14. Mai 2018

Gerichtsdrama mit Ökothrill





Ein großartiges Setting und ein wirklich interessanter Plot versprechen neben der Spannung ein Buch, das in Manier der Autorin ungewöhnlich und bohrend aktuelle Fragen auf literarisch-anspruchsvolle Art beleuchtet. Es ist ein spannendes Buch, eine Mischung aus Ökothriller und Gerichtsdrama. Allerdings sind für meinen Geschmack die Fäden, die durch Verknüpfung der gut recherchierten Fakten, der spannenden Geschichte und vor allem den Charakteren das Ganze zu einem Roman machen, etwas mürbe und reißen zu schnell.

Abschmelzende Polkappen, Geld-und Machtgier, Waffenhandel, Forschergeist, höchst exklusiver Lebensstil ohne Rücksicht auf Verluste, Manipulation und eine Leiche sind die Zutaten der Geschichte. 
Beim Kalben eines Gletschers wird der tote Körper des drei Jahre zuvor im arktischen Eis verschollenen Umweltaktivisten Thomas Harding freigegeben, entdeckt von einem Kreuzfahrtschiff auf der Suche nach Eisbären. Hardings Freund und Geschäftspartner Sean Cawson war mit ihm auf der Expedition unterwegs und gerät unter Verdacht. In einer gerichtlichen Anhörung, die die Rahmenhandlung des Buches in der Erzählgegenwart bildet, sollen die damaligen Ereignisse rekonstruiert werden und Klärung darüber erfolgen, ob Sean am Tod seines Partners Tom, mit dem er eine exklusive arktische Lounge eröffnet hatte und damit gleichzeitig die Arktis schützen wollte, Schuld trägt oder nicht.
Die Geschichte kreist um die Ereignisse in der Vergangenheit, die zur gemeinsamen Partnerschaft und zum Tod Toms geführt haben und entblößt die volle Bandbreite unternehmerischer Raffgier und Manipulation, die skrupellos profitgierig um die letzten unberührten Orte im arktischen Eis wetteifern, verfilzte und erst nach mehreren Blicken ersichtliche Strukturen zur Finanzierung durch Waffenhandel haben und dabei keinen Gedanken an die Zukunft aller verschwenden. Es ist aber auch eine Geschichte über hohe menschliche Ziele, Abenteuerlust und Freundschaft, die an der Wirklichkeit zerschellt sind. Wie verschieden waren die Vorstellungen der beiden Freunde und Partner bezüglich Umweltschutz und Unternehmertum tatsächlich? Zogen die beiden an einem Strang oder waren sie schon zu Gegenspielern geworden?

Prinzipiell ist die Geschichte thematisch höchst interessant, mit der faszinierenden Arktis als zu schützender Naturraum in einer durchaus vorstellbaren nahen Zukunft, in der preiswerte transkontinentale Handelsrouten über den geschmolzenen Nordpol wichtiger sind als ökologische Aspekte. Laline Paull weiß auch durch ihren schön dreidimensionalen Schreibstil den Leser bei der Stange zu halten. Aber vieles bleibt für mich nicht gut greifbar und ähnelt eher einem platten Bericht als einem guten Roman. Die Charaktere sind mir zu einfach gestrickt, und auch wenn man erst gegen Ende des Buches mit der „Wahrheit“ versorgt wird, folgen die Figuren vorhersehbar und stereotyp, fast klischeehaft ihrem Weg. 
Das stört mich übrigens am meisten an dem Buch, dass es einfach zu viele Schubladen gibt, die aufgezogen, eine Person entnommen und ein bisschen laufen gelassen wird, um sie anschließend wieder zuzuschieben, schön getrennt und beschriftet, ohne erkennbare Grauzonen. Ich vermisse die Nähe zu den Figuren, es kommt keinerlei Empathie auf. So bleibt es einfach nur ein Ökothriller mit ungewöhnlichem Setting, zwar spannend aber mehr leider nicht. 
Noch dazu erinnert die Thematik zusammen mit dem hochgelobten ersten Buch der Autorin doch sehr an Maja Lunde und ihre Führung durch bedrohte Gebiete. Musste wegen der Veröffentlichung des zweiten Bandes von Lundes Öko-Quadologie „Die Geschichte des Wassers“ dieses Buch auch schnell erscheinen und wirkt deshalb streckenweise seltsam unausgegoren, so als hätte Laline Paull den Rahmen gebaut und dann einfach aufgehört?


