17. Februar 2019

Rachegeschichte





„Die Farben des Feuers“ von Pierre Lemaitre ist eine Geschichte um Rache und Betrug verpackt in ein spannendes Sittengemälde und Familienepos zu Beginn der 1930er Jahre in Paris, mit den Vorboten des Zweiten Weltkrieges am Horizont und mit intensivem Blick auf die Entwicklung einer kraftvollen jungen Frau und Mutter. 

Das Oberhaupt der Bankiersfamilie Marcel Péicourt ist tot, und die alleinerbende Tochter Madeleine steht plötzlich an der Spitze des Imperiums, ahnungslos und als Frau in der damaligen Zeit auch ohne Macht und Anerkennung. Sie ist umgeben vom enttäuschten und unterbezahlten Prokurist Gustave Joubert, ihrem verschwenderischen und politisch ambitionierten Onkel Charles Péricourt, ihrem Liebhaber André und ihrem kranken Sohn Paul, der nach einem Fenstersturz zur Beerdigung seines Großvaters neben körperlichen Schäden schlimme Erinnerungen mit sich herumträgt. Neider wollen Madeleines Verderben und treiben sie tatsächlich in den Ruin, aber Madeleine plant für die Zukunft ihres Sohnes einen eiskalten Rachefeldzug, mit dem sie im Schatten von Börsenskandalen und Kriegstreibereien die Habsucht und das Misstrauen ihrer Gegner gekonnt auszunutzen versteht.

Zu Beginn tat ich mich beim Lesen schwer mit der Sprache, die gewollt auf alt gemacht doch etwas gewöhnungsbedürftig ist. Es passt zur Geschichte, ist zwar nicht schwer zu lesen, aber eben ungewohnt. Auch an die feine Ironie musste ich mich erst gewöhnen, und sie als solche erkennen, da auch das in meinen Augen ein wenig zu gewollt wirkte, nicht so ironisch-leichtfüßig wie erhofft. 
Im Mittelteil zieht sich die Handlung ein wenig, man vermisst den Fortgang von anfangs sich fast überschlagenden Ereignissen, aber im letzten Viertel nimmt die Spannung wieder zu.
Äußerst ansprechend finde ich den historischen Bezug der Figuren, hier vermute ich wirklich gute Recherchearbeit des Autors, die beim Lesen unbemerkt und leichtfüßig daher kommt.


Ich habe das Buch insgesamt gern gelesen, und auch wenn sich in filmischer Abenteuermanier mitunter allzu viele zwielichtige Gestalten und Bösewichter die Klinke in die Hand geben bleibt die Geschichte letztlich dennoch eine nachvollziehbare, von langer Hand geplante Rachegeschichte, die mit viel Spannung erzählt ist und ein interessantes gesellschaftliches Bild des Paris der 1930er Jahre zeichnet.



Pierre Lemaitre
Die Farben des Feuers
aus dem Französischen von Tobias Scheffel
Roman gebunden
Erscheint am 28.Februar 2019
ISBN 978-3-608-96338-0
€ 25,00 (D)
€ 25,80 (A)




10. Februar 2019

Klischeehaft




Anne Catherine Bomanns Erstling „Agathe“ ist ein schmales Buch, in dem sie eine Geschichte über Freundschaft, neue Wege und Aufbruch erzählt.

Ein Psychiater kurz vor dem Ruhestand, desillusioniert, gefangen in einem langweiligen, äußerst einsamen und komplett durchorganisierten Leben ohne Herausforderungen und eine junge psychisch kranke Frau, die sich unbedingt von ihm behandeln lassen will sind die Zutaten, aus denen die Autorin mit eleganter und klarer fast spröder Sprache ihre kurze Geschichte abspult.
Namenlos, langweilig, schrullig und sozial inkompetent ist der Psychiater, dem Agathe jung und quirlig und aus jahrelanger psychiatrischer Behandlung vorbelastet gegenübergestellt wird. Sie bewirkt einen Wandel in seinem Leben während der Sitzungen, der ihn aus seiner Lethargie löst.

