27. Mai 2019

Lotosweg






Der koreanische Autor Hwang Sok-Yong entführt den Leser in seinem Werk „Die Lotosblüte“  ins 19. Jahrhundert in die konfliktreiche Zeit des Taiping-Aufstandes, der politischen Verwicklungen zwischen China, den Briten, Amerikanern und den Japanern.
Vor diesem Hintergrund rollt der Autor die Geschichte der Koreanerin Chong Shim auf, die mit 15 Jahren von ihrer Stiefmutter an einen Mädchenhändler verkauft wird. Sie kommt zu einem 80jährigen Chinesen nach Nanking, dem sie als Zweitfrau Lebenskraft spenden soll und wo sie den Namen Lotosblüte erhält. Später im Bordell ausgebildet, geraubt und wieder verkauft ist ihr „Lotosweg“ mit Stationen in Taiwan, Singapur, Nagasaki, den Ryukyu-Inseln und Satsuma von Namenswechseln begleitet.
Nach ihrem ersten Wandel auf ihrer Reise nach China, auf der sie einer koreanischen Legende gemäß dem Meeresgott begegnet und als andere Person aus dem Meer auftaucht, passt sich Chong Shim Chamäleon-artig den veränderten Gegebenheiten an, wechselt mit jeder Station den Namen und schafft es, besser davon zu kommen als andere Frauen in ihrer Situation.
Das Schicksal der Lotosblüte und ihrer Leidensgenossinnen stellt die Situation der zwangsprostituierten Frauen in Asien dar, die mit ihrer Hoffnung, durch einen reichen und zuvorkommenden Freier durch Heirat zu entkommen eigentlich letztlich helfen, dieses System zu erhalten. Chong Shim ist eine Dienende, und bleibt es auch nach ihrer Heirat.

Historisch beginnt die Handlung in der Zeit kurz vor dem ersten Opiumkrieg, allerdings bekommt man als Leser das Beiwerk nicht geliefert, sondern muss es sich genau wie die Reiseroute der Lotosblüte erarbeiten. Das ist mühsam, weil zum Beispiel Orte in alte chinesische Ortsnamen übertragen wurden und schwer auffindbar sind. Im Gegensatz dazu steht die wahrscheinlich durch die Übersetzung bedingte sehr einfache und moderne Sprache, die dem Buch in meinen Augen viel Authentizität nimmt.
Sehr detailliert und kalt beschreibt der Autor Landschaften, aber auch gewaltvolle Sexszenen, die dann im krassen Gegensatz zum angeblichen Lustempfinden der prostituierten Frauen in Zwangslage stehen - für mich ist das zum einen zu viel und zum anderen so absolut nicht nachvollziehbar und glaubhaft.

Ich weiß nicht, ob ich der asiatischen (Sprach)Kultur für diese Geschichte zu fern bin. Und ohne Recherche zu historischem Hintergrund wären sehr viele Informationen nur an mir vorbei geflogen, weil nur angedeutet. Ich denke, dass der Roman für Leser, die besser mit asiatischer Kultur und Geschichte vertraut sind als ich, gewinnbringend ist. Ich habe mich gestoßen an den nicht greifbaren Figuren, an Orten und Geschichtsdaten, mit denen ich erst beim Nachschlagen etwas anfangen kann und an der in meinen Augen nicht wirklich gelungenen Übersetzung aus dem Koreanischen.
Es ist durchaus interessant von Trostfrauen, Konkubinen und Mädchenhandel in Asien im 19.Jahrhundert zu lesen, aber für den nicht-asiatischen Buchmarkt wäre eine kurze Zeit- und Ortstafel sehr hilfreich gewesen.

Hwang Sok-Yong
Die Lotosblüte
Roman gebunden, 496 Seiten
Erschienen im Europa-Verlag
10.Mai 2019
ISBN 978-3-958902626

Preis 24,00 €



19. Mai 2019

Trauriges Mahnmal




Der Roman „Die Frauen von Själö“ der Autorin Johanna Holmström erzählt die Geschichte zweier Frauen, die zu unterschiedlichen Zeiten Insassinnen einer Nervenheilanstalt, gelegen auf einer Insel im finnischen Schörengarten, sind. Beispielhaft stehen diese beiden Einzelschicksale im Mittelpunkt der Erzählung für das Schicksal von psychisch kranken Frauen zu früheren Zeiten, den Behandlung eher an Gefängnisaufenthalte als an Heilung erinnerte.