Ich muss ehrlich zugeben, dass ich nach den vielen guten Kritiken zu „Die Bienen“ mit einer Erwartungshaltung an das Buch herangegangen bin, die nicht erfüllt wurde. Es ist für mich eine solide 3,5 Sterne Geschichte mit einer großartigen Grundidee, die zwar über weite Strecken recht spannend umgesetzt wurde, aber insgesamt für meinen Geschmack zu leblos zusammengeschrieben ist, mehr eben leider nicht.



Laline Paull „Das Eis“
Roman, gebunden, 448 Seiten
Verlag: Tropen
31.März 2018
ISBN 978-3608503524
22,00 €

    6. April 2018

    Amerikanische Männlichkeit




    Schwierige Beziehungen zwischen den Generationen prägen den Roman von Nickolas Butler „Die Herzen der Männer“. Im Zentrum steht Nelson, als Kind ein freudloser Außenseiter ohne Selbstbewusstsein und für seinen Vater eine Enttäuschung. Traurig tröpfelt zu Beginn des Romanes Nelsons Leben aus den Seiten des Buches, die wenigen glückliche Momente seiner Kindheit verdankt er seiner Mutter. Nelson sehnt sich nach Zuwendung durch seinen Vater, doch dieser wendet sich immer mehr von ihm ab.
    Vor allem im Sommer-Pfadfindercamp wird für Nelson überdeutlich, dass sein Vater sich einen lauten, unerschrockenen Sohn wünscht, Nelson hingegen hat dort einiges zu erdulden und bleibt trotz oder gerade wegen seines strebsamen Eifers im Erlernen pfadfinderischer Überlebensfähigkeiten allein und wird als Außenseiter gemobbt. Nur der alte Campleiter Wilbur unterstützt ihn und richtet ihn auf. Umso erstaunlicher ist Nelsons Freundschaft mit Jonathan, dem beliebten, unerschrockenen und coolen älteren Jungen, die nach dem Sommercamp für ein ganzes Leben bestehen bleibt.
    Jonathans Sohn Trevor verbringt genau wie in der nächsten Generation dessen Sohn Thomas seine Sommer im Pfadfindercamp im rauhen Wisconsin. Verknüpft durch die Lagererfahrungen und das schwierige Verhältnis der Söhne zu ihren Vätern verbinden sich die Männergeschichten und der Kreis schließt sich nicht zuletzt dadurch, dass ihr Verhältnis zu ihren Müttern immer durch große Liebe geprägt ist.

    Wann ist ein Mann ein Mann?
    Nickolas Butler beleuchtet in seinem Buch die verschiedenen Formen der Männlichkeit. Am Beispiel der zentralen Figur Nelson wird sowohl der Wandel von Männlichkeit im Laufe der Zeit als auch die Erwartung der amerikanischen Gesellschaft an echte Männer besonders deutlich gemacht. Die Geschichte begleitet Nelson vom sensiblen, klugen, ausgegrenzten und geächteten Jungen, als Elitesoldat im Vietnamkrieg bis hin zum unerschrockenen alten Lagerkommandanten des Pfadfindercamps. Er, der als Kind Außenseiter und Streber war, nach Aufmerksamkeit seines Vaters gelechzt hat, stolpert als Held durch den Vietnamkrieg, flüchtet nach seiner Rückkehr vor der mütterlichen Fürsorge und wird schließlich Lagerkommandant und Nachfolger des von ihm als Kind so bewunderten alten Wilson im Pfadfindercamp. Er, der unmännliche kleine Außenseiter begibt sich auf das besonders negative brutal-männliche Kriegsterrain, aus dem er sich allerdings nach traumatischen Kriegserfahrungen wieder zurückzieht, keine militärische Karriere durchläuft, sondern sozusagen „back to the roots“ im Pfadfinderlager versucht, anderen kleinen Jungen der nächsten und übernächsten Generation klare Regeln und Strukturen auf althergebrachte männliche Art zu vermitteln.

