korruption, Diskriminierung, Schmutz, Brutalität und der Enge des Viertels. Als Leser fühlt man sich ebenso, denn es ist keine glückliche Geschichte mit einem guten Ende, auch wenn ab und zu Lebensmut und Hoffnung aufblitzen, lastet das Gelesene schwer auf dem Gemüt und ich fühle mich in meiner Komfortzone etwas unbehaglich und mitschuldig.



Die Detektive vom Bhoot-Basar von Deepa Anappara
Roman gebunden, 400 Seiten
Erschienen im Rowohlt Buchverlag
Am 10. März 2020
ISBN 978-3498001186
Preis 24,00 €


Voller Klischee





Ich habe das Buch „Mrs Fletcher“ von Tom Perrotta im Rahmen einer Leserunde gelesen, was der Grund dafür war, bis zum Ende durchzuhalten. Den vielen lobenden Kritiken in der Presse kann ich mich in keiner Weise anschließen, denn für mich war der Roman über eine reichlich vierzigjährige Frau zwar anfangs von Zynismus und bösem kritischen Witz über die amerikanische Vorort-Mittelschicht geprägt, aber bei längerem Lesen entpuppte sich das Buch als Abfolge scheinbar provokanter Themen voller Klischees, bei denen ich den Verdacht hatte, dass der Autor seiner weiblichen Protagonistin unter dem Deckmantel des Frauenverstehers seine männlichen und oft machohaften Ansichten und Fantasien überstülpt.

Die Geschichte um die Entwicklung der geschiedenen Eve, die nach dem Weggang ihres Sohnes Brendan ans College um ihre Identität zu kämpfen scheint, hatte mich recht schnell verloren. Gelangweilt und einsam probiert sie sich aus, um ins Leben zurückzufinden, arbeitet sich durch eine to-do-Liste gegen ihre Verlassenheit, bleibt auf Pornokanälen und Dating-Sites hängen und besucht wöchentlich ein Seminar zur Genderthematik. Ihr Sohn Brendan feiert, säuft und vögelt sich derweil durch sein neues College-Leben und scheitert an seiner machohaften Art, kehrt geknickt nach Hause zurück. Die Idee klingt gut, aber Tom Perrotta verliert sich leider zum einen in Klischees, zum anderen vermag er sich mit seiner sehr männlichen Sichtweise den weiblichen Figuren nicht annähern. Ich habe mich zwar nicht gerade durchgequält - denn sprachlich und stilistisch ist das Buch völlig in Ordnung und gut zu lesen - aber oft fand ich es einfach ärgerlich.
Nein, ich mag es nicht, wie der Autor eine Frau am Wendepunkt ihres Lebens seine männlichen Fantasien aufzwingt. Und dass er seine Eve am Ende in die große glückliche Rettung einer Ehe rutschen lässt birgt für mich noch mehr an bürgerlichem Klischee, das zudem überhaupt nicht zum Buch zu passen scheint.
Ich weiß auch überhaupt nicht, welcher Zielgruppe ich den Roman ans Herz legen könnte. Männlichen weißen Amerikanern, die gerade beginnen ein wenig über ihren Macho-Tellerrand zu schauen, mit verklemmter Erziehung und Collegeabbruch? Frauen jedenfalls nicht.




Tom Perrotta „Mrs Fletcher“
Roman gebunden, 416 Seiten
Erschienen bei dtv Verlagsgesellschaft
Am 22. März 2020
ISBN 978-3423281751
Preis 22,00 €

17. Mai 2020

Gelungenes Memoir



Rose Tremain schreibt ganz wunderbar, und mit der gleichen Leichtigkeit, die den Stil ihrer Romane ausmacht, erzählt sie von ihren Erinnerungen an ihre Kindheit und Jugend, ohne Groll auf ihre Familie.

Das neue Buch von Rose Tremain „Rosie“ ist eine autobiografische Erzählung, bei der sich die gefeierte Autorin einzelne Episoden aus ihren Kindheits- und Jugenderinnerungen herauspickt und anhand dieser das Familiengeflecht aufzeigt. Sie wuchs trotz der Nachkriegszeit in der gehobenen Londoner Mittelschicht in Wohlstand auf, bei ihrer Mutter oder bei den Großeltern auf dem Landgut. Doch es fehlte die Wärme in der Familie, einzig bei ihrer Nanny Vera, die sich Rosie heimlich als ihre wahre Mutter erträumt, findet sie als Kind Geborgenheit. Die Mutter, unfähig sich den Kindern zu widmen und statt dessen beschäftigt damit, die für sie verlorene Zeit aufzuholen, nimmt sich einen neuen Partner und verfrachtet die beiden Mädchen wie Störfaktoren in ihrem neuen Leben kurzerhand ins Internat, wo Rosie Freundschaften knüpft und ihr künstlerisches Talent durch zwei Lehrerinnen gefördert wird und sie letztlich ihre Bestimmung, das Schreiben, findet.

