3. September 2018

Herzerwärmend






Herrliches Fabulieren mit wenigen Worten, eine trostspendende herzerwärmende Geschichte gegen die Langeweile und die Kälte, Ordnung im Durcheinander schaffen, das macht den neuen Roman „Königskinder“ von Alex Capus aus, in dem er eine Liebesgeschichte aus der vorrevolutionären Zeit im Frankreich Ludwig XVI. in den Rahmen einer Liebesgeschichte aus dem Heute setzt.

Im Schneegestöber ist das Auto von Tina und Max auf einem Gebirgspass stecken geblieben und beide könnten etwas Hoffnung und Wärme gebrauchen, denn wie es aussieht muss das Paar die Nacht auf dem Pass verbringen, ohne Telefonempfang. Seit 26 Jahren miteinander liiert verstehen sie sich prächtig in großen und wichtigen Fragen, streiten sich aber ständig über kleine Dinge, Sie kennen sich also sehr gut, sind miteinander vertraut und haben ein besonderes Talent dafür, die Stimmung des anderen zu spüren.
Gegen die Kälte, gegen die Panik und für die Hoffnung beginnt Max, seiner Frau eine „wahre“ Geschichte aus den Schweizer Alpen zu erzählen, die Geschichte eines Liebespaares aus dem 18.Jahrhundert.
Beginnend im Jahr 1779 fabuliert Max über den Kuhhirten Jakob, der im Greyerzer Land hoch oben in einer Melkhütte allein lebt, ein Naturbursche und spröder Einzelgänger, ein „Tarzan der Berge“. Jakob verliebt sich in die 19jährige Bauerntochter Marie-Françoise, sehr zum Ärger ihres Vaters, der als reicher Bauer der Liason der beiden wütend entgegentritt. Jakob flüchtet zum französischen Militär, kehrt nach Jahren zurück und nimmt die nunmehr volljährige Marie mit in seine Berghütte. Doch das Glück ist kurz, denn Jakob wird auf Befehl des französischen Königs Ludwig XVI. nach Versailles geholt, auf den Vorzeige-Bauernhof seiner exzentrischen Schwester Elisabeth, die für ihre Schweizer Milchkuh-Herde natürlich einen authentischen Hirten braucht. Als Prinzessin Elisabeth bemerkt, dass Jakob nicht glücklich ist, lässt sie auch Marie-Françoise auf ihren Bauernhof holen, um die beiden als „Königskinder“ zu vereinen.

Max ist ein begnadeter Erzähler, der die Geschichte unterbrochen und angefeuert von Tinas kritischen Kommentaren gegen die außerhalb des kleinen heimeligen eingeschneiten Autos herrschende Kälte der Schneenacht erzählt. Es ist nicht wichtig, ob die Geschichte wahr ist oder nicht, ob Max von einer angeblichen Melkhütte direkt gegenüber der Straße erzählt, am nächsten Morgen vielleicht eingeschneit und daher nicht mehr sichtbar, oder ob er das Geschehen mit Personendaten aus alten Melderegistern belegt. Wichtig ist, dass er Hoffnung gibt, tröstet und auf diese Art ein kleines warmes Licht für sich und seine Liebste entzündet.

Als Leser kann man sich bequem zurücklehnen und die äußerst gekonnte Sprache und die amüsante Geschichte von Alex Capus genießen, denn auch wenn es keine ungeheuer wichtige und absolut tiefgreifende Aussage enthält sondern einfach hervorragende warmherzige Unterhaltung bietet, ist dieses Buch ein Klejnod für Ordnung, Licht und Hoffnung im Dunkeln, für Zuversicht in scheinbar ausweglosen Situationen und steht dabei nicht zuletzt für die Kraft, die gute Geschichten enthalten und weitergeben können.


Alex Capus „Königskinder“
Roman gebunden, 176 Seiten
Erschienen im Hanser Verlag
August 2018
ISBN 978-3-446260092

21 Euro


Tragisch-Stilvolle Inselgeschichte





Tragisch und stilistisch gewollt angestaubt und altertümlich erzählt die preisgekrönte französische Autorin Sophie Van der Linden eine Liebesgeschichte zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts. Ihr Roman „Eine Nacht, ein Leben“ konzentriert die Handlung auf eine Nacht und auf eine Insel.