Die Handlung setzt 1891 mit Kristina ein, die nach der Geburt eines unehelichen Kindes im gesellschaftlichen Abseits stehend zwar einen Partner findet, doch ihr Alltag ist bestimmt von Einsamkeit und zunehmender Erschöpfung. Sie ertränkt ihre eigenen Kinder im Fluss und landet schließlich in der Nervenheilanstalt Själö. Dies ist für sie wie für die meisten anderen Patientinnen auch Endstation, die sie nie wieder verlassen werden. Gesellschaftlich geächtet und nicht gebraucht, ohne Therapie, vegetieren die eingesperrten Frauen in diesem Gefängnis dahin.

Die 17jährige Elli wird in den 1930er Jahren mit Depressionen nach einem Ausbruchsversuch mit ihrer großen Liebe in die Nervenheilanstalt eingewiesen. Sigrid, eine neue Pflegerin, die ihren Dienst kurz vor Ellis Einweisung antrat, versucht sich den Patientinnen mit Verständnis und Empathie zu nähern anstatt zu bestrafen und stößt dabei an Grenzen des eingefahrenen unmenschlichen Systems und harter überholter Denkstrukturen.

Schonungslos und eindringlich schreibt die Autorin davon, wie die psychisch kranken Frauen in der Anstalt weggesperrt, bestraft und gegängelt statt behandelt wurden und ohne Hoffnung verkümmerten.  Erschreckend liest es sich, wie Menschen, die den gesellschaftlichen Anforderungen nicht genügen konnten, einfach aus dem Blickwinkel der Menschen verschwanden und in Nervenheilanstalten wie in der Klinik Själö verwahrt wurden, ohne Chance auf Rückweg ins normale Leben.

Schon der historische Beginn mit der Beschreibung eines verabscheuungswürdigen Behandlungsverfahrens der Hysterie des französischen Hofarztes Pierre Pommes aus dem 18.Jahrhundert durch Kältebad, bei dem die stolz verkündete Heilung auch den Tod der Patientin zur Folge hatte, weist auf gute Recherche der Autorin hin.
Doch werden die Erwartungen der Leser an eine psychiatrische Schauergeschichte nicht erfüllt, Johanna Holmström wählt leise Töne, um von der verheerenden Frauenschicksalen zu berichten, von Landschaftsbeschreibungen getragen vermittelt sie aber trotz der Ruhe ein Gefühl der Gewalt.

Die mit viel Empathie gezeichneten Frauenfiguren tragen die Geschichte, Männer sind die abwesenden Strippenzieher im Hintergrund, was den Roman in meinen Augen den damaligen Einfluß des Patriarchats auf Frauen umso deutlicher herausstreicht.


Ein lesenswertes Buch, das auf Tatsachen beruht, sehr eindringlich geschrieben, wenn auch manchmal ein bisschen langatmig und mit einem mir zu versöhnlichen Ende.



Johanna Holmström „Die Frauen von Själö“
Roman gebunden, 368 Seiten
Erschienen im Ullstein Verlag
am 8.Februar 2019
ISBN 978-3-550050442
Preis 22€

Leise und berührend





Sally rebelliert, gegen alles und Jeden. Sie ist wütend auf ihre Eltern, auf die Psychiater der Klinik, die ihr sagen, was sie tun muss um ihr Leben zu leben und wie sie mit ihren Essstörungen umgehen muss. Sie ist aus der Klinik geflohen und trifft auf Liss, eine knapp 50jährige Frau, die allein auf einem großen Bauernhof am Weinberg lebt. Liss nimmt Sally auf, und mit ihrem Pragmatismus beruhigt sie Sally, sie nimmt sie wie sie ist, sie legt ihr keine Verpflichtungen oder Empfehlungen nahe.

Beide beginnen vorsichtig, Vertrauen zueinander zu fassen und nähern sich aneinander an. Sally beginnt wieder zu essen, ohne dass es verlangt wird, sie findet großes Vergnügen an einfachen Kartoffeln oder an den Birnen alter Sorten, die Liss in ihrem Obstgarten anbaut.
Liss findet in Sally’s rebellischer Art sich selbst wieder, als junges Mädchen musste sie gegen ihren Vater und die von ihm auferlegten Zwänge ankommen. Davon getrieben flüchtet sie in eine Ehe und bekommt neue Fesseln angelegt, die sie bis zur Unerträglichkeit erdrücken.

