20. Februar 2016

Rezension zu "Neringa oder die andere Art der Heimkehr" von Stefan Moster





Mit dem Buch "Neringa" hat der Autor Stefan Moster ein sprachgewaltiges, tiefgründiges und anspruchsvolles Buch geschaffen.

Bei einem Kinobesuch in seiner jetzigen Heimatstadt London erwachen bei dem 50jährigen deutschen namenlosen Protagonisten des Buches Zweifel an seiner Lebenseinstellung und an seinem Schaffen. Es ist eine Szene am Mont Saint-Michel, die ihn beeindruckt und dazu bringt, die Erinnerungen an seinen Großvater Jakob wieder aufleben zu lassen. Im Gegensatz zu seinem Großvater hat der Protagonist das Gefühl, der Nachwelt nichts Bleibendes und Sichtbares zu hinterlassen, obwohl er seit Jahren sehr erfolgreich in seinem Job agiert und sich über seine Arbeit definiert.
Die Kinoszene ist Anlass, Erinnerungen aus Kindheit und Jugend heraufzubeschwören und sein Leben im Vergleich zum Leben des Großvaters Jakob Flieder, dem erfolgreichen Pflasterer, der eine dauerhafte und sichtbare Hinterlassenschaft vorzuweisen hat und seine Familie ernährte, zu analysieren. Dabei strömt eine Fülle von Fragen auf den Protagonisten ein, die ihn gewaltig und unerwartet trifft.
Eine junge Frau aus Litauen, die in London seine Wohnung putzt und der er sich allmählich öffnet, zeigt ihm einen für ihn bisher unbekannten Weg in ein glückliches Leben.

Das Buch ist ausschließlich aus der Sicht des Protagonisten in der Ich-Form erzählt. Er zerpflückt in einer klaren und trotz längerer Satzkonstruktionen verständlichen, eindrucksvollen Sprache seine Erinnerungen an den Großvater Jakob und sein Schaffen. Er hat anfangs ein stark idealisiertes Bild vom Leben seines Großvaters, das durch eigene Nachforschungen und kurze Gespräche mit seiner Mutter nach und nach bröckelt.
Stilistisch sehr clever finde ich hierbei, dass der Protagonist anfangs seltsam blass und nicht greifbar, namenlos erscheint, der Großvater für mich trotz der kurzen Episoden von Anfang an eine dreidimensionale Figur namens Jakob ist. Im Fortgang des Buches bekommt der Protagonist mehr Körper, man bemerkt eine höhere Wertschätzung seiner eigenen Arbeit und seines Lebens und verfolgt gespannt seine Neugier auf Neringa.
Die junge Litauerin ruht durch ihre Zufriedenheit mit sich und dem Alltag trotz Ihrer nicht ganz einfachen Lebensumstände in sich selbst.

"Wo das Dürfen das Müssen ersetzte, bekam die Freiheit ihre Chance."
(Zitat Seite 237)
Neringa fasziniert durch Lebensweisheit und Einfachheit und hilft bei der Sinnsuche, indem sie ihn zu Orten der Vergangenheit im Leben seines Großvaters begleitet. Durch sie lernt der Protagonist eine für ihn neue und überraschende Sicht auf das Glücklichsein im Hier und Jetzt kennen und schätzen.

Das Lesen bereitet nicht zuletzt wegen der Vielschichtigkeit der Zeitebenen anspruchsvolles Vergnügen, der Anker des Lesers ist dabei immer entweder eine bestimmte Person (Großvater Jakob) oder eine bestimmte Situation in der Vergangenheit des Protagonisten. Man erlebt Szenen aus Jakobs Vergangenheit gleichermaßen wie Therapiesitzungen in München, bei denen es um die Bewältigung von Ausbrüchen und um die Aufarbeitung von Kindheitserlebnissen des Erzählers geht. Dabei verfolgt man als Leser ausschließlich die Sichtweise des Protagonisten, keiner der anderen Charaktere reflektiert das Geschehen, wodurch ich als Leser zwar alle Gedanken, Zweifel und Erinnerungen des Erzählenden teilen kann, jedoch nichts über des Wahrheitsgehalt der Geschichte weiß.

"Mit dem Begriff Heimkehr verhielt es sich umgekehrt als mit dem Wort Identität: Er passte in Jakobs Mund, doch nicht in meinen. Er hatte die Heimkehr gekannt, die eine, große aus dem Krieg, aber auch die alltägliche, nachdem er im Freien gearbeitet hatte."
(Zitat Seite 91)
Die Arbeit des Großvaters wurde im Laufe der Jahre durch den Protagonisten dermaßen glorifiziert, dass er am Ende aus einzelnen Details neue Wahrheiten für sich selbst gesponnen hat.
Der Protagonist gesteht sich und Neringa am Ende der Suche ein, dass sein Großvater zwar ein guter Pflasterer, aber keinesfalls der famose Künster gewesen ist, als den er ihn idealisiert hatte.

Fazit:
Mir hat das Buch sehr gefallen, sowohl Sprache als auch die Geschichte selbst bereiten anspruchsvolles Lesevergnügen. Ich vergebe 5 Sterne und eine klare Leseempfehlung für dieses großartige Buch.





Stefan Moster
Neringa
oder Die andere Art der Heimkehr

Roman
288 Seiten, gebunden mit Schutzumschlag und Lesebändchen
Erschienen im Mare-Verlag Februar 2016
ISBN 978-3-86648-245-6





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