Der Maler Henri liebt Youna und reist ihr auf die französische Insel B. nach, auf die sie sich vor über einem Jahr von Henri unverstanden zurückzog und seither nichts mehr von sich hören ließ. Henri hofft, durch seinen überraschenden Besuch das Geschehen zu verstehen und die einstmalige Beziehung wieder zu beleben. Er verbringt einen Tag und eine Nacht auf der Insel, nachdem er keine Antwort von der nunmehr unabhängigen Youna bekommen hat, bis der Beginn der Ersten Weltkrieges ihn aus der träumerischen und malerischen Landschaft der Insel, aus erstaunlichen und interessanten Begegnungen mit Inselbewohnern und aus seinem Lebenstraum reißt.

Äußerst bildhaft und poetisch ist der Sprachstil der Autorin, ein bisschen klassisch und (wahrscheinlich gewollt) altertümlich, gespickt von stilvollen Landschaftsbildern, genauen Porträts vieler Randfiguren und Begegnungen von Henri mit den Inselbewohnern. 
Das Stück Lebensweg, auf dem man Henri beim Lesen begleitet, ist zwar wesentlich aber äußerst kurz mit den anberaumten 24 Stunden, und es gibt wenige Rückblicke auf sein und Younas bisheriges Leben. Mäandernd weicht die Autorin immer wieder ab, um die vielen Nebenfiguren, die Henri nur aus der Ferne betrachten, unter die Lupe zu nehmen. Das schafft für mich wenig Nähe zur Geschichte selbst sondern eher Abstand, wie durch ein Fernglas betrachtet. Der Blick auf Henri und Youna verliert sich dabei.


Ein schmales Büchlein, das mich leider nicht wirklich packen und überzeugen konnte, trotz des atmosphärischen, schönen und eleganten Stils entglitt mir die Geschichte beim Lesen.


Sophie Van der Linden „Eine Nacht, ein Leben“
Roman, gebunden 112 Seiten
Erschienen im Mare Verlag
August 2018
ISBN 978-3-866482784
18 Euro


2. September 2018

Warmherziges Sittengemälde





In seinem neuem Roman „Die Gesichter“ lotet der Autor Tom Rachman eine aufregende Vater-Sohn Beziehung mit viel psychologischem Spürsinn aus, wirft dabei einen warmherzig-kritischen Blick auf einen Ausnahmekünstler mit dem ihn umgebenden Kunstapparat und schafft mit Leichtigkeit und wie nebenbei eine spannungsgeladene, äußerst lesenswerte und wirklich grandiose Geschichte.

Bear Bavinsky, gefeierter Ausnahmekünstler, schillernde und exzessive Gestalt, Vater vieler Kinder und Mann zahlreicher Frauen, ist der leuchtende Mittelpunkt im Leben seines Lieblings-Sohnes Pinch. Bear malt wie besessenen mit großem Erfolg, verbrennt viele seiner Bilder, die ihn nicht zufrieden stellen, lebt Beziehungen zu seinen Frauen und Kindern immer solange, wie sie nicht kompliziert werden. Sein erklärter Lieblingssohn bewundert ihn und eifert ihm nach, doch mit einer einzigen Bemerkung über ein Gemälde von Pinch zerstört Bear alle Hoffnungen seines Sohnes auf ein Künstlerleben. Desillusioniert gibt Pinch das Malen für lange Zeit auf, träumt aber immer davon, seinem Vater menschlich und künstlerisch nahe zu sein. Und auch wenn es ihm gelingt, aus dem großen Kreis seiner Halbgeschwister derjenige zu bleiben, den der Vater zu seinem Lieblingskind und Nachlassverwalter bestimmt, steht er lange Zeit im übergroßen Schatten seines Vaters hintenan. Letztlich schlägt er sich als Lehrer an einer zweitklassigen Sprachschule in London durchs Leben. Nach dem Tod seines Vaters trifft Pinch eine ungeheuerliche Entscheidung und erreicht auf völlig überraschende Weise endlich das eigene innere Leuchten.

