13. Februar 2020

Kaltes Russland




Murmansk, nördlich des Polarkreises, ist Schauplatz des Buches „Klara vergessen“ von Isabell Autissier. Es ist ein Buch, auf das ich mich dieses Frühjahr ganz besonders gefreut habe, denn die französische Autorin schreibt nicht nur glasklar mit großer Spannung äußerst berührende  Geschichten, auch ihre kalten nordischen Naturbilder sind mehr als beeindruckend. 

Eine sehr russische schicksalhafte Geschichte dreier Generationen, bei der eine Entscheidung wie der Flügelschlag eines Schmetterlings die Lebenswege einer zersplitterten Familie bestimmt, beginnend in der Ära Josef Stalins bis in die heutige Zeit, erzählt Isabelle Autissier mit viel warmherziger Liebe und Nähe zu ihren Figuren und mit abweisenden kalten und kargen Bildern des totalitären Systems der ehemaligen Sowjetunion. 

Juri, der inzwischen in Nordamerika als anerkannter Ornithologe lebt, kehrt zurück in seine Heimatstadt Murmansk, weil sein Vater im Sterben liegt. Die Stadt seiner Jugend hat sich seit seinem Weggang vor knapp einem Vierteljahrhundert verändert: glitzernde Reklame und westliche Schaufenster wetteifern mit verrostenden Schiffen im alten Hafen und zerfallenden Häusern. Es ist nicht mehr seine Heimat, war es vielleicht auch nie gewesen, denn sein brutaler und despotischer Vater Rubin, ehemaliger Kapitän eines Fischtrawlers, hatte ihm das Leben in Murmansk mit Leibesertüchtigung, Prügeln, und seinem Hang zur Trinkerei und Brutalität zum Martyrium gemacht. Jetzt, auf dem Sterbebett, verrät Rubin seinem Sohn das Familiengeheimnis um die Großmutter Klara, die verhaftet wurde als Rubin noch ganz klein war, und schickt seinen Sohn damit auf eine Reise in die Vergangenheit, die mehr als nur eine Leiche im Familienkeller zutage fördern wird.

Klara, Juris Großmutter, wurde vor mehr als 70 Jahren im stalinistischen Russland verhaftet. Sie war Geologin und wissenschaftliche Mitarbeiterin, genau wie ihr Mann Anton, den Juri bis zum Geständnis seines Vaters nur als stillen und melancholischen Menschen kannte. Die Verhaftung der Großmutter Klara, deren Umstände ungeklärt sind, ist das Sandkorn, das wie eine Lawine Ereignisse und Entwicklungen ins Rollen bringt. Es gibt ein klares Davor und ein Danach in der aufgesplitterten Familie, und der zurückgebliebene Großvater Anton und sein Sohn, der kleine Rubin, drohen an ihrem Schicksal zu zerbrechen. Juri soll nun für seinen Vater Fragen beantworten, die dieser sich nie zu fragen traute. Er beginnt seine Odyssee bei Memorial in Murmansk, einer Anlaufstelle für in der Sowjet- und Stalin-Ära Verhaftete und vermisste Personen und stößt nach einigen Anlaufschwierigkeiten auf eine wahrlich grausame Geschichte von Verrat, Haft und Deportation in einen Gulag. 

Über drei Generationen erzählt Isabelle Autissier die Geschichte aus den Blickwinkeln von Juri, Rubin und Recherchenotizen aus vergangener Zeit, die letztlich die Stimme und der Blickwinkel Klaras sind. Juri ist derjenige, der konsequent sucht und am Ende ein fast vollständiges Bild der verstörenden Ereignisse erhält, indem er seine Recherchen mit den Erinnerungen der Familienmitglieder und Freunden der Familie verknüpft. Isabelle Autissier lässt keine wichtigen Fragen offen, wendet jeden Stein um und verfolgt nicht zuletzt auf der Frage nach der Beeinflussung von Juris Lebensentscheidungen alle wichtigen Spuren. Dabei treten neben Klaras Erlebnissen auch Ereignisse aus Juris und Rubins Jugend zutage, die äußerst verstörend und zugleich lebensbestimmend für die beiden Männer sind. 
Die Entscheidungen und Wege aller drei Generationen sind zwar sehr vom politischen totalitären System und von der zerstörten Familie geprägt, aber jeder findet trotz aller Grausamkeit seine kleine freie Nische, in der sie/er zu existieren vermag. Klara schafft es trotz aller Grausamkeiten in ihrer Gefangenschaft, dem Leben einen Sinn abzugewinnen. Rubin findet Freiheit auf dem Nordmeer als Kapitän und Juri flüchtet sich in die Welt der Vogelkunde, die erst seine Berufung und sein Fluchtort, später sein Beruf wird. Das politische System beeinflusst und ändert zwar die Lebenslinien auf äußerst brutale und verstörende Weise, schafft es aber nicht, sie zu zerstören.

Unglaublich dicht und eindrucksvoll sind die Naturbeschreibungen, bei denen man neben Juri im Flugzeug im fahlen Nordlicht über die Tundra zu fliegen glaubt, mit ihm am verrotteten Kai in Murmansk steht, mit Rubin die pralle Freude über den Widerstand gegen raue See und zerstörerische Stürme auf dem Meer erlebt und voller Freude die Netze auf dem Fischtrawler einholt oder zusammen mit Klara durch die sumpfig-verschneiten Landschaften wandert.

Literarisch, authentisch, spannend, berührend und höchst interessant schreibt Isabelle Autissier die Geschichte vom Verschwinden Klaras, die alle vergessen sollten, die so viele Lebenslinien beeinflusst hat und die letztlich wie ein in den See geworfener Stein Wellen geschlagen hat, die deutlich sichtbar sind.
Beispielhaft für viele Schicksale von Verschleppten der Stalinzeit ist es nicht nur ein spannendes und berührendes, sondern auch ein sehr wichtiges Buch, dem ich viele Leser wünsche.




Isabelle Autissier „Klara vergessen“
Roman gebunden, 304 Seiten
Erschienen im Mare Verlag
am 4. Februar 2020
ISBN 978-3-866486270

Preis 24 €

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