Es ist letztlich ein Wohlfühl-Buch, in dem aus Abwarten, Eintönigkeit und einem unaufgeregtem Leben in Richtung Ruhestand neue Wege geöffnet werden, Freundschaft und Nähe entsteht und das Leben eines alternden Psychiaters wieder Schwung bekommt.

Und genau das ist es, was mich unter anderm an dem Roman stört. Ein für mich absolut grandioser erster Teil, in dem die Langeweile des Psychiateralltags aus den Seiten zu tröpfeln scheint, in dem Agathe und andere Patienten fast störend wirken und man beim Lesen ein ausgezeichnetes Gespür für den schrulligen alten Mann bekommt wandelt sich im zweiten Teil des Buches in ein klischeebelastetes Alles-wird-gut-Buch. Es ist schade um die wirklich hervorragende Art der Autorin, Gefühle für die Charaktere zu wecken, um den stilistisch und erzählerisch gekonnten Ansatz und um die Geschichte selbst.

Verblassen der Figuren, Abgleiten in Positivismus, der für mich nicht nachvollziehbar und glaubhaft wirkt wird dadurch aus einem kleinen feinen und eleganten Gespinst ein Buch, das wie so viele andere Bücher auch eine heile Welt heraufbeschwört, unglaubwürdig und zu schön um wahr zu sein.



Anne Cathrine Bomann
Agathe
Übersetzt von Franziska Hüther
Roman gebunden, 160 Seiten
Erschienen am 28.1.2019
ISBN 978-3-44626191-4
16,00 € (D)
16,50 € (A)

11. Januar 2019

Grandioses Buch







Der Roman „Stella“ von Takis Würger erzählt die tragische Liebesgeschichte des Schweizers Friedrich und der jüdischen Denunziantin Stella im Berlin von 1942. Es ist eine spannende, erschreckende und fast unglaubliche Geschichte, ein dunkles Kapitel deutscher Vergangenheit über ein Opfer, das zur Täterin wird und über einen jungen Schweizer, der sich in einer Fantasiewelt der Wirklichkeit zu entziehen versucht, immer mit dem Privileg der Flucht durch seinen Pass im Hinterkopf.

1942 kommt Friedrich, ein stiller junger Schweizer, nach Berlin und trifft an der Kunstschule Kristin. Mit ihr beginnt ein aufregender nächtlicher Weg durch Berlins Jazzclubszene. Der Krieg scheint weit weg zu sein im luxuriösen Hotel am Potsdamer Platz, wo es bei Bombenalarm Champagner und Geigenmusik im Keller gibt. Doch alles ändert sich für Friedrich, als Kristin eines Morgens zerschunden ins Hotel kommt und gesteht, sie sei Jüdin, heiße Stella und sei von der Gestapo zu einem Pakt zur Denunziation versteckter Juden gezwungen worden, um ihre Eltern vor den Todeslagern der SS zu retten.

Takis Würger spielt in dem Roman mit einer wahren Geschichte, nämlich der von Stella Goldschlag, der jüdischen Kollaborateurin, die Hunderte Juden aufspürte und an die Gestapo verriet und damit den Vernichtungslagern auslieferte. Stella Goldschlag lebte von 1922 bis 1994.

Es ist ein Zwiespalt und ein wackeliger Pfad, auf den man vom Autor als Leser geschickt wird. Einerseits ist Verrat auf den ersten heutigen Blick natürlich tabu und verurteilungswürdig, aber Takis Würger gelingt das große Kunststück, beim Leser Verständnis für Stellas Situation und ihr Verhalten zu wecken, indem er Ihre menschliche Seite zeigt und sie selbst auch als Opfer der Nazis vorführt. Zum einen möchte man sie unbedingt verurteilen, weil sie lieber deutsch als jüdisch sein möchte, weil sie versucht, sich an das herrschende System anzupassen, und natürlich weil sie andere Juden verrät. Andererseits stellt sich die Frage, ob Stella jemals wirklich eine Wahl hatte und ob man sie überhaupt verurteilen und schuldig sprechen darf, wenn sie Juden aufspürt, um die Haut ihrer Eltern zu retten.

