5. September 2019

Grausam und schön





Dicht und voller Poesie das Elend übertünchend schickt der italienische Autor Giosuè Calaciura in seinem Buch „Die Kinder des Borgo Vecchio“ den Leser in das Armenviertel von Palermo, irgendwann in der jüngeren Vergangenheit. Märchenhaft und Symbolträchtig setzt er Ungerechtigkeit, Armut und Trostlosigkeit gekonnt in Szene, emporgehoben von kleinen Freuden, die wie ein plötzlich auftauchender Sonnenstrahl am Wolkendrohenden Himmel Schönheit auch unter all dem Dreck und Gestank vermuten lassen und manchmal fast biblisch wirken.

Mimmo, Cristofano und Celeste fristen ein bedauernswertes und tristes Dasein im Borgo Vecchio, wo alle Träume im Schmutz erstickt sind, Armut und Gewalt das Leben bestimmen und Willenlosigkeit dem Ausbruch aus all dem Elend vereitelt. Die Kinder hegen dennoch heimliche Träume und vergöttern den Gauner Totò, weil er märchenhaft schnell alle austrickst, der Obrigkeit entkommt wie der Wind und scheinbar jenseits aller Grenzen agiert.
Die brutale Wirklichkeit fängt sie immer wieder ein, wenn Cristofano von seinem Vater allabendlich geprügelt wird und alle Nachbarn sein Schreien überhören, wenn Celeste Tage und Nächte auf dem Balkon verbringen muss weil ihre Mutter, die Prostituierte des Viertels, sich um Freier kümmert und die Tochter aussperrt und wenn Mimmos Vater, der Fleischer des Viertels, der Aufschneider und Betrüger, die Armen noch mehr ausnimmt. Wenn hingegen allabendlich der Brotduft durch das Viertel zieht, glätten sich alle Wogen des Tages, märchenhaft fühlt man sich beim Lesen, und kann dabei das Brot fast selbst riechen.

In der Gemeinschaft findet jeder seinen Platz, egal ob mit aller Brutalität oder voller Güte. Wenn Cristofano allabendlich verdroschen wird ist das sein Schicksal und das seines Vaters, vorgezeichnet und unabweichbar beide aneinander bindend.  
Die drei Kinder geben sich gegenseitig Halt, und obwohl sie der Kralle des Elends scheinbar nicht entkommen können, versuchen sie immer wieder, den Kreislauf zu durchbrechen.

Der Roman, der 2017 mit dem Premio Volponi ausgezeichnet wurde, besticht durch die grandiose poetische Sprache, mit der Bilder lebendig werden, mit dem Zwingen des Lesers, den Blick nicht abzuwenden von fast nicht auszuhaltender und nebenbei erzählter Not und Gewalt. Und die Geschichte kommt trotz des Elends oft märchenhaft und leichtfüßig daher. Man bekommt neben dem Zoom auf die Armut ein Gefühl für die Gelassenheit, die die Menschen das alles ertragen lässt.

Vieles wirkt vorsinnflutlich, anderes modern und dem Zeitgeist entsprechend. Es passieren wunderliche Dinge, die an Märchen erinnern, und symbolträchtige Ereignisse lassen an einen alttestamentarischen rachsüchtigen Gott denken. Grausamkeiten werden oft wie nebenbei angesprochen, finden manchmal keine direkte Erwähnung, fast ignorant steigt der Autor darüber hinweg, und sie wirken dadurch umso eindringlicher, weil sie so sehr zum alltäglichen Leben gehörend wirken.

Das Buch hat mich angezogen und abgestoßen zugleich, und ich kam mir manchmal wie in einer surrealen Italienischen Oper festsitzend vor. Sprachlich absolut fesselnd und grandios ist es ein  grausam schönes Buch, das sich in der Kitschecke ebenso bedient wie im Alten Testament, das Brutalität durch ständige abscheuliche Beschreibung aufzeigt, und ein fast opulentes opernhaftes Ende kann nicht trösten, will es auch nicht.
Ich habe mich schwer getan mit der Bewertung, mich letztlich für vier Lesesterne entschieden.