Die äußerst komplexe Vater-Sohn-Beziehung steht im Mittelpunkt der Geschichte. Bear als unglaublicher Charakter, talentiert und übermächtig, hält zwar in Bezug auf sein Leben und das seines Sohnes die Fäden in der Hand, ist allerdings als Familienmensch und Vater ein totaler Versager. Pinch, lange Jahre in seinem Schatten stehend und sprichwörtlich von seinen Tischabfällen lebend, lechzt immer wieder nach der Anerkennung von Bear, will dieser großen warmen Sonne um jeden Preis nahe sein, auch nachdem Bear sich neuen Frauen und Familien zuwendet. Es ist erstaunlich tiefsinnig beschrieben, was Pinch zu diesem Zweck auf sich nimmt, wie wenig er eigenes Licht ausstrahlt und wie lange er ohne es wirklich zu merken eigene Interessen komplett hintenan stellt. Umso erstaunlicher und für mich auf sehr überraschende und skurrile Art geschieht seine Emanzipation gegenüber dem mächtigen Vater nach dessen Tod.

Auch Bear muss um Anerkennung kämpfen auf künstlerischem Gebiet. Und das ist das zweite äußerst spannende Thema, dem sich der Autor zuwendet: der Kunstmarkt mit vielen Licht- und Schattenseiten, kapitalistischen Denkweisen versus wahrer Leidenschaft, Vermarktung, Spekulation und unzähligen skurrilen Galeristen, Sammlern, Journalisten. Was macht einen Künstler aus, genügt Talent für Erfolg oder braucht er Aufmerksamkeit durch Skandale und Ausschweifungen? Welche Hebel kann man manipulativ in Bewegung setzen?


Es ist grandios, wie warmherzig Tom Rachman seine Figuren beschreibt, wie nahe er den Leser an sie heran lässt, wie miteifernd und mitfühlend man die Geschichte dadurch verfolgt. Wortgewaltig und emotionsgeladen sind die zwischenmenschlichen Konflikte, manchmal skurril und oft mit erstaunlichem Witz geschrieben. Tief berührend ist das Schicksal von Pinch, der zeitlebens um Anerkennung buhlt. Tom Rachman kann großartig schreiben und hat eine wirklich gute, anspruchsvolle, emotionsgeladene, spannende und erstaunlich moralische Geschichte zu erzählen, wenn man sich ganz darauf einlässt.


Tom Rachman „Die Gesichter“
Roman, gebunden 416 Seiten
Erschienen bei dtv
August 2018
ISBN 978-3-423289696
22 Euro

Dystopisch und bizarr





Julia vonLucadou „Die Hochhausspringerin“
Roman, gebunden, 288 Seiten
Erschienen im Verlag Hanser Berlin August 2018
ISBN 978-3-446260399
19 Euro


Die Geschichte in einer bizarren und optimierten Welt, dystopisch und doch nicht allzu fern unserer digitalisierten Gegenwart, in der Brainhacking und Gehirnoptimierung bereits existieren, erzählt die Autorin Julia von Lucadou in ihrem beeindruckendem Debüt „Die Hochhausspringerin“. 

Totale Transparenz, Perfektionismus, Optimierung prägen das Leben der jungen Riva, eine Sportlerin und ein Star im Hochhausspringen, der ausbrechen möchte aus dem vergitterten Leben. Hitomi, eine Überwacherin weit weg von Riva, soll sie zurückholen ins perfekte gläserne Leben, dazu bewegen wieder zu trainieren und gefügig machen. Beiden Frauen droht im Falle von Hitomis Scheitern die Existenzvernichtung, der Abstieg und die Ausweisung aus dem leuchtenden Lebenszentrum in die Peripherien, ohne Bezug zur übrigen Gesellschaft, ein Leben in Schmutz, sich selbst überlassen und ohne Möglichkeit des Dienstes an der Gesellschaft.
In einer scheinbar perfekten, klinisch reinen, technisierten Gesellschaft, in der Entspannung und Ausgeglichenheit ebenso Pflicht sind wie das perfekte Funktionieren, um dienen zu können, ist das wohl das schlimmste Abseits, in das ihre Mitglieder geraten können.