Verzweifelt, voller Melancholie und Sehnsucht, aber auch ausschweifend und obsessiv sind die Facetten, in denen sich Stella dem Leser zeigt. Friedrich ist ihr vom ersten Moment an verfallen, und man versteht ihn. Seine Suche ist die nach dem Leben, ein Versuch des Ausbruchs aus dem Goldenen Käfig in der Schweiz. Naiv und aufgeregt auf der Spur von Verbotenem bewegt er sich wie in einer Twilight-Zone zur Realität, privilegiert und abgeschottet im Luxushotel und im nächtlichen Berliner Untergrund, gleichzeitig voller Wahn und abhängig von einer Frau, die ihn nahezu handlungsunfähig macht.


Es ist eine Geschichte der Grautöne, man bekommt vom Autor allerdings heftige Lektionen zur Realität und Objektivität durch eingeschobene Verhörprotokolle realer Prozessakten, in denen sich schwarz und weiß klar abzeichnen. Und gerade deshalb ist es trotz der Grauzeichnung eine sehr moralische Geschichte, die fesselnd, eindringlich und aufrüttelnd ist und mich voller Nachdenklichkeit zurück gelassen hat. Großer Applaus von mir dafür, verbunden mit einer dringenden Empfehlung zur Lektüre diese famosen Buches.



Stella Bonn Takis Würger
Roman, gebunden
Erschienen im Hanser Verlag
11.Januar 2019
ISBN 9783446259935
Preis 22 €

30. Dezember 2018

Herrlich knarzige Dorfgeschichte





„Mittagsstunde“ ist der neue und großartige Roman von Dörte Hansen, in dem sie den Bogen aus der Zeit der Mittagsruhe in den 1970er Jahren mit Flurbereinigung der kleinen dörflichen Parzellen bis in die heutige Zeit mit ihren spürbaren Veränderungen aber auch der Sturheit und dem Festhalten an Vertrautem durch die alten Dorfbewohner spannt.

Eine Dorfgeschichte und zugleich die Geschichte vieler Bewohner des Dorfes ziehen am Hörer/Leser vorbei. Im Vordergrund steht Ingwer Feddersen, heute 47, der als Hochschullehrer in Kiel lebt. Seit 25 Jahren wohnt er in Wohngemeinschaft mit Ragnhild und Claudius. Nichts Halbes und nichts Ganzes in seinen Augen, da keiner seiner Mitbewohner den Sprung in die erwachsene Verantwortung geschafft hat. Ingwer fühlt sich zwar wohl dort, doch tief innen ist er frustriert und unzufrieden.Da kommt es ihm sehr gelegen, dass er ein Sabbatjahr nimmt, um sich um seine Großeltern in Brinkebüll zu kümmern. Großvater Sönke, kaum noch beweglich, hält stur als Dorfkneiper die Stellung, Großmutter Ella ist hochgradig dement und verliert immer mehr ihren Verstand. Ingwer glaubt, den beiden Alten etwas zurückgeben zu müssen, seit sie ihn wie ihren Sohn aufgezogen hatten. 
Inmitten der Gegenwartsgeschichte erzählt Dörte Hansen die Vergangenheit und den Wandel des Dorfes mit Rückblicken. Ausgang ist die Flurbereinigung in den 1970er Jahren, als alte krumme kleine Parzellen umgelagert wurden und daraus große gerade Flurstücke wurden, als Hecken und Bäume an Feldrändern verschwanden, als kleine Bauernhöfe entweder zu profitablen Landwirtschaftsbetrieben umgewandelt wurden oder untergingen und als Merret, Ellas und Sönkes Tochter, von einem der Vermesser der Flurbereinigung geschwängert wurde. Ihr kleiner Sohn Ingwer interessierte sie weniger als Schlagerlieder, und da sie nichts mit ihm anfangen konnte und in immer zunehmende Verwirrung verfiel, nahmen sich Sönke und Ella des Jungen an und zogen ihn groß. Ingwer verließ als einer der wenigen später das Dorf, gefördert vom alten Dorflehrer Steensen zunächst an das Gymnasium und später an die Uni in Kiel. Nach Binkebüll kommt er immer seltener, und die Übernahme von Sönkes Gastwirtschaft stand nie auf seinem Lebensplan.

