„Mittagsstunde“ ist der neue und großartige Roman von Dörte Hansen, in dem sie den Bogen aus der Zeit der Mittagsruhe in den 1970er Jahren mit Flurbereinigung der kleinen dörflichen Parzellen bis in die heutige Zeit mit ihren spürbaren Veränderungen aber auch der Sturheit und dem Festhalten an Vertrautem durch die alten Dorfbewohner spannt.
Eine Dorfgeschichte und zugleich die Geschichte vieler Bewohner des Dorfes ziehen am Hörer/Leser vorbei. Im Vordergrund steht Ingwer Feddersen, heute 47, der als Hochschullehrer in Kiel lebt. Seit 25 Jahren wohnt er in Wohngemeinschaft mit Ragnhild und Claudius. Nichts Halbes und nichts Ganzes in seinen Augen, da keiner seiner Mitbewohner den Sprung in die erwachsene Verantwortung geschafft hat. Ingwer fühlt sich zwar wohl dort, doch tief innen ist er frustriert und unzufrieden.Da kommt es ihm sehr gelegen, dass er ein Sabbatjahr nimmt, um sich um seine Großeltern in Brinkebüll zu kümmern. Großvater Sönke, kaum noch beweglich, hält stur als Dorfkneiper die Stellung, Großmutter Ella ist hochgradig dement und verliert immer mehr ihren Verstand. Ingwer glaubt, den beiden Alten etwas zurückgeben zu müssen, seit sie ihn wie ihren Sohn aufgezogen hatten.
Inmitten der Gegenwartsgeschichte erzählt Dörte Hansen die Vergangenheit und den Wandel des Dorfes mit Rückblicken. Ausgang ist die Flurbereinigung in den 1970er Jahren, als alte krumme kleine Parzellen umgelagert wurden und daraus große gerade Flurstücke wurden, als Hecken und Bäume an Feldrändern verschwanden, als kleine Bauernhöfe entweder zu profitablen Landwirtschaftsbetrieben umgewandelt wurden oder untergingen und als Merret, Ellas und Sönkes Tochter, von einem der Vermesser der Flurbereinigung geschwängert wurde. Ihr kleiner Sohn Ingwer interessierte sie weniger als Schlagerlieder, und da sie nichts mit ihm anfangen konnte und in immer zunehmende Verwirrung verfiel, nahmen sich Sönke und Ella des Jungen an und zogen ihn groß. Ingwer verließ als einer der wenigen später das Dorf, gefördert vom alten Dorflehrer Steensen zunächst an das Gymnasium und später an die Uni in Kiel. Nach Binkebüll kommt er immer seltener, und die Übernahme von Sönkes Gastwirtschaft stand nie auf seinem Lebensplan.
Dörte Hansen erzählt mit großer Wärme und mit viel Gespür für altes und neues Dorfleben eine 60jährige Dorfgeschichte im Wandel. Ihre Charaktere sind vielfältig wie eine lebendige Dorfgemeinschaft, mit allen Ecken und Kanten, sympathisch oder geduldet, in allen Fällen unheimlich lebensecht. Wer wie ich auf dem Dorf aufgewachsen ist, erkennt zumindest ein paar der vergessen geglaubten Bewohner des eigenen Dorfes wieder, auch wenn man in einer völlig anderen Gegend lebt. Und das ist einfach wunderbar.
Zwar liegt Binkebüll in Norddeutschland und die Menschen im Roman sprechen ausgiebig Platt, aber das Dorf selbst ist überall zu finden, wo die Mittagsstunde zwischen zwölf und zwei, einst heilig und geeignet für Heimlichkeiten, verschwand im Zuge von Begradigungen und Neuerungen, schnellen Dorfstraßen statt Holperpisten, auf denen Kinder überfahren wurden und Jugendliche auf nächtlichen Ausflügen am Baum landeten.
Zwischen Vergangenheit und Gegenwart stetig wechselnd lernt man die Dorffamilie kennen. Jeder kennt jeden, Menschen mit Macken wie Merret, die in Klapperschuhen im ganzen Dorf den Untergang verkündet gehören genauso dazu wie die ständig lesende Bäckerstochter, die selbst beim Brötchenverkauf ein Buch in der Hand hält, oder Heiko Ketelsen, einst vom Vater geprügelt und nicht besonders schlau, aber mit großem Herz und jetzt mit Visionen einer Westernbar in Sönkes alter Kneipe. Ein herrlicher Dorfroman, der zugleich ein Familienroman ist, jeder kennt jeden, Zugezogene werden kritisch beäugt und höchst selten als völlig zum Dorf gehörend akzeptiert.
Dörte Hansen kann aber noch mehr. Man spürt beim Lesen, wie sich der steinerne Himmel auf die Schultern zu legen droht und zieht unwillkürlich gemeinsam mit Ingwer Feddersen die Schultern nach oben, wenn der ewige und feuchte Wind bläst. Landschaften und Stimmungen entstehen so in perfektem Kopfkino.
Ohne Kitsch und ohne Schönfärberei, und auch ohne die Verklärtheit von Stadtmenschen, die die ländliche Idylle erträumen und die Plackerei nicht kennen, bekommt man eine Ahnung davon, was verloren ging und was keine Renaturierung und kein auf das Kirchendach gesetztes Storchennest zurück holen kann. Neben der Mittagsstunde und der großen Akzeptanz der Gemeinschaft füreinander verschwand auch die Enge, die Plackerei, der Misthaufen und die Rückständigkeit.
Ich habe zunächst das Hörbuch gehört, gelesen von der wunderbaren Hannelore Hoger, deren rabiate und resolute Leseart hervorragend zur Geschichte passt.
Die Sprecherin war diesmal allerdings für mich ein wenig gewöhnungsbedürftig, ich hatte anfangs Schwierigkeiten, die Kapitel klar zu unterscheiden, und auch vom Platt habe ich kaum etwas verstehen können. Hannelore Hoger verwischt für meinen Geschmack ein paar Pausen zu viel, ich bekam auch nicht immer alle Kapitelwechsel sofort mit. Ich habe nach dem Hören zusätzlich das Buch gelesen, weil mir die Geschichte so gut gefallen hat, und das hat sich für mich sehr gelohnt.
Meine vollste Leseempfehlung und eine 4,5-Sterne-Hörempfehlung.
Dörte Hansen „Mittagsstunde“
Roman, gebunden, 320 Seiten
Erschienen am 15.Oktober 2018
Penguin-Verlag
ISBN 978-3-328600039
Hörbuch, Format Audio-CD, ungekürzte Lesung
gelesen von Hannelore Hoger
Random House Audio
ISBN 978-3-837142785
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