Julia von Lucadou stellt auf sehr diffizile Weise die Menschlichkeit in einer perfekten Gesellschaft in Frage, unterwirft ihre Charaktere einer Prüfung, was bleibt wenn man all den Glanz, den Ruhm und die obligatorische Optimierung von Körper und Geist abkratzt. Sie wandelt dabei gekonnt auf dem schmalen Pfad von Begehrlichkeiten und Auflehnung, von verlangter Ausgeglichenheit und verhaltenem Zögern, setzt ihre Figuren existenziellen Entscheidungsfragen aus, und all das in einer glitzernden,völlig bizarren, detailliert gruseligen schönen neuen Welt a la „Big Brother“ oder „1984“.

Die Sprache fügt sich nahezu perfekt in das Geschehen ein. Knapp und kalt mit hackenden Sätzen liest sich der Roman mit zukunftsträchtigen Wortschöpfungen, die man aus dem normalen Sprachgebrauch (Gottseidank) nicht kennt. 

Spannend entwickelt sich die Geschichte, mit hinreichendem Background zu den Figuren und einigen Überraschungen halte ich diesen Roman für äußerst gelungen, beängstigend, schockierend und aufrüttelnd, wenn man sich vor Augen führt, wie nahe wir schon an der hier beschriebenen optimierten Gesellschaft leben.

26. August 2018

Coming of Age auf Britisch





In ihrem Erstling „Weit weg von Verona“ trifft die gefeierte britische Autorin Jane Gardam den Ton einer altklugen und  launigen 13jährigen einfach perfekt. Skurril und aberwitzig, trocken und „very British“ folgt man auf verdrehten Gedanken und Wegen der Jessica Vye in Cleveland Sands und Cleveland Spa an der nordöstlichen Küste Englands, grandios übersetzt von Isabel Bogdan. 
Es ist eines der unterhaltsamsten Bücher, die ich in letzter Zeit gelesen habe.

Zentrum der Geschichte ist die 13jährige Jessica, die sich in der Schule langweilt und aus Prinzip immer die Wahrheit sagt. Letzteres macht sie nach eigener Einschätzung ziemlich unbeliebt. Sie lebt an der ostenglischen Küste zu Zeiten des Zweiten Weltkrieges, als Luftangriffe der Deutschen das Land heimsuchten. Ihr Vater, ehemals Housemaster einer Schule, verdingt sich nunmehr als Hilfsgeistlicher und schreibt philosophische Zeitungsartikel. Die Mutter ist Hausfrau, eine etwas schnoddrige, und der kleine Bruder ist die Nervensäge der Recht unkonventionellen Familie.
Jessica möchte Schriftstellerin werden, spricht gerne wie Shakespeare in Blankversen und versucht alle Klassiker der örtlichen Bibliothek zu lesen - in alphabetischer Reihenfolge.
Ermutigt wird sie von einem Schriftsteller, der an Jessicas Schule sprach als sie neun Jahre alt war, gebremst von ihrer missmutigen Englischlehrerin Miss Dobbs, die in ihren Bemühungen nur die Flausen einer Heranwachsenden sieht.
Mitten im Lesen, Schreiben, in ihrer ersten Liebe und den Luftangriffen, bei ihren alltäglichen Verrücktheiten mit Freundinnen oder mit der Familie sucht Jessica ihren Weg, erzählt schnoddrig und mäandernd von ihren Erlebnissen und lässt sich von nichts und niemandem einschüchtern.

Das Buch besitzt eine sprachliche Spitzfindigkeit und treibende Dynamik, die beim Lesen große Freude macht. Jane Gardams erster Roman zeigt sehr deutlich, warum sie für ihre Trilogie „Old Fith“ so gefeiert wurde. Einfach eine schöne Geschichte erzählt das Buch hier, unterhält auf höchstem Niveau und ist nicht zuletzt dank der hervorragenden Übersetzung rundum gelungen.



Jane Gardam „Weit weg von Verona“
Roman gebunden, 240 Seiten
Verlag Hanser Berlin
Erschienen im Juli 2018
ISBN 978-3-446260405

22,00 Euro

Dystopisch?