Dörte Hansen erzählt mit großer Wärme und mit viel Gespür für altes und neues Dorfleben eine 60jährige Dorfgeschichte im Wandel. Ihre Charaktere sind vielfältig wie eine lebendige Dorfgemeinschaft, mit allen Ecken und Kanten, sympathisch oder geduldet, in allen Fällen unheimlich lebensecht. Wer wie ich auf dem Dorf aufgewachsen ist, erkennt zumindest ein paar der vergessen geglaubten Bewohner des eigenen Dorfes wieder, auch wenn man in einer völlig anderen Gegend lebt. Und das ist einfach wunderbar.
Zwar liegt Binkebüll in Norddeutschland und die Menschen im Roman sprechen ausgiebig Platt, aber das Dorf selbst ist überall zu finden, wo die Mittagsstunde zwischen zwölf und zwei, einst heilig und geeignet für Heimlichkeiten, verschwand im Zuge von Begradigungen und Neuerungen, schnellen Dorfstraßen statt Holperpisten, auf denen Kinder überfahren wurden und Jugendliche auf nächtlichen Ausflügen am Baum landeten.
Zwischen Vergangenheit und Gegenwart stetig wechselnd lernt man die Dorffamilie kennen. Jeder kennt jeden, Menschen mit Macken wie Merret, die in Klapperschuhen im ganzen Dorf den Untergang verkündet gehören genauso dazu wie die ständig lesende Bäckerstochter, die selbst beim Brötchenverkauf ein Buch in der Hand hält, oder Heiko Ketelsen, einst vom Vater geprügelt und nicht besonders schlau, aber mit großem Herz und jetzt mit Visionen einer Westernbar in Sönkes alter Kneipe. Ein herrlicher Dorfroman, der zugleich ein Familienroman ist, jeder kennt jeden, Zugezogene werden kritisch beäugt und höchst selten als völlig zum Dorf gehörend akzeptiert.
Dörte Hansen kann aber noch mehr. Man spürt beim Lesen, wie sich der steinerne Himmel auf die Schultern zu legen droht und zieht unwillkürlich gemeinsam mit Ingwer Feddersen die Schultern nach oben, wenn der ewige und feuchte Wind bläst. Landschaften und Stimmungen entstehen so in perfektem Kopfkino. 

Ohne Kitsch und ohne Schönfärberei, und auch ohne die Verklärtheit von Stadtmenschen, die die ländliche Idylle erträumen und die Plackerei nicht kennen, bekommt man eine Ahnung davon, was verloren ging und was keine Renaturierung und kein auf das Kirchendach gesetztes Storchennest zurück holen kann. Neben der Mittagsstunde und der großen Akzeptanz der Gemeinschaft füreinander verschwand auch die Enge, die Plackerei, der Misthaufen und die Rückständigkeit.

Ich habe zunächst das Hörbuch gehört, gelesen von der wunderbaren Hannelore Hoger, deren rabiate und resolute Leseart hervorragend zur Geschichte passt.
Die Sprecherin war diesmal allerdings für mich ein wenig gewöhnungsbedürftig, ich hatte anfangs Schwierigkeiten, die Kapitel klar zu unterscheiden, und auch vom Platt habe ich kaum etwas verstehen können. Hannelore Hoger verwischt für meinen Geschmack ein paar Pausen zu viel, ich bekam auch nicht immer alle Kapitelwechsel sofort mit. Ich habe nach dem Hören zusätzlich das Buch gelesen, weil mir die Geschichte so gut gefallen hat, und das hat sich für mich sehr gelohnt.
Meine vollste Leseempfehlung und eine 4,5-Sterne-Hörempfehlung.