Mit bestechender Aufrichtigkeit, ohne Groll auf ihre Familie bewegt sich Rose Tremain in diesem Memoir durch ihre Erinnerungen. Sie sucht nach Verständnis für ihre rastlose frustrierte und überforderte Mutter, die ihre Jugendjahre an den Krieg verlor, hat einen scharfen, kritischen und nicht weichgezeichneten Blick auf ihr Umgebung und zeichnet alles dennoch voller Liebe nach. 
Faszinierend ist dabei, dass es Rose Tremain schafft, so leichtfüßig zu schreiben, trotz der schweren Kost, die sie dem Leser serviert. Die Geschichte ist erschütternd und zugleich heiter, fast tröstlich, und vermag zu vermitteln, dass Rose Tremain mit ihrer Vergangenheit versöhnt und mit sich selbst im Reinen ist.

Interessant ist zudem, dass Rose Tremain aus ihren kindlichen Begegnungen das Grundgerüst bzw. Figuren für spätere Romane bezog, und dass sie durch Fußnoten an entsprechenden Stellen den Leser daran teilhaben lässt.

Ich habe dieses Buch sehr gerne gelesen, Rose Tremain erzählt eine berührende Geschichte voller Wärme und Weisheit, ohne Bitterkeit, zusammengesetzt aus vielen kleinen Episoden, ohne den roten Faden dabei zu verlieren.




Rose Tremain „Rosie“
Gebunden, 211 Seiten
Erschienen im Insel Verlag
Am 8. März 2020
ISBN 978-3458171854
Preis 22 €

11. Mai 2020

Erinnerungskultur





Ein äußerst bedrückendes Kapitel der Sowjetgeschichte beschreibt der 1984 in Minsk geborene  Autor Sasha Filipenko in seinem Roman „Rote Kreuze“. Bewegend und authentisch lässt er die 90jährige Tatjana ihre Geschichte erzählen, die sich wie eine fürchterliche Blaupause der Geschichte der vom Stalinregime Verfolgten in der Sowjetunion des 20. Jahrhunderts liest.


Alexander, ein junger Mann, vom Schicksal gebeutelt, zieht nach Minsk und begegnet seiner an Alzheimer erkrankten Nachbarin Tatjana Alexejewna, die ihm sofort ihre Lebensgeschichte erzählt. Zunächst genervt von der alten Dame, die gegen das Vergessen ankämpft, gerät Alexander im Laufe der Zeit immer mehr in den Bann der Schrecken, die Tatjana in ihrem Leben seit Beginn der großen Säuberungen 1937 aushalten musste. Eine entzwei gerissene Familie, Verhaftungen und falsche Anschuldigungen, Folter im Gefängnis, entbehrungsreiche Transporte in Güterzügen und Gulag pflastern den Weg von Tatjana, lange Zeit ohne Rehabilitierung oder geschweige denn Entschuldigung vom Sowjetsystem.


Tatjana kämpft gegen das Vergessen, gegen ihr eigenes und gegen das der Untaten und Unterdrückung normaler unbescholtener Bürger durch das System, sie versucht die Erinnerungen zu pflegen und weiterzugeben, bevor sie der Krankheit anheimfällt.


Ausgangspunkt des Romanes für den Autor waren Briefe des Genfer Roten Kreuzes, die während des Zweiten Weltkrieges an die Regierung der Sowjetunion zwecks Gefangenenaustausch oder zumindest Austausch von Listen Deutscher und Sowjetischer Kriegsgefangener geschickt wurden, die alle seitens der zuständigen sowjetischen Behörden unbeantwortet blieben.