Ewald Arenz versteht es auf einzigartige Weise, den Leser in die Geschichte zu holen. Schon auf den ersten Seiten spürt man die Wärme der Sonne des Spätsommertages, riecht die Erde, sieht das Flirren und die Insekten in der Luft. Sprachlich zaubert er Bilder, die die Einfachheit des Lebens auf dem Bauernhof mit viel Arbeit, aber auch dem großen Vergnügen und der Zufriedenheit nach körperlicher Arbeit lebendig werden lassen. Damit schafft er große Nähe zu den Figuren und zur Geschichte. Mit viel Warmherzigkeit und Liebe hat Ewald Arenz die beiden versehrten Frauen gestaltet, er vergibt ihnen ihre Schwächen, lässt sie aufstehen und kämpfen, auch wenn sich beide dabei stützend aneinander lehnen müssen.


„Alte Sorten“ ist ein leise erzähltes kraftvolles und warmherziges Buch über einen Neuanfang, das ich sehr gerne gelesen habe.




Ewald Arenz „Alte Sorten“
Roman, gebunden, 256 Seiten
Erschienen im Dumont Buchverlag
am 3. April 2019
ISBN 978-3-83218381
Preis 20€

18. Mai 2019

Warmherziges Ferienbuch




Lapidar, very British und wunderbar leichtfüßig erzählt Jane Gardam in ihrem Buch „Bell und Harry“ die Sommergeschichten einer Freundschaft, grandios übersetzt von Isabel Bogdan, die den Ton der Autorin sehr gut trifft.

Die Londoner Familie Bateman sucht auf dem Land Ruhe und Enstpannung. Sie mieten das Farmerhaus „Light Trees“ von der Familie Teesdale im Westmorland, einer alten Bergbauregion in Yorkshire. Hoch auf den Hügeln nahe am Tal Mallerstang finden die jüngsten beider Familien, Bell Teesdale und Harry Bateman zueinander, und was die Erwachsenen der Familien im ersten Sommer in den 1960er Jahren nicht zustande brachten schaffen die beiden: Verständnis füreinander bei völlig unterschiedlicher städtischer und bäuerlicher Lebensweise und Denken zu schaffen. Eine tiefe Freundschaft zwischen Bell und Harry entsteht, die jahrelang hält, bis ins Erwachsenenalter, Sommer für Sommer durch neue Abenteuer geschürt.

Leicht, witzig und manchmal hintersinnig lesen sich die Geschichten der Sommerabenteuer der beiden Jungen, die episodenhaft aneinander gereiht das Buch ergeben. Ruhig und sehr menschlich, mit großer Wärme spult Jane Gardam die Abenteuer der beiden Jungen auf. Schlimmes passiert nebenbei, aber die Welt im „Hohlen Land“ ist in Ordnung, so dass das Buch ein wahres Wohlfühlbuch ist.

Ein bisschen gelangweilt habe ich mich allerdings nach einer Weile, denn das Buch, als leuchtendes Ferienbuch angepriesen, liest sich ein bisschen wie Bullerbü für Erwachsene. Scherzhaft sind alle Abenteuer, keine wirklichen Konflikte trüben die heile Welt, und am Ende wird alles gut, trotz großer Krisen. Das ist sicher Jammern auf hohem Niveau, denn die Weisheit und große Empathie, mit der die oftmals schrulligen Figuren beim Leser ankommen, der äußerst gekonnte Sprachwitz und das leichtfüßige Handeln der Figuren sind nun mal Konzept und überzeugen, dass die Autorin ihre Charaktere liebt. 


Sprachlich einfach nur großartig, voller Wärme und Witz kann ich dieses Buch für Leser von leichtfüßigen hintersinnigen Wohlfühlgeschichten sehr empfehlen.