Dörte Hansen „Mittagsstunde“
Roman, gebunden, 320 Seiten
Erschienen am 15.Oktober 2018
Penguin-Verlag
ISBN 978-3-328600039

Hörbuch, Format Audio-CD, ungekürzte Lesung
gelesen von Hannelore Hoger
Random House Audio
ISBN 978-3-837142785



2. Dezember 2018

Interessante Wohlfühlgeschichte mit Gruselfaktor




Die Plattform Lovelybooks hatte vergangene Nacht zur Hörnacht mit Stephen Kings neuester Novelle „Erhebung“ eingeladen und ich war eine der glücklichen Gewinnerinnen einer der vergebenen mp3-CD‘s.
Es hat Spaß gemacht, gemeinsam zu hören und sich direkt online auszutauschen.



Das Hörbuch „Erhebung“ von Stephen King schiebt die beschauliche Kleinstadt Castle Rock in den Focus des Geschehens. King hatte schon mehrere seiner Geschichten hier angesiedelt, schaurige und weniger schaurige. In seiner von David Nathan perfekt gelesenen Novelle steht neben dem üblichen unerklärlichen Phänomen im King-Style weniger der Gruselfaktor sondern mehr der gesellschaftliche Aspekt im Vordergrund.

Der Web-Designer Scott verliert rasant an Gewicht, unerklärlich und unsichtbar für andere, denn seine Körperfülle behält er. Unabhängig von den Dingen, die er am Körper trägt oder in den Händen hält zeigt seine Wage stets das gleiche sich vermindernde Gewicht an.
Mit seinen zwei Nachbarinnen, einem homosexuellen Pärchen, führt er einen sich ausweitenden Kampf, den er eigentlich gar nicht will, doch die Fronten sind verhärtet. Erst beim alljährlichen Stadtlauf in Castle Rock schafft es Scott durch eine äußerst menschliche Geste, den Kleinkrieg zu beenden. Durch seinen Anstoß finden die beiden Frauen Anerkennung und Akzeptanz in Castle Rock, wo zuvor unterschwellig große Ablehnung und Intoleranz herrschte. Und nicht zuletzt findet Scott einen Kreis, in dem er offen sein kann, in dem er akzeptiert und freundschaftlich geliebt wird.

Es ist nicht wirklich wichtig, was mit Scotts Körper passiert, sondern die Veränderungen in seinem Verhalten und in dem anderer in der auf den ersten Blick sehr gemütlichen Kleinstadt sind wesentlich. Ablehnung von Andersartigkeit durch die kleinbürgerliche Gesellschaft, in der Folge Verbitterung der Betroffenen und Ablehnung von Dialog und Kontakt stehen im Vordergrund. Märchenhaft, durch ein unerklärliches Phänomen, führt Stephen King eine Änderung herbei, wo vorherige Versuche des vernünftigen Umganges miteinander gescheitert sind. Dieser Aspekt gefällt mir weniger gut, denn er spricht trotz des hohen Wohlfühlfaktors der Geschichte, in der sich letztlich irgendwie alles zum Guten wendet, den Handelnden ihre normale Fähigkeit der Kooperation bei Problemlösungen ab. Aber gut, es ist nun mal kein realistischer Plot, auch wenn der zwischenmenschliche und gesellschaftliche Konsens hier sehr wohl aus realen Problemen heraus gepflückt wurde. Und ich jammere wohl gerade auf hohem Niveau, denn das Metier des Autors ist nun mal nicht die Realität, was jedem Leser und Hörer seiner Bücher vorher klar sein sollte. Unter diesem Gesichtspunkt ist es eine durchaus hörenswerte und interessante Novelle.


