2. Juli 2019

Abgründig





Eine Protagonistin, ganz weit weg von meinem Lebensweg und mir völlig fremd, die mich dennoch nicht loslässt und fesselt, mich verärgert und frustriert und mein Mitleid erregt. Das schafft die preisgekrönte Autorin Leïla Slimani in ihrem Roman „All das zu verlieren“.

Adèle ist eine gelangweilte und getriebene Frau, sexsüchtig und haltlos auf der Suche nach dem ultimativen sexuellen Kick, um die Gleichgültigkeit und die Leere in ihr für einen Moment vergessen zu können.

„Sie will nur ein Objekt inmitten einer Meute sein. Gefressen, ausgesaugt, mit Haut und Haaren verschlungen werden.“

Wohl gebettet in eine geordnete bürgerliche Existenz ist Adèle eine rastlose, getriebene und letztlich gelangweilte und unglückliche Ehefrau eines Mediziners, die nicht nur ihre Ehe sondern auch ihr eigenes Berufsleben aufs Spiel setzt, um Befriedigung darin zu finden, genommen und begehrt zu werden. Sie will nicht geben, und wenn ihr kleiner Sohn quengelt, ist sie vordergründig genervt. Und obwohl sie sich in immer riskantere Abenteuer mit Fremden stürzt und sich allen Rettungsversuchen entzieht, möchte sie doch den Schutz der bürgerlichen Fassade nicht missen. 

„Sie wollte, dass sie sich nach ihr verzehren, dass sie bereit waren alles aufzugeben, für sie, die nie etwas aufgegeben hat.“

Unsympathisch und abschreckend wirkt Adèle auf mich, sie sieht nur die Gitterstäbe ihres goldenen Käfigs, wo Sicherheit und Glück sein könnten und wünscht sich Geld, das nicht nach Schweiß und Arbeit stinkt. Alles ist ihr egal, so mein Gefühl anfangs beim Lesen, sie lebt in der Schutzblase, die ihr Mann durch seine Arbeit um sie herum schafft, und setzt dennoch alle Regeln des Zusammenlebens außer Kraft, bis sie die Kontrolle verliert.
Ein Umzug von Paris aufs Land schafft einen bürgerlichen Scheinfrieden, dem Adèle aber wieder entflieht.

„Manchmal wirkt sie wie ein verstörter Vogel, der mit seinem Schnabel gegen die Scheiben stößt, seine Flügel an den Türklinken bricht.“

Völlig nebenbei, lapidar und zugleich grausam werden Adèles Süchte beschrieben, ohne nach der Ursache zu suchen oder diese zu benennen, ohne Auflösung und vor allem völlig ohne die einer Madame Bouvary anhaftenden Romantik. Eine modernes, hässlich verzerrtes Spiegelbild von Madame Bouvary hat die Autorin geschaffen, irgendwie in die heutige Zeit passend, zwanghaft getrieben statt frei und abartig grauenvoll statt angenehm verrucht und romantisch, Obsession statt der Liebe folgend.

Selbstverlust und Aufgabe der Kontrolle durch Sex sind hier von der Autorin Leïla Slimani eindringlich und wortgewaltig in Szene gesetzt. Zwei Jahre vor ihrem preisgekrönten Roman „Dann schlaf auch du“ ist dieser hier erstmals auf Deutsch vorliegende Debütroman der in Paris lebenden Autorin entstanden. Man spürt beim Lesen das Seziermesser, das sie schonungslos ansetzt, um gesellschaftliche Abgründe eindrucksvoll darzustellen, nachhaltig, ohne Schönmalerei, ohne Rückzugsmöglichkeit für ihre Figuren und für den Leser. Das Buch ist weit weg von Schönheit und Romantik, und obwohl ich an vielen Stellen angewidert von Adèles Verhalten war bin ich dennoch ganz nah bei ihr und empfinde am Ende Mitleid und fast so etwas wie Verständnis für ihre Situation, für die es letztlich keinen Ausweg gibt.
Großartig und äußerst lesenswert, aber so gar nichts für romantische Seelen möchte ich dieses Buch sehr empfehlen, das trotz der Thematik niemals pornografisch oder abgedroschen wirkt. Bravo dafür!


Leïla Slimani
„All das zu verlieren“
Übersetzt von Amelie Thoma
Roman gebunden, 224 Seiten
Erschienen bei Luchterhand Literaturverlag
13. Mai 2019
ISBN 978-3630875538
Preis 22€



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