Giosuè Calaciura
Die Kinder des Borgo Vecchio
Roman, gebunden 153 Seiten
Aufbau Verlag 12. Juli 2019
ISBN 978-3351037902

Preis 18€

4. September 2019

Genie und Wahnsinn




Als „das Augenkrebsbuch“ kursiert der Roman von Angela Lehner “Vater unser“ in meinem Leseforum wharchareadin, und allein das Cover ist ein Schlag ins Gesicht - knallpink und rot, und auch schon der Titel gibt Anlass zu fragen, ob der echte Vater oder Gott gemeint ist. Dazu trägt bei, dass das Buch in drei Akte geteilt ist: Der Vater. Der Sohn. Der heilige Geist.
Knallig, rotzig und kraftvoll ist die erzählte Geschichte, bei der es um eine junge geistesgestörte Patientin im altehrwürdigen Spital „Otto Wagner“ geht.

Eva Gruber wird von der Polizei im Spital abgeliefert, weil sie eine Kindergartengruppe umgebracht haben soll. Sie trifft dort ihren Bruder Bernhard, ebenfalls Patient, den sie retten will.
Erzählt wird im Roman ihre Geschichte aus der Ich-Perspektive, über den Aufenthalt in der psychiatrischen Heilanstalt mit Rückblicken auf die Kindheits- und Familiengeschichte. Immer wieder taucht ihr Vater in den Erinnerungen auf, und auf ihn ist Eva nicht gut zu sprechen, beschließt sogar, ihn zu töten zu Bernhards Rettung.
Eva, die unzuverlässige Erzählerin, berichtet in Sitzungen ihrem Psychiater Dr. Korb aus ihrem Leben, im Ton der Straße, völlig respektlos und raubeinig. Es wird sehr schnell klar, dass sie eine völlig verdrehte Beziehung zur Realität hat, die Irrwege ihrer Familie durch die Augen einer Geistesgestörten sieht. 

Beim Lesen der Gespräche zwischen Eva und Korb, wie sie ihn nennt, fragt man sich zeitweise, wer von beiden der Gestörte ist, muss auflachen über den Schlagabtausch und kurz danach bleibt das Lachen im Hals stecken. Verrückt sind die da draußen, die sich scheinbar ohne Mühe einfügen und mitspielen ist der Ton hinter den Gesprächen zwischen Psychiater und Patientin.
Die Gesunden machen die Regeln und stecken das enge Feld der Normalität ab, wie der Pfleger, der Eva das Werfen der Bettdecke verbietet, oder der Lehrer, der sie schlug, weil sie vor lauter Angst glaubte, das Vater Unser nicht aufsagen zu können.

Schnörkellos und mit einer gut überschaubaren Menge an Personal erzählt die Autorin Evas Geschichte, die sich auch immer wieder auf die Schuld der Familie bezieht, von der Eva allerdings glaubt sie nicht zu brauchen, weder zum Leben noch zum Töten. 
Trotzig und energiegeladen spielt Eva ein Katz und Maus - Spiel mit den Ärzten und Patienten im Spital, manipuliert und lügt, hält mit aller Kraft gegen Tristesse und eingefahrenen Gleise. Voller Ironie beschreibt die Autorin Themen der Psychotherapie und das Milieu der Kindheit in Kärnten mit dem ländlichen Katholizismus und dem ungläubigen Vater mit Heiligenschrein von Jörg Haider im heimischen Arbeitszimmer.

Parodistisch und ironisch ergibt das ein äußerst unterhaltsames Debüt mit einigen Überraschungen, Klischees werden gekonnt umschifft, Fettnäpfchen gesucht und genüsslich darin herumgetrampelt, während völlig nebenbei Krankenhauspathos demontiert wird.
Mir hat‘s gefallen, sehr sogar.

