Täglich knapp 200 Kinder verschwinden in Indien, die meisten werden nicht einmal vermisst.
Deepa Anappara benutzt für ihren Roman „Die Detektive vom Bhoot-Basar“ eine auf tatsächlichen Ereignissen beruhende Geschichte über die Entführung von Kindern. Die Autorin führt den Leser in ihrem großartigen Debüt-Roman in ein Armenviertel in Dehli, wo bei einer Entführungsserie Kinder aus dem Slum verschwinden und eine Bande von Kinderdetektiven dort ermittelt, wo die Polizei wegsieht.
Weit weg von der glitzernden Bollywood-Welt wird man als Leser mit Grausamkeiten im Slum, unvorstellbaren Lebensumständen und Armut, Frauenfeindlichkeit und Übergriffen von nationalistischen Hindus auf Muslime aus naiver kindlicher Sicht konfrontiert. Beim Lesen wirkt das unschuldig, nicht Mitleid erheischend, aber dennoch wie eine Sozialstudie der indischen Unterschicht, die dadurch erträglich ist, dass die kleinen Protagonisten nicht hoffnungslos verloren sind, sich Glücksmomente und Freude bewahren und zumindest in den Geistergeschichten das Gute siegen darf.
Die Autorin weiß wovon sie schreibt, sie hat als Journalistin in Dehli gearbeitet und hatte dort viel Kontakt zu Straßenkindern, denen sie in ihrem Roman ein Gesicht gibt. Ihre Erfahrungen mit den Kindern spiegeln sich in ihrem Buch wider, es sind keine armen duldsamen Opfer sondern aufgeweckte mutige, schlaue und freche Kinder, die selbstbewusst durchs Leben gehen.
Der neunjährige Jai, seine kluge Freundin Pari und der muslimische Faiz sind die Kinderdetektive, die nach dem Verschwinden eines Schulfreundes aus Jais Klasse nach diesem suchen. Jai schaut zu viele Polizeidokus und schwingt sich zum Anführer der Bande auf, Pari kommt als Klügste von allen auf die besten Ideen und Faiz hat viel Lebenserfahrung, arbeitet er doch schon im nahe gelegenen Basar. Alle drei leben im Basti, einem illegalen Slum am Fuß einer großen Müllkippe, hinter der die Wohntürme der Betuchten HiFi-Leute aufragen. Als immer mehr Kinder verschwinden geraten auch die drei kleinen Ermittler in Gefahr.
Durch die Struktur der Geschichte fühlt man sich sofort an Emil und die Detktive oder an Kalle Blomqvist erinnert. Aber das Wesen des Romans besteht nicht in der Aufklärungsarbeit - dazu tragen die Kinder lediglich kleine Schnipsel bei - sondern im Blick auf das Leben in einer Großstadt im heutigen Indien. Ganz nahe darf man den Bewohnern des Basti über die Schulter sehen, ihre Armut im Alltag genauso beobachten wie den Umgang mit der Familie, mit Minderheiten, mit Geistern. Korrupte Polizisten treten im Basti auf genauso wie rechtsnationale Hinduisten. Man bekommt Einblick in die weit geöffnete Schere der Klassenunterschiede, wenn man davon liest, wie Jais Mutter sich für eine HiFi-Madam als Dienstmädchen abschuften muss. Oder wie der Vater eines der entführten Jungen, ein Mann, der für die Reichen die Bügelwäsche erledigt, durch den Wegfall der Arbeitskraft seines Jungen komplett im Schuldenstrudel versinkt. Von undurchdringlichem allgegenwärtigen Smog erzählt die Autorin ebenso wie von der Angst der Bewohner des Basti vor den Bulldozern. Alles betrachtet aus der Sicht des kindlichen Ich-Erzählers Jai, was den vielen Schrecken oft die Spitze nimmt und es für den Leser etwas erträglicher macht.
Es ist eine kluge Wahl der Autorin, den kleinen Jungen erzählen zu lassen. Er ist neugierig und aufgeweckt, unschuldig und darf sich irren, starrt genau hin wo ein Erwachsener wegsehen würde. Und er glaubt an von Mund zu Mund weitergegebene Geistergeschichten, die den Kindern und Verlassenen Hoffnung und Schutz vor der harten Realität spenden.
Am Ende kommt es durch die Mithilfe der drei Freunde Jai, Pari und Faiz zu einer Verhaftung, allerdings wird nicht endgültig geklärt ob es wirklich die Drahtzieher erwischt hat. Auch das Motiv bleibt offen, ebenso wie die entführten Kinder verschwunden bleiben. Wie im richtigen Leben endet das Interesse der Polizei und der Medien nach einem kurzen Aufflackern, denn die Ärmsten der Armen sind einfach nicht wichtig genug um mehr Anstrengungen zu investieren. Dazu fehlt ihnen einfach das Geld zur Bestechung in der korrupten indischen Gesellschaft.
