„Giacinta“ von Luigi Capuana ist ein Gesellschaftsroman, wie man ihn eigentlich aus dem 20.Jahrhundert kennt. Erstaunlich ist, dass dieser Roman bereits 1879 als Debüt des Autors erschien und damals einen Skandal auslöste. Jetzt erstmals vollständig auf Deutsch vom Manesse Verlag veröffentlicht besitzt er auch heute noch Aktualität, Esprit und eine überaus gelungene Mischung aus Spannung, Tragik und gesellschaftlicher Kritik, die ihn zu einem sehr lesenswerten Buch machen.
Eine bürgerliche Familie in kleinstädtischer sizilianischer Provinz, die Mutter kalt und geschäftstüchtig, der Vater träge und antriebslos, ein Sanguiniker, der seiner Frau das Regime in jeglicher Hinsicht überlässt, mischt die Männlichkeit der damals üblichen Salons mit der atemberaubenden Tochter Giacinta auf. Reihenweise bemühen sich die Herren um die schöne Tichter im heiratsfähigen Alter, vom bürgerlichen gutsituierten großstädtischen Beamten bis zum inzestuös verblödetem Adligen hängen sie an Giacintas Rock und Lippen, unter den neidisch-achtsamen Blicken der Mutter, die eine gute Partie für ihre Tochter zur Erhöhung der eigenen Reputation erhofft.
Doch Giacinta, die scheinbar mühelos und geschickt mit den Männern spielt, leidet unter ihrer Rolle. Sie ist Andrea Gerace verfallen und er ihr, beide gestehen sich ihre Liebe, doch Giacinta kann und will den Mann ihres Herzens nicht ehelichen. Letztlich muss sie des Weg ihres Schicksals durch die Heirat mit einem viel älteren und verblödeten Conte beschreiten.
Zu Beginn des Romanes wird man als Leser mitten in einen der prächtigen bürgerlichen Salons geschickt, in dem Amüsement und Unterhaltung an der Oberfläche plätschern. Luigi Capuana zeichnet ein fast überbordendes schillerndes Bild der bürgerlichen Provinzgesellschaft mit der alternden Schönheit der Mutter und Hausherrin Teresa Marulli mit ihrem absolut im Hintergrund stehenden Gatten, daneben die von allen begehrte Giacinta, die flittchenhaft von Männerschoß zu Männerschoß wechselt. Im Hintergrund und als Rahmen mit sehr bildhafter Beschreibung Salongäste, die das scheinbar neckische Verhalten Giacintas während ihrer Plaudereien mit Argusaugen beobachten.
Im Verlauf des Buches ändert sich das Bild, das man von der jungen Heldin anfangs bekommt. Einem genaueren Blick auf ihr freudlose und einsame Kindheit mit der Mutter, die mehr mit ihren Liebhabern und ihrer gesellschaftlichen Etikette beschäftigt war, und dem schwachen Vater, der seiner Frau nie etwas entgegenzusetzen hatte, folgt die Geschichte eines tragischen Frauenschicksals, das man nach den ersten paar Seiten so nicht erwartet hätte.
An der Schwelle von der Kindheit zur Frau vom Hausburschen missbraucht versucht sich Giacinta als männermordender Salonlöwe, scheitert jedoch daran und muss letztlich, um dem Tratsch und dem drohenden gesellschaftlichen Abstieg einen Riegel vorzuschieben, einen von ihr nicht geliebten, viel älteren und mit Dummheit geschlagenen Conte ehelichen, denn alle ihre Verehrer, die sie im heiratsfähigen Alter hat, ziehen sie für eine ernsthafte Verbindung nicht in Erwägung. Sie verzweifelt an ihrer wahren Liebe zu Andrea Gerace und lebt sie dennoch auch während ihrer Ehe aus.
Erstaunlich, wie tiefsinnig und genau der Autor das Schicksal Giacintas gezeichnet hat, dass er ihr zugesteht, sich aufzulehnen und entgegen der damaligen gesellschaftlichen Etikette zu handeln, bewusst und emanzipiert, trotz ihrer Gefangenschaft in einer Zwangsehe, für die sie sich allerdings auch selbst entschieden hat. Als skandalös ist seine Abrechnung mit der bürgerlichen Spießigkeit damals bewertet worden, und das zu recht, betrachtet man es mit damaligen Blick.
Neben dem kritischen Aufzeigen von zwangsläufig ineinandergreifenden Mechanismen der Gesellschaft selbst gesteht Luigi Capuana seiner Frauenfigur Giacinta Klugheit, Widerstandswille und eine moderne Bereitschaft, ihr Schicksal in die Hand zu nehmen und Entscheidungsfähigkeit zu. Darin besteht für mich die große Bedeutung dieses Romanes, ganz abgesehen davon, dass der Stil, in der dieses spannende Schicksal erzählt wird, mitreißend, bildhaft und kein bisschen angestaubt ist.
„Giacinta“ von Luigi Capuana
329 Seiten
Roman, gebunden
Manesse Verlag 2017
ISBN 978-3-71753-434-2
26,95 €
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