Angela Lehner „Vater unser“
Roman gebunden, 284 Seiten
Erschienen bei Hanser Berlin
18. Februar 2019
ISBN 978-3446262591
Preis 22€

1. September 2019

Master of the Universe





In seinem Buch „Willkommen in Lake Success“ lässt der Autor Gary Shteyngart einen neureichen Hedgefondsmanager auf das arme Amerika prallen, im Greyhound-Bus quer durchs Land im Jahr des Wahlsieges von Donald Trump.

Unsympathisch und tragikomisch ist Barry Cohen, einstmals leuchtender Stern am Hedgefondshimmel, jetzt mit der Finanzaufsicht wegen Insidergeschäften im Nacken auf der Flucht aus seinem augenscheinlich perfektem Manhatten-Leben mit Frau und autistischem Sohn. Mit einem Koffer voller teurer Uhren landet er mitten in der Nacht an einer Greyhoundstation und macht sich auf den Weg zu seiner Jugendliebe aus Collegetagen.
Barry hat in seiner freudlosen Jugend hart daran gearbeitet, mit Menschen umzugehen, mit einstudierten Freundschaftssätzen begibt er sich unter seine Mitmenschen, die er nerdhaft und distanziert eher als Streichelzoo und Projekte denn als gleichberechtigt betrachtet.
Begeisterungsfähig stolpert er durch viele Begegnungen mit dem armen Amerika, ist mittellos, blind für die Gefühle anderer. Und auch wenn es oft den Anschein hat, dass er abstürzt landet Barry immer wieder auf den Füßen. Er sieht sich als Mentor für Junkies und Abgehalfterte, hat große Pläne für junge Drogendealer, die immer als Parallelspur neben der Realität verlaufen.

Vom Sohn eines jüdischen Poolreinigers zum Superreichen und dann im Freien Fall in den Abgrund, kurz davor gestoppt und wieder aufgestiegen ist der turbulente Weg von Barry, die meiste Zeit begleitet vom Ticken seiner teuren Uhrensammlung, bis ihm auch diese letzte Verbindung zu seinem alten Luxus-Leben in einem Greyhound-Bus gestohlen wird. Mit immenser Leutseeligkeit und Naivität scheint Barry durch und in Begebenheiten zu taumeln, manipulativ und mitleiderregend, auf der Suche nach Glück und dem wahren Leben, großherzig im Kleinen und ein wahres Raubtier bei großen schmutzigen Geschäften. Widersprüchlich und zerrissen wie sein Charakter ist auch sein Handeln.

Gary Shteyngart nimmt seine Leser mit auf eine Wahnsinnstour durch Amerika kurz vor Trumps Wahlsieg. Er zeichnet ein Sitten- und Stimmungsgemälde des reichen und armen Amerika im Jahr 2016, bitterböse satirisch, schön und schäbig, oft nur als Blitzlichter am Rand von Barry‘s Greyhound-Tour. 
Man muss sich schon Zeit lassen beim Lesen, sonst übersieht man schnell ein paar Feinheiten, und das ist schwer bei der soghaften Art des Erzählens von Shteyngart.
Und man hat manchmal das Gefühl, dass man genau diesen Menschen lieber nicht begegnen möchte, die Barry trifft. Gary Shteyngart versteht es, den Finger immer wieder in die Wunde zu führen, keine der Figuren taugt wirklich als Sympathieträger, und das ist tatsächlich großartig umgesetzt. Man ist gefesselt, wenn auch manchmal voll Abscheu und Unglauben, doch manchmal voller Empathie für eine bestimmte Handlung Barry‘s. Es ist ein genialer Roman, oft völlig und mit ganzer Absicht überzeichnet, witzig und abgründig, satirisch und bitterböse.
Einzig der Schluß macht mich ein ganz klein wenig unzufrieden, denn Shteyngart versucht den Leser mit Barry zu versöhnen und hat letztlich Mitleid mit ihm. Aber das ist wohl einfach nur Geschmackssache.

Das Buch ist unbedingt lesenswert für alle, die böse augenzwinkernde amerikanische Satiren mögen, so wie ich.