Jane Gardam „Bell und Harry“
Aus denn Englischen von Isabel Bogdan
Roman, gebunden, 192 Seiten
Verlag Hanser Berlin
ISBN 978-3-446-26199-0
20 €

28. April 2019

Grandios und aufrüttelnd






„Ein Roman wie ein Faustschlag“ steht auf dem rückwärtigen Cover des Buches als Zitat aus Le Parisien, und genau dieses Gefühl hat man nach dem Lesen des neuesten Werkes von Sorj Chaladon „Am Tag davor“. Der französische Bestsellerautor und Journalist hat mit diesem Buch den 42 Opfern des Grubenunglücks in Liévin vom 27.Dezember 1974 und zugleich allen Bergleuten, die unter unmenschlichen Bedingungen ihr Leben aufs Spiel setzten, ein Denkmal gesetzt.

Vierzig Jahre nach dem Grubenunglück in der Zeche Saint-Amé in Liévin hat Michel Flavent noch nicht damit abgeschlossen. Er ist der Bruder von Joseph Flavent, der in der Nacht der Grubengasexplosion verunglückte und an den Folgen starb. 
Michel fährt mit seinem geliebten und bewunderten älteren Bruder Joseph in der Nacht vor dem Grubenunglück mit dem Moped durch die französische Stadt Liévin, vorbei am Tor der Zeche Saint-Amé, wo Joseph unter Tage als Hauer arbeitet. Er fühlt sich frei und stark, genießt das Große-Bruder-Lachen und will werden was sein Bruder ist - ein Bergmann und ein Held. Schon als kleiner Junge versuchte er dem Bruder nachzueifern, aß begeistert das aus dem Bergwerk mitgebrachte „Hasenbrot“ und jetzt mit 16 Jahren hegt er den heimlichen Wunsch, nicht den Bauernhof seines Vaters zu übernehmen, das Lyće zu verlassen und genau wie Joseph als Kumpel und Mechaniker im Bergwerk zu arbeiten.

Am 27.Dezember 1974 in den frühen Morgenstunden geschieht das Unfassbare. Eine Grubengasexplosion passiert wegen eines vermeidbaren Fehlers der Werksleitung, bei der 42 Bergleute unter Tage gefangen sind und umkommen. Joseph Flavent stirbt später im Krankenhaus an den Folgen seiner Verletzungen und Michel schwört Rache an den Verantwortlichen. Joseph erscheint nicht in der Liste der Opfer, bekommt keinen Platz auf den Ehrentafeln, wird in den Ehrenreden der Stadtväter und Politiker nicht erwähnt und erscheint auch nicht im Verzeichnis der verlorenen schutzbefohlenen Kumpel des Steigers Lucien Dravelle, den Michel als den wahren Schuldigen wähnt.

Trotz des Umzuges nach Paris, obwohl er keine Kontakte mehr in seine alte Heimat hat, ist Michel dem Unglück, das seinen Bruder ereilte, verfallen. Er richtet in seiner Garage ein Mausoleum ein, dort sammelt er neben Erinnerungsstücken an seinen Bruder wild zusammengetragene Bergmannsausrüstung, Zeitungsartikel, Bilder. Er befasst sich mit der Ursache der Explosion von 1974, ermittelt fieberhaft in der Frage der Schuld, verfolgt das Leben der Verantwortlichen, insbesondere das des ehemaligen Steigers Dravelle. Der Schmerz wird dabei nicht kleiner, und nachdem er nach dem Krebstod seiner Frau Cecile seine letzte Stütze und den letzen Menschen verliert, der ihm etwas bedeutet, beginnt Michel knapp 40 Jahre nach dem Grubenunglück von 1974 seinen Rachefeldzug in seiner alten Heimat.

In der seit Jahrhunderten vom Untertagebau geprägten Gegend Nordfrankreichs hatte man bis Ende der 1970er Jahre, also zu Zeiten von Michels Jugend, nur die Wahl zwischen Scholle und Zeche. Überall waren die Auswirkungen des Bergbaus zu sehen und zu spüren. Abraumhalden bestimmten das Landschaftsbild, Kohlenstaub bedeckte die Felder und das Gemüse, Bergleute erkannte man auf der Straße am gebeugten Gang und am Husten, aber auch am Stolz. Im Laufe der Jahrhunderte hatte sich die Technik für den Bergbau zwar enorm weiterentwickelt, aber Profitgier und Einsparungen stand beim Grubenunglück 1974 auf der Schuldliste ganz oben. Niemand wurde ernsthaft dafür verurteilt, dass es gravierende und vor allem vermeidbare Mängel im Sicherheitssystem der kurz vor der Schließung stehenden Zeche Saint-Amé gab, dass unter erhöhten Gefahr wegen nicht funktionierender Bewetterung und ohne Befeuchtung der Luft die Bergleute zur letzten Ausbeute des alten Schachtes in die Tiefe geschickt wurden und dabei umkamen. 