Leichtfüßig beginnt die Geschichte, aber im Verlauf nimmt die Bedrückung immer mehr zu, beim Leser und bei den drei kleinen Detektiven, die zunehmend überfordert sind von Korruption, Diskriminierung, Schmutz, Brutalität und der Enge des Viertels. Als Leser fühlt man sich ebenso, denn es ist keine glückliche Geschichte mit einem guten Ende, auch wenn ab und zu Lebensmut und Hoffnung aufblitzen, lastet das Gelesene schwer auf dem Gemüt und ich fühle mich in meiner Komfortzone etwas unbehaglich und mitschuldig.
Die Detektive vom Bhoot-Basar von Deepa Anappara
Roman gebunden, 400 Seiten
Erschienen im Rowohlt Buchverlag
Am 10. März 2020
ISBN 978-3498001186
Preis 24,00 €
Sommerfuglen heißt eine Privatklinik, mittlerweile geschlossen, in der Jugendliche mit psychiatrischen Behandlungsbedürfnissen aufgefangen und betreut werden sollten. Der leichtfüßige schöne Name widerspricht vollkommen dem, was hinter den Gemäuern des Anwesens passierte und was Jeppe Kørner im Zusammenhang mit seinen Ermittlungen an spektakulären Mordfällen in Kopenhagen allmählich herausfindet. Da wurden junge Menschen aus privatwirtschaftlicher Geldgier und dem Bestreben nach wissenschaftlicher Reputation misshandelt und als Versuchskaninchen missbraucht, alles unter den abgewandten Blicken der Gesundheitsbehörden und der Gesellschaft. Beschwerden und Nachfragen von Angehörigen liefen ins Leere.
Dann, zwei Jahre nach der Schließung der Privatklinik beginnt eine spektakuläre Mordserie am ehemaligen Personal. Verdächtige gibt es reichlich, und Polizeiassistent Jeppe Kørner hat alle Hände voll zu tun, in verschiedene Richtungen zu ermitteln, zumal er in diesem Band zumindest offiziell ohne seine Kollegin Anette Werner auskommen muss, weil sie sich seit drei Monaten im Mutterschaftsurlaub befindet.
Wie in jedem ihrer Bücher fährt die Autorin zunächst eine Menge Personal auf, viele alte Bekannte und auch neue Personen. Sie schafft es dabei, mit vielen Wegkreuzen und Brotkrumen Spuren und lose Fäden auszulegen, was für hohe Spannung in diesem leisen Thriller sorgt. Man tappt als Leser genau wie Jeppe Kørner lange Zeit im Dunkeln, und Katrine Engberg ist wie bereits bei den Vorgängerbänden für eine Überraschung mit großem Showdown gut.
Daneben gibt es für den Leser viele Nebenher-Informationen aus guter Recherchearbeit, zum Beispiel zum dänischen Gesundheitssystem, über alte medizinische Instrumente oder Schmetterlinge. Mir gefällt prinzipiell diese Mischung aus Information durch gute Recherchearbeit und kriminalistischer Handlung ausgezeichnet, zumal der Handlungsfluss nicht wirklich unterbrochen wird.
Katrine Engberg bleibt den Figuren aus ihren ersten Bänden treu. Jeppe stolpert durch die Ermittlungen und gerät dabei ohne die Hilfe seiner Kollegin Anette fast ins Abseits - ihm soll der Fall sogar entzogen werden. Auch privat hängt er wieder/immer noch in den Seilen, sein Leben ist immer noch weder Fisch noch Fleisch, er ist unentschlossen wie es für ihn weitergehen soll. Esther de Laurenti, die ältere Dame mit Spürsinn, und ihr Mitbewohner Gregers, tauchen auch wieder auf und kommen zumindest mit Personen in Berührung, die in den Kriminalfall verwickelt sind. Und Anette Werber, die sich in ihrem Babyurlaub langweilt, trägt entscheidend zur Lösung des Falles bei, wenn diesmal auch zunächst heimlich und mit dem Unmut ihres Lebensgefährten.
Der Thriller lebt von den Schauplätzen der Ermittlungen und den Rahmenbedingungen, weniger von der Ermittlung selbst. Vielstimmig erzählt, auch aus der Sicht des Mörders, verzetteltet sich in meinen Augen die Ermittlungsarbeit diesmal zu sehr. Der Kriminalassistent Jeppe Kørner wirkt wie bereits in den vorangegangenen Bänden unprofessionell , aber mir fehlte diesmal beim Lesen seine Kollegin Anette Werner an seiner Seite als Ausgleich. So stolpert man längere Zeit durch den Krimi, komplett ohne Richtung.
Die Autorin bleibt sich treu - mag vielleicht sein, dass das für mich bei Band drei schon ein wenig zu abgenutzt ist, dass der Hauptermittler weder die Untersuchung noch sein Privatleben wirklich im Griff hat.
Trotz allem ist es ein lesenswerter solide geschriebener Krimi, der zum Miträtseln anregt, der einen logischen Schluß mit Auflösung hat, auch wenn mir persönlich der Showdown diesmal etwas zu übertrieben war.