Gary Shteyngart „Willkommen in Lake Success“
Aus denn Englischen von Ingo Herzke
Roman gebunden, 432 Seiten
Erschienen im Penguin Verlag
Am 15. April 2019
ISBN 978-3328600695
Preis 24€

25. August 2019

Wendezeit - Nostalgie





Warmherzig und humorvoll, leichtfüßig und mit einem Augenzwinkern erzählt Gregor Sander in seinem Roman „Alles richtig gemacht“ die Geschichte einer Männerfreundschaft rund um die Wendezeit.

Thomas und Daniel lernen sich auf dem Schulhof in Rostock kennen, und trotz oder wegen ihrer Gegensätzlichkeit werden sie Freunde. Thomas der Sohn einer kleinbürgerlichen Familie, deren Drogeriegeschäft zwar die DDR, nicht aber die Wende überlebt, fühlt sich zum raubeinigen furchtlosen Daniel hingezogen, dessen Mutter ihn nach einer Affäre mit ihrem verheirateten Chefarzt allein aufzog. Als Teenager kurz nach der Wende wohnen sie zusammen im heruntergekommenen Hafenviertel in Rostock, nostalgisch und frei unter dem Dach. Thomas beginnt nach der Armeezeit eine Ausbildung in Handel. Daniel lernt Koch, hat aber in Rostock keine Chance mehr zu arbeiten und zieht nach einem Zusammenstoß mit Neonazis nach Berlin. Einsamkeit in Rostock, die auch seine Freundin Kerstin nicht ändert, folgt er Daniel.
Berlin in der 1990ern zeigt den Freunden ungeahnte Möglichkeiten. Thomas bewegt sich in die konventionelle Richtung und studiert, Daniel tanzt mit Drogen und kleinkriminellen Machenschaften auf dem Vulkan. Ihre Wege trennen bei einer Irland-Reise die sie gemeinsam mit Thomas Freundin Kerstin und deren Freundin Manne, unternehmen. Daniel beschließt zu bleiben.
Jahre später taucht Daniel bei Thomas wieder auf, als dieser ein bürgerliches schmerbäuchiges Leben als Partner in einer Rechtsanwaltskanzlei in Berlin Moabit führt, das gerade aus den Fugen zu geraten droht. Seine Frau Stephanie hat ihn mit den beiden Töchtern nach einem Streit verlassen und er versteckt sich trinkend und rauchend eine Woche krank in seinem Haus in Berlin, der ehemaligen Libyschen Botschaft der DDR, bis ihn seine Kanzleipartnerin zurückpfeift. 
Genau zu diesem Zeitpunkt taucht Daniel wieder auf, und man begleitet ab diesem Zeitpunkt den nunmehr fast 50jährigen Thomas in der Gegenwart eine Woche lang durch seine Tage, angefüllt mit rückblickenden Kapiteln dazwischen, die die Geschichte von Thomas und Daniel erzählen.

Gregor Sander versteht es ausgezeichnet, die Stimmung vor und auch nach der Wende einzufangen. Er erzählt in einem nüchternen Ton ohne Pathos, mit viel Augenzwinkern, so dass ich ihm sehr gerne gefolgt bin und an vielen Stellen Erinnerungen ausgraben konnte, die mir ein Lächeln ins Gesicht gezaubert haben. Ich habe mich sowohl in Rostock (das ich kaum kenne) als auch in Berlin (das ich gut kenne) sehr zuhause gefühlt während des Lesens. Der Grundtenor des Aufbruchs und des Umbruchs, die Chancen für einen Neuanfang ohne das alte System hat Gregor Sander sehr gut wiedergegeben. Typische Geschichten, die überall im ehemaligen Osten passierten, verflechten sich kunstvoll und wie von selbst mit den persönlichen Erlebnissen von Daniel und Thomas, deren Geschichte aus Ostdeutscher Sicht gar nicht so ungewöhnlich ist.
Anker in der Zeit sind Ereignisse wie Rostock Lichtenhagen, als Neonazis tagelang Asylanten terrorisierten und alle zusahen, 9/11 oder auch der G8-Gipfel in Heiligendamm.
Schlimme Ereignisse, die genau wie der Niedergang, die hohe Arbeitslosigkeit und die Existenzangst im Osten eben mal nicht die Hauptrolle spielen, sondern zwar Erwähnung finden, aber die Grundstimmung nicht bestimmen, ohne dass diese einfach nur Freudentaumel wäre. 

