11. Mai 2020

Erinnerungskultur





Ein äußerst bedrückendes Kapitel der Sowjetgeschichte beschreibt der 1984 in Minsk geborene  Autor Sasha Filipenko in seinem Roman „Rote Kreuze“. Bewegend und authentisch lässt er die 90jährige Tatjana ihre Geschichte erzählen, die sich wie eine fürchterliche Blaupause der Geschichte der vom Stalinregime Verfolgten in der Sowjetunion des 20. Jahrhunderts liest.


Alexander, ein junger Mann, vom Schicksal gebeutelt, zieht nach Minsk und begegnet seiner an Alzheimer erkrankten Nachbarin Tatjana Alexejewna, die ihm sofort ihre Lebensgeschichte erzählt. Zunächst genervt von der alten Dame, die gegen das Vergessen ankämpft, gerät Alexander im Laufe der Zeit immer mehr in den Bann der Schrecken, die Tatjana in ihrem Leben seit Beginn der großen Säuberungen 1937 aushalten musste. Eine entzwei gerissene Familie, Verhaftungen und falsche Anschuldigungen, Folter im Gefängnis, entbehrungsreiche Transporte in Güterzügen und Gulag pflastern den Weg von Tatjana, lange Zeit ohne Rehabilitierung oder geschweige denn Entschuldigung vom Sowjetsystem.


Tatjana kämpft gegen das Vergessen, gegen ihr eigenes und gegen das der Untaten und Unterdrückung normaler unbescholtener Bürger durch das System, sie versucht die Erinnerungen zu pflegen und weiterzugeben, bevor sie der Krankheit anheimfällt.


Ausgangspunkt des Romanes für den Autor waren Briefe des Genfer Roten Kreuzes, die während des Zweiten Weltkrieges an die Regierung der Sowjetunion zwecks Gefangenenaustausch oder zumindest Austausch von Listen Deutscher und Sowjetischer Kriegsgefangener geschickt wurden, die alle seitens der zuständigen sowjetischen Behörden unbeantwortet blieben.


Die Romanfigur Tatjana arbeitete damals als Fremdsprachensekretärin im Außenministerium in Moskau und bearbeitete die Gefangenenlisten aus Genf. Auf einer der Listen findet sie den Namen ihres Mannes, womit dieser als Verräter gilt und sie als seine Ehefrau gleich mit. Sie löscht den Namen ihres Mannes von der Liste, wird aber dennoch von den Stalinistischen Säuberungen am Ende des Krieges erfasst und zur Verräterin abgestempelt, ihr wird das Kind genommen und sie kommt ins Gefängnis.


Tatjanas Geschichte ist zwar Fiktion, ist aber beispielhaft für die Geschichte von Stalin Verfolgter und Gefangener in der 1940er/1950er Jahren, die ohne haltbare Anklage gefoltert, abtransportiert, erschossen wurden oder einfach in den Gulags an Hunger oder Erschöpfung starben. Die vom Autor beigefügten Brief-Dokumente des Genfer Roten Kreuzes unterstreichen den Schrecken der Geschichte auf ganz unheimliche Weise durch ihren sachlich-bürokratischen Ton.


Der Roman ist eine äußerst überzeugende Darstellung der Unterdrückung und ein Kampf wider das Vergessen, auch wenn an manchen Stellen ein bisschen zu dick aufgetragen wurde, insbesondere bei der Rahmenhandlung zu Alexanders Schicksal in den 2000er Jahren. Der Autor versteht es, Tatjanas Geschichte geschickt mit der Gegenwart zu verknüpfen und mit klarer Sprache und viel Spannung zu erzählen, ohne in Pathos zu verfallen. Es ist ein gelungenes Stück Erinnerungskultur, der lesenswerte fünfte Roman des weißrussischen Autors, bei dem ich mich auf weitere Übersetzungen freue.



Sasha Filipenko "Rote Kreuze"
Roman gebunden. 288 Seiten
erschienen bei Diogenes Verlag
am 26. Februar 2020
ISBN 978-357071245
Preis 23,00 €

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