Sorj Chaladon erinnert daran, prangert an, zeigt auf die Schuldigen. Doch tut er dies nie brachial, sondern immer verpackt in die Brüder-Geschichte aus Verdrängung, Schuld, Sühne und Vergebung, im Rahmen der Rache von Michel und einer danach folgenden Verhandlung vor Gericht. Chaladon erzählt dies vielstimmig durch den Mund des Bruders des Opfers Michel Flavent, durch Lucien Dravelle, den alten Steiger, den Michel sein Leben lang verfolgt und der am Ende selbst ein gebrochener Mann ist, durch die Anwältin von Michel vor Gericht, die ebenfalls mit der Zeche vor Ort verbandelt ist, und durch das Gericht selbst mit Staatsanwaltschaft, Richterin und Geschworenen, die ein unabhängiges Urteil zu fällen haben. Und voller erzählerischem Geschick stellt Chaladon dabei das bisher aufgebaute Mitgefühl des Lesers mit dem Bruder des Opfers, mit Michel, auf die Probe.

Mit karger spröder Sprache rollt Sorj Chaladon die Geschichte auf, gekonnt Spannung aufbauend durch Perspektiv- und Zeitwechsel, aber nie zu sehr zerfasernd. Es ist großartig, wie Chaladon es schafft, den Leser in Gefühlstaumel zu stürzen ohne allzu viele Worte. Wie das Buch den Focus vom Grubenunglück, Rache, Schuld und später auf eine Familientragödie richtet, die die Hauptfigur Michel überraschend in neuem Licht erscheinen lässt, ist ebenso brilliant wie verblüffend. Sorj Chaladon kann es einfach, er zieht den Leser in den Bann mit der Mischung aus wütender, fast reportagenhafter Wahrheit über das Grubenunglück und dem fiktiven Familiendrama um das von ihm erfundene 43.Opfer Joseph Flavent.
Ein Buch, das unbedingt gelesen werden muss.



Sorj Chaladon „Am Tag davor“
aus dem Französischen von Brigitte Große
Roman, gebunden, 320 Seiten
Erschienen bei dtv Verlagsgesellschaft
am 18. April 2019
ISBN 978-3-3423281690
Preis 23,00 €

Unsympath


Quelle: www.diogenes.ch


Ein Wortakrobat und Hochstapler ist er, der Protagonist Johannes Hosea Stärckle aus dem neuen Roman von Charles Lewinsky „Der Stotterer“. Ein unzuverlässiger Erzähler, ein unsympathischer Egomane, der beim Monologisieren ohne Gegenpart sein Umfeld genau so wie den Leser auf die Schippe nimmt. Daran muss man sich beim Lesen zunächst gewöhnen.

Der Protagonist stottert seit Kindertagen, kaum ein Wort kann seinen Mund verlassen ohne Stotterei. Deshalb ist er dem geschriebenen Wort sehr zugetan und beherrscht schriftliche Kommunikation meisterlich. Er schreibt beruflich, aber nicht als Journalist oder Autor, sondern als Betrüger, weshalb er jetzt im Knast sitzt. Dort schreibt er an den Geistlichen des Gefängnisses, den Padre, um seine Situation zu verbessern, er vertraut ihm (und dem Leser) Erinnerungen und Ereignisse aus seiner Kindheit an, über sein Leben in einer christlichen Sekte, über seine Familie, über seine Betrügereien. Was zunächst wie die Beichte eines Bekehrten klingt ist mit großer Wahrscheinlichkeit ausschließlich Mittel zum Zweck, und der Wahrheitsgehalt der Briefe ist auch für den Leser unklar. Der Stotter manipuliert den Padre mit seinen Briefen genauso wie den Leser. Als mächtige Mithäftlinge von diesem Talent Wind bekommen, versuchen sie Profit aus dem Stotterer zu schlagen, da dieser sich nicht wirklich wehren kann. Doch Stärckle behält den Überblick, denn die Sprache ist seine Macht, und er spielt auch hier seine Möglichkeiten voll aus, dramatisch und manipulativ.