Mir gefällt dieser Umgang damit sehr gut, denn für mich ist es ein sehr lesenswertes Buch, das genau hinschaut ohne zu urteilen und die Stimmung damals sehr gut einzufangen vermag. Und Gregor Sander kann erzählen, nimmt den Leser mit auf seine spannende Tour in die klischeefrei dargestellte Vergangenheit. Über die beiden Protagonisten Thomas und Daniel lässt sich streiten, genauso über die titelgebende Frage, ob sie alles richtig gemacht haben, denn natürlich wird vieles eben nicht richtig gemacht.
Das Buch bekommt von mir eine Leseempfehlung und vier Sterne. Ganz am Schluß war ich ein bisschen unglücklich damit, dass der Autor mich etwas zu schnell führte und Ereignisse sich überschlugen. Aber das ist Geschmacksache und schmälert meinen Lesegenuss nicht wirklich.




Gregor Sander „Alles richtig gemacht“
Roman gebunden, 240 Seiten
erschienen am 19. August 2019
im Penguin Verlag
ISBN 978-3-328606673

Preis 20 €

4. Juli 2019

Berühmter Flüchtling





Der Schweizer Autor Lukas Hartmann hat in seinem Roman „Der Sänger“ ein Buch über den Tenor Joseph Schmidt geschrieben, das hervorragend recherchiert ist und ebenso spannend wie unterhaltsam von Leben des weltberühmten talentierten Mannes erzählt. Eine Fülle von Informationen und höchst interessante Blicke und Sichtweisen auf Flüchtlinge mit dem Verlust an Menschlichkeit und Identität machen das Buch zu weit mehr als einem guten historisch-biografischem Roman.

Der lyrische Tenor Joseph Schmidt vermag Konzertsäle zu füllen, ist Liebling bei den Damen und weit über Deutschland hinaus bekannt. Seine Kleinwüchsigkeit verhindert eine Bühnenkarriere, daher sang er mit großem Erfolg Rundfunkopern. Als Sohn orthodoxer Juden in Czernowitz geboren verließ er Berlin 1933, gab nur noch vereinzelt Konzerte in Deutschland, bis er 1938 endgültig versuchte, als Flüchtling in Belgien und Frankreich durchzukommen. Der Roman setzt 1942 ein, als es Schmidt nach Südfrankreich verschlagen hatte und er von dort aus versucht, in die Schweiz zu gelangen. Nach mehrmaligen und vergeblichen Versuchen, offiziell in die Schweiz einzureisen, gelingt ihm schließlich im Oktober 1942 der illegale Grenzübertritt. Er wird wie viele andere Juden, die auf diese Art einreisten, im Lager Girenbad bei Zürich interniert unter verheerenden Zuständen. Nicht nur Kälte, harte Arbeit und Nahrungsmittelmangel machen den Häftlingen das Leben schwer, sondern auch die Verachtung des Personals gegenüber jüdischen Insassen.
Die Verantwortlichen Schweizer Behörden legen ein menschenverachtendes Vorgehen an den Tag, rauben den Menschen ihre Identität und behandeln sie wie nutzlose und überflüssige Gegenstände statt wie hilflose und verfolgte Menschen, die mit nichts als dem Leben aus der damaligen Deutschen Hölle entkommen konnten. Hier räumt Lukas Hartmann mit der Großzügigkeit der Schweiz als neutrales Land während des Zweiten Weltkrieges auf, und der Antisemitismus ist hier weit verbreitet. Schmidt wird die dringend nötige medizinische Versorgung für die Behandlung seiner Herzkrankheit nach einer Kehlkopfentzündung im Hospital verweigert, und der Sänger stirbt schließlich an Herzversagen.
Seine Stimme, die einst Konzertsäle füllte und die Damenwelt betörte, konnte er da schon nicht mehr benutzen.

