28. April 2019

Grandios und aufrüttelnd






„Ein Roman wie ein Faustschlag“ steht auf dem rückwärtigen Cover des Buches als Zitat aus Le Parisien, und genau dieses Gefühl hat man nach dem Lesen des neuesten Werkes von Sorj Chaladon „Am Tag davor“. Der französische Bestsellerautor und Journalist hat mit diesem Buch den 42 Opfern des Grubenunglücks in Liévin vom 27.Dezember 1974 und zugleich allen Bergleuten, die unter unmenschlichen Bedingungen ihr Leben aufs Spiel setzten, ein Denkmal gesetzt.

Vierzig Jahre nach dem Grubenunglück in der Zeche Saint-Amé in Liévin hat Michel Flavent noch nicht damit abgeschlossen. Er ist der Bruder von Joseph Flavent, der in der Nacht der Grubengasexplosion verunglückte und an den Folgen starb. 
Michel fährt mit seinem geliebten und bewunderten älteren Bruder Joseph in der Nacht vor dem Grubenunglück mit dem Moped durch die französische Stadt Liévin, vorbei am Tor der Zeche Saint-Amé, wo Joseph unter Tage als Hauer arbeitet. Er fühlt sich frei und stark, genießt das Große-Bruder-Lachen und will werden was sein Bruder ist - ein Bergmann und ein Held. Schon als kleiner Junge versuchte er dem Bruder nachzueifern, aß begeistert das aus dem Bergwerk mitgebrachte „Hasenbrot“ und jetzt mit 16 Jahren hegt er den heimlichen Wunsch, nicht den Bauernhof seines Vaters zu übernehmen, das Lyće zu verlassen und genau wie Joseph als Kumpel und Mechaniker im Bergwerk zu arbeiten.

Am 27.Dezember 1974 in den frühen Morgenstunden geschieht das Unfassbare. Eine Grubengasexplosion passiert wegen eines vermeidbaren Fehlers der Werksleitung, bei der 42 Bergleute unter Tage gefangen sind und umkommen. Joseph Flavent stirbt später im Krankenhaus an den Folgen seiner Verletzungen und Michel schwört Rache an den Verantwortlichen. Joseph erscheint nicht in der Liste der Opfer, bekommt keinen Platz auf den Ehrentafeln, wird in den Ehrenreden der Stadtväter und Politiker nicht erwähnt und erscheint auch nicht im Verzeichnis der verlorenen schutzbefohlenen Kumpel des Steigers Lucien Dravelle, den Michel als den wahren Schuldigen wähnt.

Trotz des Umzuges nach Paris, obwohl er keine Kontakte mehr in seine alte Heimat hat, ist Michel dem Unglück, das seinen Bruder ereilte, verfallen. Er richtet in seiner Garage ein Mausoleum ein, dort sammelt er neben Erinnerungsstücken an seinen Bruder wild zusammengetragene Bergmannsausrüstung, Zeitungsartikel, Bilder. Er befasst sich mit der Ursache der Explosion von 1974, ermittelt fieberhaft in der Frage der Schuld, verfolgt das Leben der Verantwortlichen, insbesondere das des ehemaligen Steigers Dravelle. Der Schmerz wird dabei nicht kleiner, und nachdem er nach dem Krebstod seiner Frau Cecile seine letzte Stütze und den letzen Menschen verliert, der ihm etwas bedeutet, beginnt Michel knapp 40 Jahre nach dem Grubenunglück von 1974 seinen Rachefeldzug in seiner alten Heimat.

In der seit Jahrhunderten vom Untertagebau geprägten Gegend Nordfrankreichs hatte man bis Ende der 1970er Jahre, also zu Zeiten von Michels Jugend, nur die Wahl zwischen Scholle und Zeche. Überall waren die Auswirkungen des Bergbaus zu sehen und zu spüren. Abraumhalden bestimmten das Landschaftsbild, Kohlenstaub bedeckte die Felder und das Gemüse, Bergleute erkannte man auf der Straße am gebeugten Gang und am Husten, aber auch am Stolz. Im Laufe der Jahrhunderte hatte sich die Technik für den Bergbau zwar enorm weiterentwickelt, aber Profitgier und Einsparungen stand beim Grubenunglück 1974 auf der Schuldliste ganz oben. Niemand wurde ernsthaft dafür verurteilt, dass es gravierende und vor allem vermeidbare Mängel im Sicherheitssystem der kurz vor der Schließung stehenden Zeche Saint-Amé gab, dass unter erhöhten Gefahr wegen nicht funktionierender Bewetterung und ohne Befeuchtung der Luft die Bergleute zur letzten Ausbeute des alten Schachtes in die Tiefe geschickt wurden und dabei umkamen. 

Sorj Chaladon erinnert daran, prangert an, zeigt auf die Schuldigen. Doch tut er dies nie brachial, sondern immer verpackt in die Brüder-Geschichte aus Verdrängung, Schuld, Sühne und Vergebung, im Rahmen der Rache von Michel und einer danach folgenden Verhandlung vor Gericht. Chaladon erzählt dies vielstimmig durch den Mund des Bruders des Opfers Michel Flavent, durch Lucien Dravelle, den alten Steiger, den Michel sein Leben lang verfolgt und der am Ende selbst ein gebrochener Mann ist, durch die Anwältin von Michel vor Gericht, die ebenfalls mit der Zeche vor Ort verbandelt ist, und durch das Gericht selbst mit Staatsanwaltschaft, Richterin und Geschworenen, die ein unabhängiges Urteil zu fällen haben. Und voller erzählerischem Geschick stellt Chaladon dabei das bisher aufgebaute Mitgefühl des Lesers mit dem Bruder des Opfers, mit Michel, auf die Probe.

Mit karger spröder Sprache rollt Sorj Chaladon die Geschichte auf, gekonnt Spannung aufbauend durch Perspektiv- und Zeitwechsel, aber nie zu sehr zerfasernd. Es ist großartig, wie Chaladon es schafft, den Leser in Gefühlstaumel zu stürzen ohne allzu viele Worte. Wie das Buch den Focus vom Grubenunglück, Rache, Schuld und später auf eine Familientragödie richtet, die die Hauptfigur Michel überraschend in neuem Licht erscheinen lässt, ist ebenso brilliant wie verblüffend. Sorj Chaladon kann es einfach, er zieht den Leser in den Bann mit der Mischung aus wütender, fast reportagenhafter Wahrheit über das Grubenunglück und dem fiktiven Familiendrama um das von ihm erfundene 43.Opfer Joseph Flavent.
Ein Buch, das unbedingt gelesen werden muss.



Sorj Chaladon „Am Tag davor“
aus dem Französischen von Brigitte Große
Roman, gebunden, 320 Seiten
Erschienen bei dtv Verlagsgesellschaft
am 18. April 2019
ISBN 978-3-3423281690
Preis 23,00 €

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