Was passieren kann, wenn aufgeklärte unabhängige Frauen sich lieber ihrer kleinen heilen Welt und Karrierebasteleien zuwenden anstatt aufzustehen und für ihre Rechte zu kämpfen zeigt dystopisch angelegte Roman „Vox“ von Christina Dalcher. Gar nicht so weit in der Zukunft liegend greift sie die Dinglichkeit der #metoo-Bewegung in den USA nach der Machtergreifung Donald Trumps auf und spinnt einfach ein kleines Stückchen weiter, mit schrecklichen Aussichten.

Hundert Wörter haben Frauen in der Bibel-basierten schönen neuen Welt in der nicht allzu fernen Zukunft in den USA täglich zur Verfügung. Bei Mehrverbrauch wird körperlich gezüchtigt mit Armbändern, die Stromschläge verteilen. Jean McClellan, bis vor knapp zwei Jahren emanzipierte und anerkannte Linguistin, musste wie alle anderen Frauen auch ihren Job in der Hirnforschung beenden um als ihrem Mann untergebene und der Familie ergebene Hausfrau den Alltag im Haus zu fristen, eingeschränkt und reglementiert mit Überwachung und irrwitzigen Vorschriften, einzig gefordert und abgelenkt mit zensierten langweiligen Fernsehsendungen. Sie hatte nicht gekämpft, als es höchste Zeit dafür war, hatte lieber an ihrer nunmehr beendeten Karriere gebastelt und ihre kämpferische Mitbewohnerin bei Demonstrationen gegen das aufstrebende bibeltreue extremistische Regime sprichwörtlich allein im Regen stehen gelassen. Fassungslos und ohne Stimme muss sie nun mit ansehen, wie ihre kleine Tochter Sonja an der Schulen zur guten wortkargen Hausfrauen ausgebildet wird. Sprache, Schrift, Bücher und Entscheidungsmöglichkeiten stehen nur den Jungen und Männern zur Verfügung, sofern sie Regime-treu denken und handeln.
Doch das ist nicht das Ende, und Jean bekommt sie Chance, die Gesellschaft zu ändern und ergreift sie.

Es ist ein äußerst spannendes und aufrüttelndes Thema, das die Autorin mit vielen interessanten Aspekten aufgreift. Umso wichtiger, da die Anfänge der Geschichte in unserer heutigen Zeit liegen könnten, in der viele Menschen dummerweise eben nicht rechtzeitig aufstehen und Nein sagen, sondern gefangen in ihren Karrierebasteleien versuchen, vorwärts zu kommen, Leistung zu erbringen und äußerst bedrohliche Zeichen von Veränderungen bewusst oder unbewusst ignorieren.
Reglementierung, Intersektionalität, schleichende Beeinflussung von Kindern an Schulen, falsche Moral und falscher Idealismus auf Kosten eines Teiles der Gesellschaft, Unterordnung und Duldung und Ja-Sagen und nicht zuletzt Extremismus wird hier weitergedacht und in all ihren Blüten im Großen und im Kleinen auf äußerst erschreckende Weise gezeigt. Die Autorin gestaltet die Geschichte dabei auf sehr persönlicher Ebene für Jean und ihr Umfeld, was dem ganzen mehr Eindringlichkeit als eine gesellschaftliche Kritik im Allgemeinen verleiht.

So weit so gut, doch leider gleitet das Buch im letzten Drittel zur unglaubwürdigen und für mich wirklich äußerst konstruierten Schmonzette ab, als Jean versucht, das Land zu retten. An den Haaren herbeigezogene Verwicklungen und Zufälle und ein übertriebenes Liebesgeplänkel machen aus einem glaubwürdigem, guten und aufrüttelnden Buch leider eine flache und wenig glaubwürdige Geschichte, die eine kämpferisch-positive Friede-Freude-Eierkuchen-Stimmung verbreiten will, die so gar nicht zu den ersten Teil passt. Wenn die guten Cowboys alles richtig machen, wird am Ende alles wieder gut. Für alle.