Lukas Hartmann erzählt dien letzten Abschnitt aus Schmidts Leben mit vielen Rückblicken ganz nahe an der Hauptfigur. Seine traurige Geschichte steht hier stellvertretend für das Schicksal vieler Juden, die nach der Grenzschließung im August 1942 keine Möglichkeit hatten, in die Schweiz auf legalem Weg zu fliehen, ihre Identität aufgeben mussten und als illegale Flüchtlinge interniert wurden. Gesundheitlich und psychisch zerrüttet, alles andere als ein Kämpfer, passiv und ergeben in sein Schicksal, verliert Schmidt alles, was ihn ausmacht, seine Stimme, seine Lebensgewissheiten und zuletzt seinen Status als Mensch.

Obwohl Lukas Hartmann sich sehr um emotionalen Zugang für seine Leser bemüht bleibt mit der Sänger Joseph Schmidt fern, trotz der bewegenden Bilder, die der Autor zeichnet. Vielleicht liegt es daran, dass der Autor versucht, seine Emotionalität besonders zu betonen, möchte den Leser Mitleid heischend unbedingt ganz nahe am traurigen Schicksal und am körperlichen und seelischen Verfall teilhaben lassen. Dabei schießt er in meinen Augen etwas über das Ziel hinaus, breitgetretene rührselige Situationen, insbesondere im letzten Teil des Romans, sind mir zu viel.

Lukas Hartmann benutzt als äußerst wirkungsvolles Stilmittel für die behördliche Kälte eingeschobene Passagen eines ranghohen Mitarbeiters der Eidgenössischen Fremdenpolizei, die das Erzählte unterstreichen und deutlich machen, wie wenig ein Menschenleben in der damaligen Zeit wert gewesen ist, wie unwichtig Menschlichkeit und Wärme im Umgang mit Flüchtlingen waren. Erschütternd, dass die Behörde und die Zeit austauschbar sind, wodurch diese Passagen auch aus dem Jahr 2019 stammen könnten, aus irgendeinem reichen Land mit Flüchtlingen.

Joseph Schmidt als Figur ist für mich schlecht greifbar. Er liebt seine Mutter, ist seiner Familie zugetan, andererseits fokussiert er seine Sängerkarriere und lebt ein Leben vollkommen losgelöst von seiner Familie. Die Mutter kommt zu einigen Konzerten - das macht ihn glücklich, aber er besucht sie nicht und schickt den Geschwistern Geld, dass sie sich kümmern. 
Mag sein, dass die Musik sein Leben war, aber für mich wird das im Roman in keiner Weise deutlichen, in den Erinnerungen nicht und auch in der gegenwärtigen Situation nicht. Für mich stolpert Schmidt durchs Leben, in seiner guten Zeit geführt von seinem Agenten und den Frauen, die er liebte, während der Flucht hilflos und unterwürfig, und in beiden Fällen äußerst realitätsfern.
Ich weiß nicht, ob genau das gewollt ist, ob er einfach so gewesen ist und ob das in der Situation als Flüchtling normal gewesen ist. 

Ich habe die Geschichte selbst mit Spannung verfolgt, habe die vielen Informationen aufgesogen, aber berühren konnte mich das Buch nicht wirklich.



Lukas Hartmann
Der Sänger
Roman gebunden, 288 Seiten
Erschienen bei Diogenes
24.April 2019
ISBN 978-3257070521

Preis 22€


2. Juli 2019

Identitätssuche





Dicht, fesselnd und authentisch schreibt die französische Autorin Alice Zeniter in ihrem Roman „Die Kunst zu verlieren“ über das Schicksal der Harkis, also über algerischen Soldaten, die während des Unabhängigkeitskampfes auf Seiten der französischen Kolonialmacht standen. Die Autorin schickt in ihrem autobiografisch gefärbten Roman die Erzählerin, eine Französin mit algerischen Wurzeln, auf Spurensuche nach ihren familiären Wurzeln. Mitreißend und spannend, zeitgeschichtlich äußerst interessant und ganz nahe an den Personen ist das Buch, sehr lesenswert.