Die Romanfigur Tatjana arbeitete damals als Fremdsprachensekretärin im Außenministerium in Moskau und bearbeitete die Gefangenenlisten aus Genf. Auf einer der Listen findet sie den Namen ihres Mannes, womit dieser als Verräter gilt und sie als seine Ehefrau gleich mit. Sie löscht den Namen ihres Mannes von der Liste, wird aber dennoch von den Stalinistischen Säuberungen am Ende des Krieges erfasst und zur Verräterin abgestempelt, ihr wird das Kind genommen und sie kommt ins Gefängnis.


Tatjanas Geschichte ist zwar Fiktion, ist aber beispielhaft für die Geschichte von Stalin Verfolgter und Gefangener in der 1940er/1950er Jahren, die ohne haltbare Anklage gefoltert, abtransportiert, erschossen wurden oder einfach in den Gulags an Hunger oder Erschöpfung starben. Die vom Autor beigefügten Brief-Dokumente des Genfer Roten Kreuzes unterstreichen den Schrecken der Geschichte auf ganz unheimliche Weise durch ihren sachlich-bürokratischen Ton.


Der Roman ist eine äußerst überzeugende Darstellung der Unterdrückung und ein Kampf wider das Vergessen, auch wenn an manchen Stellen ein bisschen zu dick aufgetragen wurde, insbesondere bei der Rahmenhandlung zu Alexanders Schicksal in den 2000er Jahren. Der Autor versteht es, Tatjanas Geschichte geschickt mit der Gegenwart zu verknüpfen und mit klarer Sprache und viel Spannung zu erzählen, ohne in Pathos zu verfallen. Es ist ein gelungenes Stück Erinnerungskultur, der lesenswerte fünfte Roman des weißrussischen Autors, bei dem ich mich auf weitere Übersetzungen freue.



Sasha Filipenko "Rote Kreuze"
Roman gebunden. 288 Seiten
erschienen bei Diogenes Verlag
am 26. Februar 2020
ISBN 978-357071245
Preis 23,00 €

Stoplernder Ermittler





Im dritten Band „Glasflügel“ der dänischen Thrillerreihe um den Ermittler Jeppe Kørner führt die Autorin Katrine Engberg ihre Leser in die Niederungen des dänischen Gesundheitssystems, genauer gesagt zu psychisch kranken Jugendlichen und dem Umgang mit ihnen.
Sommerfuglen heißt eine Privatklinik, mittlerweile geschlossen, in der Jugendliche mit psychiatrischen Behandlungsbedürfnissen aufgefangen und betreut werden sollten. Der leichtfüßige schöne Name widerspricht vollkommen dem, was hinter den Gemäuern des Anwesens passierte und was Jeppe Kørner im Zusammenhang mit seinen Ermittlungen an spektakulären Mordfällen in Kopenhagen allmählich herausfindet. Da wurden junge Menschen aus privatwirtschaftlicher Geldgier und dem Bestreben nach wissenschaftlicher Reputation misshandelt und als Versuchskaninchen missbraucht, alles unter den abgewandten Blicken der Gesundheitsbehörden und der Gesellschaft. Beschwerden und Nachfragen von Angehörigen liefen ins Leere.
Dann, zwei Jahre nach der Schließung der Privatklinik beginnt eine spektakuläre Mordserie am ehemaligen Personal. Verdächtige gibt es reichlich, und Polizeiassistent Jeppe Kørner hat alle Hände voll zu tun, in verschiedene Richtungen zu ermitteln, zumal er in diesem Band zumindest offiziell ohne seine Kollegin Anette Werner auskommen muss, weil sie sich seit drei Monaten im Mutterschaftsurlaub befindet.

Wie in jedem ihrer Bücher fährt die Autorin zunächst eine Menge Personal auf, viele alte Bekannte und auch neue Personen. Sie schafft es dabei, mit vielen Wegkreuzen und Brotkrumen Spuren und lose Fäden auszulegen, was für hohe Spannung in diesem leisen Thriller sorgt. Man tappt als Leser genau wie Jeppe Kørner lange Zeit im Dunkeln, und Katrine Engberg ist wie bereits bei den Vorgängerbänden für eine Überraschung mit großem Showdown gut.
Daneben gibt es für den Leser viele Nebenher-Informationen aus guter Recherchearbeit, zum Beispiel zum dänischen Gesundheitssystem, über alte medizinische Instrumente oder Schmetterlinge. Mir gefällt prinzipiell diese Mischung aus Information durch gute Recherchearbeit und kriminalistischer Handlung ausgezeichnet, zumal der Handlungsfluss nicht wirklich unterbrochen wird.
Katrine Engberg bleibt den Figuren aus ihren ersten Bänden treu. Jeppe stolpert durch die Ermittlungen und gerät dabei ohne die Hilfe seiner Kollegin Anette fast ins Abseits - ihm soll der Fall sogar entzogen werden. Auch privat hängt er wieder/immer noch in den Seilen, sein Leben ist immer noch weder Fisch noch Fleisch, er ist unentschlossen wie es für ihn weitergehen soll. Esther de Laurenti, die ältere Dame mit Spürsinn, und ihr Mitbewohner Gregers, tauchen auch wieder auf und kommen zumindest mit Personen in Berührung, die in den Kriminalfall verwickelt sind. Und Anette Werber, die sich in ihrem Babyurlaub langweilt, trägt entscheidend zur Lösung des Falles bei, wenn diesmal auch zunächst heimlich und mit dem Unmut ihres Lebensgefährten.