David Nathan als Sprecher ist übrigens wie immer einfach großartig und in meinen Augen für Lesungen gruselig oder übersinnlich angehauchter Stephen King Geschichten nicht zu überbieten. Allein dafür lohnt es sich, das Hörbuch zu hören.



Stephen King Erhebung
Gelesen von David Nathan
Hörbuch, mp3 CD,
Spielzeit 3 Std 8 Min
Erschienen bei Random House Audio
November 2018
ISBN 978-3-837144611

29. November 2018

Schicksalsfäden






Vorschusslorbeeren begleiteten das Erscheinen des Romans „Die Unsterblichen“ von Chloe Benjamin. Das Buch wurde von der Amerikanischen Presse gefeiert, ihr erster Roman „The Anathomy of Dreams“ war preisgekrönt. Und ihr zweites Buch enttäuschte mich nicht, denn auch wenn es auf der Erfolgswelle der Familienromane schwimmt, erzählt das Buch eine ganz besondere Geschichte, die spannend und sehr lesenswert ist.

Im Sommer 1969 erfahren die vier Kinder Varya, 13, Daniel, 11, Klara 9 und Simon, 7, von einer Wahrsagerin den Tag ihres Todes. Wie gehen sie damit um und wie verändern Sie sich und ihre Lebenswege im Angesicht des bekannten Endes? Was fangen sie mit der kostbaren Lebenszeit an, die ihnen bleibt? Wird ihnen das Wissen um den Tod zum Verhängnis?
Grenzgängerisch und grenzwertig sind die Erfahrungen, die Simon, Klara, Daniel und Varya machen und von denen der Roman in vier Abschnitten erzählt, in denen die Autorin jeweils einen Lebensweg ein Stück verfolgt.
Simon geht in den 1980er Jahren nach San Francisco, ohne Bewusstsein für Gefahr, auf der Suche nach Liebe und Lust. Klara verwirklicht ihren Traum und wird Zauberkünstlerin und Grenzgängerin zwischen Wirklichkeit und Magie, auf den Spuren ihrer Großmutter, die bei einem spektakulären Trick ums Leben kam. Daniel führt ein auf den ersten Blick normales Leben, als Militärarzt findet er Ordnung und Sicherheit nach den Anschlägen von 9/11, lebt aber in Düsternis wegen des Wissens um seinen Tod. Und Varya beschäftigt sich mit Altersforschung an Primaten, lebt dabei selbst wie ein Labortier abgeschottet und auf halber Kraft, so als müsste sie unbedingt selbst zu ihrer vorausgesagten Lebensspanne beitragen.

Eindrucksvoll, gekonnt und spannend beschreibt das Buch die vier Lebenswege, die nicht losgelöst voneinander stehen, sondern durch geschickt plazierte Querfäden und mäanderndes Erzählen von vergangener Familiengeschichte miteinander verknüpft sind. Chronologisch schließen die Abschnitte jeweils aneinander an, und das ist keineswegs langweilig, denn die Autorin liebt Abschweifungen innerhalb ihres Erzählfadens, so wie ich auch.

Die zentrale Frage des Romans ist für mich, ob das Wissen um den eigenen Tod Entscheidungen beeinflusst und wie die Figuren mit diesen Entscheidungen - den eigenen und denen ihrer Geschwister - umgehen. Es scheint so, als würden Simon, Klara, Daniel und Varya eben dadurch ihren Tod zwangsläufig herbeiführen, dass sie Dinge tun, die sie ohne dieses Wissen vermieden hätten. Trotz des verbindenden Erlebnisses mit der Wahrsagerin scheinen sich die familiären Beziehungen immer mehr auszudünnen und aufzulösen, über lange Zeiten leben die Geschwister getrennt und zerstritten, ohne Kontakt zueinander. Lediglich der Tod und sein Wissen um ihn scheint als verbindendes Element zu stehen. Trauer kommt oft vor Liebe, und der Verlust oder die Angst davor wirkt oft bestimmend für den zwischenmenschlichen Umgang.
Der Roman berührt vielleicht gerade dadurch so sehr, weil es keine Fantasy-Elemente gibt sondern nur die Wirklichkeit und das zunehmend düstere Schicksal, zu dessen Erfüllung die Geschwister letztlich allein beitragen.
Für mich ist es ein wirklich wunderbares Buch, das eine tragische und spannende Geschichte mit großer Lust am Fabulieren erzählt und von mir eine unbedingte Leseempfehlung bekommt.