Naïma, die Erzählerin, wurde lange nach der Unabhängigkeit Algeriens in der Normandie geboren. 
Sie hat keinen Bezug zu ihren Wurzeln, sie lebt in Paris als Mitarbeiterin einer Galerie, ist Atheistin, war nie in Algerien und hat keine Verbindung zu dem Land, aus dem ihre Familie stammt. In ihrer Familie herrscht Schweigen über das Schicksal als Flüchtlinge, und es ist ihr unklar, ob ihr Großvater tatsächlich ein Harki war.

Auf Spurensuche nach ihren Familienwurzeln spannt sie den Bogen über drei Generationen. Beginnend mit Ihrem Großvater Ali, der in den 1940er Jahren auf Seiten der Alliierten im Zweiten Weltkrieg half, Europa zurückzuerobern, während der blutigen Algerischen Unabhängigkeitskriege verfolgt und nach Frankreich fliehen musste über ihren Vater Hamid, der in Algerien geboren ab 1962 zunächst in französischen Flüchtlingslagern und später im Banlieue aufwächst und es schließlich schafft, aus dem Flüchtlingsmilieu auszubrechen, bis hin zu ihrem eigenen Leben, weit weg von Algerien fühlt sie sich als Französin, wird aber seit den Anschlägen 2015 immer mehr als Araberin wahrgenommen.

Naïma reist schließlich im Auftrag der Galerie nach Algerien, und besucht dabei auch das Haus ihrer Familie in den Bergen. Trotz der Angst vor Attentaten fühlt sie sich zu Hause und aufgehoben, wenn sie auch nur eine Nacht bleiben kann.

Das Buch, das ein blutiges und gerne totgeschwiegenes Kapitel Französischer Kolonialgeschichte erzählt, ist nicht nur reich bebilderte und mitreißende Familiengeschichte über aus den Olivenhainen in den Bergen der Kabylei vertriebenen und mit knapper Not entkommenen Familie, bei den den Franzosen nur eine Statistenrolle zukommt. Die ehemaligen Kolonialherren und die verschiedenen Gruppierungen der Aufständigen sind hinsichtlich Blutrünstigkeit austauschbar, bis die Französische Regierung schließlich 1962 die Algerische Unabhängigkeit anerkennt. Vergessen sind die auf Seiten der ehemaligen Kolonialmacht kämpfenden Algerier, die als Harkis fliehen mussten, weil sie wie Naïmas Großvater ihrer alten Uniform aus dem Weltkrieg treu blieben. Ungewollt und abgestellt in Flüchtlingslagern irgendwo in Frankreich wird ihnen auch nach der Unabhängigkeit die Rückreise in ihr Land verwehrt, ihr Besitz bleibt enteignet und die Furcht um das Leben ist berechtigt.

Völlig zu Recht wurde der Roman für den renommierten Französischen Literaturpreis „Prix Concourt“ nominiert. Und auch wenn an manchen Stellen ein ganz klein wenig Kitsch durchzuschimmern droht ist das Buch eine eindrucksvoll persönlich erzählte Zeitgeschichte und Abrechnung mit dem Kolonialkrieg aus algerischer Sicht und der dabei auf der Strecke gebliebenen Harkis, sehr aktuell nicht zuletzt im Hinblick auf die Flüchtlingsproblematik und dem Herumschieben von Menschen.

Alice Zeniter
Die Kunst zu verlieren
Aus dem Französischen von Hainer Kober
Roman, gebunden, 560 Seiten
Erschienen im Berlin Verlag
1. Februar 2019
ISBN 978-3827013736

Preis 25 €

Abgründig





Eine Protagonistin, ganz weit weg von meinem Lebensweg und mir völlig fremd, die mich dennoch nicht loslässt und fesselt, mich verärgert und frustriert und mein Mitleid erregt. Das schafft die preisgekrönte Autorin Leïla Slimani in ihrem Roman „All das zu verlieren“.