Genau genommen ist Stärckle der einzige Erzähler im Roman. Intelligent und äußerst geschickt hält er alle Fäden in der Hand, führt den Padre und andere Mächtige im Gefängnis an der Nase herum wie zuvor alte Damen und so wie auch den Leser. Er bündelt die Unsympathien den Romans in seiner Person, er ist unzuverlässig und unglaubwürdig, letztlich macht er vor nichts und niemanden Halt. Stärckle taugt nicht zu einer Romanfigur, mit der man sich identifizieren kann oder der man heimlich die Daumen drückt wie oft anderen Hochstaplern als Romanfigur. Dennoch verführt er den Leser anfangs dazu, ihm sein dramatisiertes Märchen glauben zu wollen, doch seine Hochstapelei und sein äußerst boshaftes und unsoziales Verhalten spielen ihn recht schnell ins Abseits. Lediglich am Schluß bekommt man wieder Zweifel, ob nicht doch Gutes in ihm steckt und er für seine Entwicklung nicht allein Schuld zugesprochen bekommen sollte.

Die Stimme des Stotterers kommuniziert im Roman ausschließlich schriftlich, in Briefen, in Tagebucheinträgen und in Fingerübungen, letztere als von der Handlung losgelöste Geschichten, die kleine schriftstellerische Meisterwerke darstellen. 
Ohne Gegenpart ist man immer im Unklaren, was der Wahrheit entspricht und was erlogen ist. Das ist genial erdacht und mir gleichzeitig ein wenig Zuviel, immer nur diese eine Stimme, ewig monologisierend und sich selbst feiernd. Keine Antworten auf die Briefe, kein Gegenpart, kein unabhängiger Erzähler, so das Konzept, das für mich nicht komplett aufging.

Sprachlich ist der Roman ein Meisterwerk, ganz im Sinne der bevorzugten Ausdrucksweise des Stotterers verblüfft Charles Lewinsky mit äußerst genialer Wort- und Satzakrobatik. Viele Passagen haben fast philosophischen Charakter, zumal der Stotterer als ein großer Bewunderer Schopenhauers höchst intelligente und gewiefte Äußerungen tut.
Charles Lewinsky zeigt mit dem Roman „Der Stotterer“ erneut auf beeindruckende Weise seine Wandelfähigkeit und sein Sprachtalent. Allein dafür ist es lohnend, das Buch zu lesen.



Charles Lewinsky „Der Stotterer“
Roman Leinen gebunden, 416 Seiten
Verlag: Diogenes
erschienen am 20. März 2019
ISBN 978-3-257070675

Preis 24,00 €






Verzweifelte Suche



Fatima Farheen Mirza hat mit ihrem Roman „Worauf wir hoffen“ eine vielstimmige und mitreißende Geschichte geschrieben über indische Migranten zwischen Tradition und Moderne. Zeitgemäß und mit aktuellem Bezug erzählt das Buch von der Suche und Sehnsucht nach Zugehörigkeit und Liebe der drei Kinder muslimischer Auswanderer, die fest in ihrer traditionellen kulturellen Situation verankert sind und gemäß ihren Neigungen und Prägungen ihren Weg suchen müssen. Dabei bekommt man als Leser ungewöhnliche Einblicke in die kulturelle Lebenssituation und das Umfeld der Familie.

Amar, jüngstes Kind und einst Hoffnungsträger der muslimischen Familie, kommt nach drei Jahren Streit nach Hause, zur Hochzeit seiner ältesten Schwester Hadia. Nach jahrelangem Tauziehen mit seinen muslimischen Eltern beim rebellischen Kampf und der gleichzeitigen Suche nach Zugehörigkeit und Zuneigung war Amar nach einem letzten Streit mit seinem Vater weggelaufen. Hadia hatte ihn immer beschützt und behütet, bis sie selbst den ersten Platz in der Hierarchie der Kinder einnimmt und ihre eigenen Interessen durchzusetzen versucht. Sie studiert Medizin an einer Universität weit weg von zu Hause und heiratet den Mann, den sie sich selbst ausgesucht hat. Amar kehrt auf ihre Bitte hin zurück, aber mit ihm kehrt auch die geschwisterliche Eifersucht, die Verzweiflung und der Kampf um Akzeptanz heim. 