Schade für das Buch, dem ich ein runderes und realistischeres Ende gewünscht hätte.
Das große Potenzial des Anfangs, in dem äußerst eindringlich vermittelt wird, dass man nie die Hände in den Schoß legen darf, sich nie das Ruder aus der Hand nehmen lassen sollte, sondern aufstehen und kämpfen muss, und das mit leisen Tönen und sehr persönlich betrachtet, verliert sich damit, leider.



Christina Dalcher „Vox“
Roman gebunden, 400 Seiten
Verlag S. Fischer
Erschienen im August 2018
ISBN 978-3-103974072

20 Euro

Verlust





Der Debütroman „Elly“ von Maike Wetzel zeigt auf ungewöhnlich eindrucksvolle Weise den Umgang einer Familie mit dem Verschwinden eines Mitgliedes. 

Die elfjährige Elly ist verschwunden, spurlos auf dem nachmittäglichen Weg zum Judotraining im Nachbarort. Die Familie mit Eltern und älterer Schwester bleibt zurück und bemüht sich um Weiterleben. Elly bleibt aber, in den Gedanken, die sich ziellos und endlos um den Tag des Verschwindens, um Schuldgefühle und um Erinnerungen drehen, ebenso durch die Suche nach dem Mädchen und in der Trauer um den Verlust, der keine Gewissheit und keinen Ort zum Trauern kennt. Der Alltag geht weiter, holprig und ganz nah am Abgrund für die Eltern, mit der Versuch um Ersatz für Elly für die größer Schwester. Der Zusammenhalt löst sich jedoch unaufhaltsam auf, die Fassade bröckelt und die Gewissheiten, Verlässlichkeiten und der background als Familie verschwindet zusehends im Sog von Trauer, Verlust und Sehnsucht.

Düster ist die Grundstimmung, schrecklich im Verlust selbst und letztlich ohne oder nur mit falscher Hoffnung stehen alle Charaktere da. Dass ein Kind verschwindet ist ein fürchterliches Ereignis, noch entsetzlicher die Ungewissheit, was passierte. Und gruselig und abgründig ist der Umgang der Familienmitglieder mit dem Verlust. Ines, die ältere Schwester, versucht sich eine neue Elly zu schaffen, Judith, die Mutter, verliert sich in Süchtigkeit. Hamid, der Vater wühlt in Schuld und Sühne. Alle klinken sich letztlich aus der Wirklichkeit aus und driften in verschiedene Richtungen auseinander. Das Konstrukt Familie zerfällt, löst sich auf, und man schaut als Leser äußerst hilflos dabei zu, weil es keine Lösung für Zusammenhalt, Wärme und Hoffnung gibt.

Vielstimmig und immer in der Ich-Form, den Leser dabei direkt wie von einer Theaterbühne herab ansprechend, erzählen die Zurückgebliebenen vom Alltag nach den Verschwinden, von ihren Gefühlen und Gedanken. Das ist ungewöhnlich und eindringlich, erzeugt Nähe und Distanz gleichzeitig durch die direkte Vortragsart, ohne die Möglichkeit, wirklich in die Köpfe einzudringen. Es bleibt einerseits kein Platz, man kann sich als Leser einer direkten Anrede nicht entziehen. Andererseits bestimmt die Figur selbst, wie viel sie von sich preisgibt.
Unterstützt wird das sprachlich brillant, mit kurzen und spröden, fast hackenden Sätzen, mit denen die Autorin ihren Text gestaltet.

Durch die Knappheit des Textes ist man als Leser gezwungen, die Zwischenräume selbst auszufüllen. Mutig verzichtet die Autorin auf Details und ablenkende Beschreibungen, geht keine Nebenwege, sondern hält sowohl ihre Figuren als auch ihr Publikum rigoros bei der Stange. Das fordert beim Lesen, schafft eine unheimliche erzählerische Wucht, und man kann sich nicht einfach davon mogeln und zurückziehen. Bravo dafür!
Das schmale Büchlein ist für mich dadurch ein eindrucksvolles Beispiel großartiger Andersartigkeit beim sehr geradlinigen vielstimmigen Erzählen einer eindringlichen Geschichte.




Maike Wetzel „Elly“
Roman gebunden, 152 Seiten
Verlag Schöffling
Erschienen im August 2018
ISBN 978-3-895612862

20,00 Euro