Adèle ist eine gelangweilte und getriebene Frau, sexsüchtig und haltlos auf der Suche nach dem ultimativen sexuellen Kick, um die Gleichgültigkeit und die Leere in ihr für einen Moment vergessen zu können.

„Sie will nur ein Objekt inmitten einer Meute sein. Gefressen, ausgesaugt, mit Haut und Haaren verschlungen werden.“

Wohl gebettet in eine geordnete bürgerliche Existenz ist Adèle eine rastlose, getriebene und letztlich gelangweilte und unglückliche Ehefrau eines Mediziners, die nicht nur ihre Ehe sondern auch ihr eigenes Berufsleben aufs Spiel setzt, um Befriedigung darin zu finden, genommen und begehrt zu werden. Sie will nicht geben, und wenn ihr kleiner Sohn quengelt, ist sie vordergründig genervt. Und obwohl sie sich in immer riskantere Abenteuer mit Fremden stürzt und sich allen Rettungsversuchen entzieht, möchte sie doch den Schutz der bürgerlichen Fassade nicht missen. 

„Sie wollte, dass sie sich nach ihr verzehren, dass sie bereit waren alles aufzugeben, für sie, die nie etwas aufgegeben hat.“

Unsympathisch und abschreckend wirkt Adèle auf mich, sie sieht nur die Gitterstäbe ihres goldenen Käfigs, wo Sicherheit und Glück sein könnten und wünscht sich Geld, das nicht nach Schweiß und Arbeit stinkt. Alles ist ihr egal, so mein Gefühl anfangs beim Lesen, sie lebt in der Schutzblase, die ihr Mann durch seine Arbeit um sie herum schafft, und setzt dennoch alle Regeln des Zusammenlebens außer Kraft, bis sie die Kontrolle verliert.
Ein Umzug von Paris aufs Land schafft einen bürgerlichen Scheinfrieden, dem Adèle aber wieder entflieht.

„Manchmal wirkt sie wie ein verstörter Vogel, der mit seinem Schnabel gegen die Scheiben stößt, seine Flügel an den Türklinken bricht.“

Völlig nebenbei, lapidar und zugleich grausam werden Adèles Süchte beschrieben, ohne nach der Ursache zu suchen oder diese zu benennen, ohne Auflösung und vor allem völlig ohne die einer Madame Bouvary anhaftenden Romantik. Eine modernes, hässlich verzerrtes Spiegelbild von Madame Bouvary hat die Autorin geschaffen, irgendwie in die heutige Zeit passend, zwanghaft getrieben statt frei und abartig grauenvoll statt angenehm verrucht und romantisch, Obsession statt der Liebe folgend.

Selbstverlust und Aufgabe der Kontrolle durch Sex sind hier von der Autorin Leïla Slimani eindringlich und wortgewaltig in Szene gesetzt. Zwei Jahre vor ihrem preisgekrönten Roman „Dann schlaf auch du“ ist dieser hier erstmals auf Deutsch vorliegende Debütroman der in Paris lebenden Autorin entstanden. Man spürt beim Lesen das Seziermesser, das sie schonungslos ansetzt, um gesellschaftliche Abgründe eindrucksvoll darzustellen, nachhaltig, ohne Schönmalerei, ohne Rückzugsmöglichkeit für ihre Figuren und für den Leser. Das Buch ist weit weg von Schönheit und Romantik, und obwohl ich an vielen Stellen angewidert von Adèles Verhalten war bin ich dennoch ganz nah bei ihr und empfinde am Ende Mitleid und fast so etwas wie Verständnis für ihre Situation, für die es letztlich keinen Ausweg gibt.
Großartig und äußerst lesenswert, aber so gar nichts für romantische Seelen möchte ich dieses Buch sehr empfehlen, das trotz der Thematik niemals pornografisch oder abgedroschen wirkt. Bravo dafür!


Leïla Slimani
„All das zu verlieren“
Übersetzt von Amelie Thoma
Roman gebunden, 224 Seiten
Erschienen bei Luchterhand Literaturverlag
13. Mai 2019
ISBN 978-3630875538
Preis 22€