Chloe Benjamin: Die Unsterblichen
Roman gebunden, 480 Seiten
Erschienen im btb-Verlag
Oktober 2018
ISBN 978-3-442758197

20,00 €

Spannendes Real-Crime-Epos





Filmreif, wie für die große Leinwand gemacht, erzählt Stephan Talty in seinem Real-Crime-Buch „Black Hand“ die Geschichte der ersten Mafia New Yorks und die Heldengeschichte des unerbittlichen Verfolgers der italienischen Verbrecherorganisation Joseph Petrosino. 

Der „italienische Sherlock Holmes“ Petrosino, der als Kind armer Süditaliener mit der ersten Einwanderungswelle 1873 in New York landete, mit der 6.Klasse die Schule verließ und mit Jobs als Schuhputzer und Straßenfeger schon als Teenager die gesamte Familie ernährte, besaß die Kraft und den Willen, sich inmitten des irisch dominierten New York Police Department als erster italienischer Detective Sergeant des Landes zu behaupten. Als Meister der Verkleidungen und erbarmungsloser Draufgänger legt er sich mit den Mafiagrößen der gefürchteten Organisation „Black Hand“ an und hatte dabei enorm großen Erfolg, trotz der lachhaft geringen finanziellen Mittel, die seiner Truppe „Italian Squad“ zur Verfügung standen. Spektakuläre Erfolge begleiteten seinen Weg genauso wie ständige Morddrohungen, Gefahr und Verrat, und ebenso ruhmreich und berühmt wie Petrosinos rastloses Leben ist seine Beerdigung, bei der die Straßen New Yorks von 250.000 Menschen gesäumt waren.

Talty zeichnet ein aufregendes Bild der Metropole New York zu Beginn des 20.Jahrhunderts mit Augenmerk auf Verbrechen und Korruption innerhalb der aufstrebenden Verbrecherorganisation „Black Hand“ und auch innerhalb des NYPD und der Stadtverwaltung. 
Spannend und sehr flüssig geschrieben liest sich das Buch eher wie ein Roman denn wie ein Sachbuch. Äußerst detaillierte Blicke auf Petrosinos Arbeit und auf seine Neuerungen, die die damalige Polizei landesweit revolutionierten, ebenso wie auf den Hergang von Verbrechen der Mafia-Organisation und die im Hintergrund gezogenen Fäden halten den Leser ganz dicht am Geschehen und sind gleichzeitig Sinnbild einer absolut hervorragenden und äußerst umfangreichen Recherche des Autors. Auch wenn das Buch sehr viele Details und Namen enthält schafft es Stephen Talty gekonnt, den roten Faden seiner Heldengeschichte um Petrosino nie zu verlieren, er verwebt kluge faktische Schilderung mit erzählerischer Spannung, was dieses Buch außergewöhnlich macht. 
Das Buch ist ein Real-Crime-Blockbuster, den ich allen Liebhabern aufregender Kriminalgeschichten mit gut recherchierten historischen Hintergrund nur empfehlen kann.
Und ich freue mich schon sehr auf die Filmversion mit Leonardo DiCaprio in der Rolle des Joseph Petrosino.





Black Hand
Stephan Talty
Klappbroschur 318 Seiten
Erschienen im Suhrkamp Verlag
November 2018
ISBN 978-3-518469248
Preis 14,95 €