Amar ist der Rebell, der nicht weiß, wohin er gehört und was er tut. Auch nach drei Jahren Abwesenheit hat sich daran nichts geändert. Während seine Schwestern Hadia und Huda immer bestrebt waren, den Eltern zu gefallen und sich anzupassen hatte er schon als Kind große Schwierigkeiten damit. Amar bewegt sich seine ganze Jugend hindurch Abgrund entlang, aus Sicht der muslimischen Gemeinde ist er ein Abtrünniger, der sich Alkohol und Zigaretten zuwendet und sich heimlich mit einem Mädchen trifft. 

Hadia rettet ihn mehr als einmal, bis sie sich fragt, wozu sie ihn beschützt, der Wege hat, die ihr als muslimischer Frau immer verschlossen bleiben werden. Sie gleitet aus der Mutterrolle in die Konkurrenz zu ihrem Bruder, was für ihn schmerzhafte Folgen hat. Die große Strenge und Traditionalität der Familienoberhauptes kommt ohne Bollwerk zum Tragen, Amar ist dem nicht gewachsen und läuft letztlich weg.

Huda, die mittlere der drei Geschwister, unterwirft sich willig den Eltern und den muslimischen Traditionen und scheint im großen Schatten zwischen den beiden andereren ihren Platz gefunden zu haben. Sie ist das Kind, das bei der Familie zwischen den Fronten unbemerkt aufwächst ohne ihre Interessen vornan zu stellen und auch im Roman wenig Stimme bekommt.

Neben den inneren Spannungen spielen auch Einflüsse von außen eine große Rolle. Die posttraumatischen 9/11-Verfolgungen und Ängste bekommen die Kinder in der Schule genauso zu spüren wie die strenge Einhaltung des traditionellen Lebens durch alle andern Kinder der muslimischen Gemeinde. Kein Abweichen von der Norm wird geduldet, und das Weglassen des Kopftuches bei den Mädchen in der Schule nach den Anschlägen ist der Angst und nicht der Offenheit geschuldet. Amar scheint der einzige in der gesamten muslimischen Gemeinde des Ortes in Kalifornien, der ernsthaft aufbegehrt. Das erscheint mir ein klein wenig irreal, auch wenn es zur Geschichte passt.

Vielstimmig, aus verschiedenen Erzählperspektiven und mit vielen Zeitsprüngen spult die Autorin die Geschichte ab. Sie bewegt sich immer ganz eng bei den Figuren, die nie klischeehaft wirken trotz der Klischees, die sie bedienen. Man spürt beim Lesen Wut und Schmerz von Amar genau so wie die Sehnsucht nach dem Auflehnen bei Hadia, die sie zunächst hinter ihrer Beschützerrolle für den kleinen Bruder im Zaum hält. 
Wie eine indische Patchworkdecke fügen sich im Laufe des Buches die einzelnen Stückchen zu einem Gesamtbild der Familie, das die wesentlichen Eckpunkte aufzeigt, zerrissen und zersplittert bis auf einen einzigen wertvollen Augenblick - einen sonnigen Nachmittag am Fluss.
Sprachlich bewegt sich der Roman auf gut lesbarem, mir persönlich stilistisch ein wenig zu simplem Niveau ohne große Ecken und Kanten. Das kann aber an der Übersetzung liegen, denn allein der deutsche Titel „Worauf wir hoffen“ ist meilenweit entfernt vom Originaltitel „A Place For Us“, der in meinen Augen die wesentliche Botschaft des Buches im Gegensatz zur deutschen Version bereits in sich trägt.


Das Buch als Sittengemälde einer indischen Auswandererfamilie empfehle ich als sehr lesenswerten, spannenden Roman aus sehr jugendlicher Sicht, der den Status quo feiert mit letztlich übergroßer Liebe der Familienmitglieder und dem damit verbundenen Schmerz und Leid. Verzeihen und Zurücktreten ist ebenso wie Kompromisse ausgeschlossen, was die Geschichte zum einen so überaus reizvoll und jung, zum anderen aus meiner ganz persönlichen Sicht (auf durchaus angenehme Art) etwas euphorisch-verschoben werden lässt. Unbedingt lesen!



Fatima Farheen Mirza „Worauf wir hoffen“
Aus dem Amerikanischen von Sabine Hübner
Roman gebunden, 480 Seiten
Erschienen bei dtv am 28.Februar 2019
ISBN 978-3-423281768
€ 24,00 (D) / € 24,70 (A)