Der Thriller lebt von den Schauplätzen der Ermittlungen und den Rahmenbedingungen, weniger von der Ermittlung selbst. Vielstimmig erzählt, auch aus der Sicht des Mörders, verzetteltet sich in meinen Augen die Ermittlungsarbeit diesmal zu sehr. Der Kriminalassistent Jeppe Kørner wirkt wie bereits in den vorangegangenen Bänden unprofessionell , aber mir fehlte diesmal beim Lesen seine Kollegin Anette Werner an seiner Seite als Ausgleich. So stolpert man längere Zeit durch den Krimi, komplett ohne Richtung.
Die Autorin bleibt sich treu - mag vielleicht sein, dass das für mich bei Band drei schon ein wenig zu abgenutzt ist, dass der Hauptermittler weder die Untersuchung noch sein Privatleben wirklich im Griff hat.
Trotz allem ist es ein lesenswerter solide geschriebener Krimi, der zum Miträtseln anregt, der einen logischen Schluß mit Auflösung hat, auch wenn mir persönlich der Showdown diesmal etwas zu übertrieben war.




Katrine Engberg "Glasflügel"
Thriller, gebunden, 432 Seiten
Erschienen bei diogenes Verlag 
Am 26. Februar 2020
ISBN 978-3257071238
Preis 20 €

Magischer Kurzroman






„Da sind wir“, der Roman des englischen Altmeisters Graham Swift, spielt im Varieté-Milieu in England Ende der 1050er Jahre und ist ein kleines magisches Meisterwerk, obwohl eine altbekannte Geschichte zweier Männer mit einer Frau dazwischen erzählt wird.


Jack und Ronnie, Freunde seit dem Zweiten Weltkrieg, beglücken im Sommer 1959 im mondänen Britischen Seebad Brighton das Sommerpublikum mit ihren Showeinlagen: Jack als Entertainer und Ronnie als Magier mit seiner bezaubernden Assistentin Evie White. Es ist die altbekannte menage au trois – eine Frau zwischen zwei Männern, und dennoch neu und überraschend lebensnah erzählt. Evie ist mit Ronnie verlobt, verfällt jedoch dem womanizer Jack und beginnt mit ihm eine Affäre, und aus den beiden Freunden werden Rivalen, bis Ronnie letztlich bei einer seiner aufregenden Tricks in der letzten show des Sommers verschwindet, und verschwunden bleibt. Kann er wirklich zaubern oder steckt mehr dahinter, wie die Polizei glaubt?


Gekonnt, hypnotisch, mit vielen weichgezeichneten Übergängen erzählt Graham Swift diese Geschichte, bei der er mit sanft aufgebauter Spannung die Vergangenheiten der drei Figuren ausleuchtet, aber dabei nie den roten Faden aus den Augen verliert. Die liebevolle Gestaltung seiner Charaktere und die Nähe zum Geschehen machen den Kurzroman zu einem kleinen Juwel guter Erzählkunst. Das kleinbürgerliche und enge Kriegsmilieu Londons werden ebenso fassbar wie die schillernden Bühnenshows voller Glitter und Glamour im Seebad Brighton, eine perfekte Komposition der Handlung mit stimmungsvollen manchmal fast schwebenden Bildern sorgen für ausgezeichnete Unterhaltung. Bravo dafür und unbedingte Leseempfehlung von mir.




Das sind wir von Graham Swift
Roman gebunden, 160 Seiten
Erschienen bei dtv Verlagsgesellschaft
Am 13.März 2020
ISBN 978-3-423282208
Preis 20 €