Düster und melancholisch ist Lars Myttings neues Buch „Die Glocke im See“, das Auftakt einer Norwegischen Familiengeschichte ist. Historisches und Mystisches gepaart mit einem Sittengemälde des ausgehenden 19. Jahrhunderts in einem abgelegenen Tal ergeben eine höchst interessante Mischung.
Im Winter 1880 ist es in der uralten Stabkirche von Butangen für die Gemeinde zu eng und so kalt, dass eine alte Frau beim Neujahrsgottesdienst erfriert. Daher verkauft der junge Pastor Kai Schweigaard die Kirche, wie so viele andere Norwegische Gemeinden auch, mitsamt allen Inventars. Dazu gehören auch zwei Glocken, die ein Vorfahr der seit gut 400 Jahren ortsansässigen Familie Hekne einst der Gemeinde spendete, und in die damals nicht nur das komplette Tafelsilber der Familie mit gegossen wurde, sondern um die sich mystische Legenden von zwei Zwillingsmädchen und ihrer Mutter ranken. Die Glocken läuten angeblich von selbst bei Gefahr für die Gemeinde, und haben dank des Silbers einen außergewöhnlichen Klang. Der Junge Pfarrer, kein Anhänger alter Bräuche und Mythen, stößt auf Widerstand, als der Verkauf der Kirche bekannt wird, besonders bei Astrid, der stolzen ältesten Tochter vom Hekne-Hof. Ein junger Architekt aus Dresden reist im Auftrag des Sächsischen Königshofes nach Butangen, um Zeichnungen der Kirche anzufertigen und ihren Abbau dort zu organisieren und den Transport nach Deutschland zu überwachen. Astrid verliebt sich in Gerhard, fühlt sich aber auch zu Kai Schweigaard hingezogen und versucht gleichzeitig, die Glocken für die Gemeinde zu retten.
Lars Mytting erzählt in unglaublich bildhafter Sprache vom Leben im ausgehenden 19.Jahrhundert, von am Hang klebenden kargen Höfen, von Kälte, Hunger und Armut und der extremen Rückständigkeit. Die Christianisierung war im damaligen Norwegen zwar weit fortgeschritten, Pastoren hatten ihren festen Platz, aber der Aberglaube und die mystischen Schaudergeschichten beherrschten das ländliche Leben. Im Roman wird genau das durch die Person des fortschrittlichen Pfarrers Kai transportiert, der versucht gegen alte Bräche anzukämpfen und dabei wenig Verbündete findet. Astrid stellt eine der wenigen in Butangen dar, die klar und fortschrittlich unkompliziert denkt und aufgeschlossene Ansichten hat, sehr untypisch für eine Frau der damaligen Zeit ihre Meinung äußert. Dennoch ist sie in den Legenden und Bräuchen ihres Umfeldes verwurzelt und sträubt sich gegen das Karrieretum, das Kai verkörpert.
Höchst interessant finden sich im Buch viele Details zur Geschichte der Stabkirchen, von denen tatsächlich viele verkauft, abgebaut und andernorts wieder aufgebaut wurden. Der damit verbundene schale Beigeschmack des Deutschtums zwecks Bewahrung und Hochhaltung germanischer Wurzeln im Norden, das sicherlich der Auslöser für die damalige Euphorie für die alten Stabkirchen gewesen ist, wird hervorragend und gänzlich ohne den oft so störend erhobenen Zeigefinger serviert.
Es war mir übrigens beim Lesen ein großes Vergnügen, mich mit einzelnen im Roman erwähnten alten Norwegischen Kirchen näher zu befassen.
Diese großartige, spannende, von Melancholie und Mystik überstäubte Geschichte, die mir im Hinblick auf das alte Norwegen tiefe Einblicke gab, mit feinsinnigem Humor und sehr bildhafter Sprache geschrieben, kann ich nur empfehlen zu lesen. Weise und traurig, gewebt wie ein Teppich der sagenhaften Hekne-Schwestern, ist das Unglück und die Tragik gerade noch auszuhalten, durchzogen von glücklichen Momenten. Ich freue mich schon sehr auf den nächsten Teil.
Lars Mytting
Die Glocke im See
Roman, Hardcover, 482 Seiten
Erschienen im Januar 2018
Verlag: Insel
ISBN 978-3-458-17763-0
Preis 24,00 €
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