28. Januar 2017

Landleben abseits der Hauptstrasse





Der Roman "Niemand ist bei den Kälbern" von Alina Herbing vermittelt im Gegensatz zu der verbreiteten romantischen Meinung über das Landleben ein ungleich schmutzigeres, raueres und komplett unromantisches Bild vom Leben in einem Dorf abseits der Hauptstraße im ehemaligen Zonenrandgebiet Mecklenburg-Vorpommerns. Mit gewaltiger, vereinnahmender, bildhafter aber auch wundervoll poetischer Sprache erzählt die Autorin ganz nah an den Figuren eine Geschichte, die Abscheu und Mitleid, Verunsicherung und Ratlosigkeit, aber auch Hoffnung und nicht zuletzt intensives Nachdenken hervorruft.

Christin lebt in Schattin, einem winzigen Dorf am westlichen Rand Mecklenburg-Vorpommerns auf dem Bauernhof ihres Freundes Jan und dessen Vaters. Gestank, Schmutz, ein am Milchvieh orientierter Tagesablauf und ewige Langeweile und Trostlosigkeit bestimmen in flirrender hochsommerlicher Hitze ihr Leben. Von Alkoholismus, Rechtspopulismus und den ewig gleichen Dorffesten im Nachbarort erzählt die Geschichte ihres dumpfen und ausweglosen Lebens genauso wie vom schwer alkoholkranken Vater, der von der übrigen Dorfgemeinschaft geächtet wird.
Sie träumt von Stöckelschuhen und schönen Kleidern in der Großstadt und kann der Arbeit auf dem Hof und dem Leben mit Jan nichts abgewinnen. Als der Windkrafttechniker Klaus auftaucht, scheint Christin endlich einen Ausweg zur Flucht aus der Einöde gefunden zu haben, doch alles kommt noch viel schlimmer...

Es ist fast unheimlich, wie treffend die Autorin die Figuren, insbesondere Christin, gezeichnet hat. Keiner der Charaktere ist ein Sympathieträger, alle kämpfen mit ihrer Existenz oder sind schon gescheitert und haben den Kampf aufgegeben. Merkmale wie Ignoranz, Dummheit, Respektlosigkeit und mangelnde Liebe zum Leben und zu sich selbst gab die Autorin ihren Figuren mit und lässt sie in geballter Ladung auf den Leser los, so dass man beim Lesen keinen Abstand hat.
Und genau das fasziniert an diesem Roman. Trotz allen Schmutzes und der aufkeimenden Antipathie für Christin hofft man beim Lesen darauf, dass sie den Absprung schafft und ihr Leben in die Hand nimmt, weggeht und für sich einen neuen Anfang finden kann.

In dichter Sprache mit fast blitzlichtartigen Bildern und hohem Symbolgehalt treibt die Autorin den Leser fast atemlos durch den Roman. Rückblicke zur Vergangenheit gibt es nur als kleine Andeutungen und Episoden, manchmal glücklich, oft genauso verzweifelt und aussichtslos wie die Gegenwart. Dennoch zeichnet sich ein rundes und für mich recht vollständiges Bild von Christin und ihrem Umfeld.

Nach dem Zuklappen des Buches war ich paralysiert und sehr froh, dass ich nicht in dieser Gegend Deutschlands aufgewachsen bin und nur darüber gelesen habe.
Man merkt nicht, dass es sich um ein Debüt handelt. Handlungsstruktur, Dramatik und Sprache sind sehr gut durchdacht und künden von der Kraft, die in dieser Geschichte steckt.
Mir hat das Buch ausgezeichnet gefallen, und wer keine Angst vor Blicken über den ordentlich-bürgerlichen Tellerrand hat, sollte diesen Roman unbedingt lesen.



Alina Herbing
Niemand ist bei den Kälbern
Roman

  • Erscheinungsdatum: 10.02.2017
  • Verlag : Arche
  • ISBN: 9783716027622
  • Fester Einband 224 Seiten
  • 20,00 €

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