    Butler zeigt, wie vernarbt äußerlich und innerlich ein Leben mit einer schlechten Vater-Sohn-Beziehung trotz vielen Unbills gelebt werden kann, wie wichtig Beziehungen im Leben eines Kindes und eines Heranwachsenden sind, dass oft nur Schutz und Hilfe im rechten Moment die Rettung bedeuten und dass es durchaus möglich ist, aus beengenden und brutalen Verhältnissen auszubrechen und seinen Weg zu gehen.

    Und ja, es ist auch ein Buch über Lagerfeuer-Romantik und einer daraus erwachsenden Männerfreundschaft, die das ganze Leben hält. Und obwohl man die amerikanischen Pfadfinder durchaus als militärisch angehauchte Organisation betrachten kann mit ihren Uniformen, Regeln und den Dingen, die den kleinen Jungen in den Camps beigebracht werden, steht das Pfadfindertum für mich hier nicht ausschließlich und vordergründig als Heldenschmiede für spätere Soldaten, sondern für althergebrachte Werte wie Freundschaft, Treue, Ehrlichkeit und Redlichkeit und Kameradschaft im positiven Sinn.

    Doch auch Frauen spielen in diesem so männlichen Kosmos eine Rolle, und nicht nur eine nebensächliche. Auffallend, dass viele Beziehungen der männlichen Figuren zu den Frauen der Geschichte zum einen von großer Zuneigung und inniger Liebe, zum anderen von Untreue geprägt ist. Und ebenso ungewöhnlich, dass eine Frau die Männerdomäne Pfadfinderlager erobern darf, Rachel, die Mutter von Thomas, begleitet ihren Sohn zum Sommercamp, so wie es sonst nur die Väter der Jungen tun. 
    Spricht das für einen Wandel im Bild der Männlichkeit? Vielleicht, denn der Focus des Autors ist neben der Beziehungen von Vätern/Müttern zu ihren Söhnen auch auf das Bild der Männer in der amerikanischen Gesellschaft und seinen Wandel gerichtet.


    Ich habe das Buch sehr gerne gelesen, es kommt ohne großes Pathos und ohne inhaltslose Allgemeinplätze zur Frage nach Männlichkeit aus, ist durch verschiedene Perspektiven und Zeitebenen spannend zu lesen und in meinen Augen sprachlich auf dem Niveau wirkliche anspruchsvoller Literatur. Ich empfehle es ausdrücklich mit fünf Sternen.




    Nickolas Butler „Die Herzen der Männer“
    Roman gebunden, 477 Seiten
    Verlag Klett-Cotta, Februar 2018
    ISBN 978-3-608983135
    22,00 €

      5. April 2018

      Familienbande





      „All die Jahre“ von Courtney J. Sullivan ist eine berührende irische Familiengeschichte mit zwei Schwestern, Nora und Theresa, im Mittelpunkt, die in den 1950er Jahren gemeinsam aus Irland nach Amerika auswandern.
      Das Buch beginnt mit dem Tod von Noras ältestem Sohn Patrick und endet mit seinem Begräbnis. Mit vielen Rückblicken und aus den unterschiedlichen Blickpunkten der beiden Schwestern sowie von Noras drei übrigen Kindern erfährt man deren Geschichte.
      Nora Flynn ist 21 Jahre alt, als sie mit ihrer jüngeren Schwester das rückständige Irland in Richtung Amerika verlässt, um dort ihren Verlobten zu heiraten. Sie sorgt für Theresa seit die Mutter vor Jahren starb, und versucht ihr auch in der Neuen Welt einen bestmöglichen Start zu ermöglichen. Aber Theresa wird schwanger, Nora trifft folgenschwere Entscheidungen für sie, was die beiden Schwestern entzweit und Theresa ins Kloster treibt. Erst durch Patricks Tod kommen die beiden wieder zusammen und setzen sich mit ihrem Leben auseinander.

      Mit unglaublicher Lust am Fabulieren, mäandernd und voller Sinn für gute Familiengeschichten erzählt Sullivan vom für mich unvorstellbar kargen Leben in Irland, von den irisch dominierten Straßenzügen in Großstädten der USA, vom Familienzusammenhalt und Ausbruchsversuchen und von damals herrschenden Konventionen. Für mich erstaunlich authentisch und glaubhaft nachvollziehbar begleite ich die Figuren durch das rückständige Irland mit arrangierten Ehen wegen Landzugewinn, mit aus heutiger deutscher Sicht unglaublicher Normalität und Akzeptanz von Alkoholismus und Bevormundung der Mädchen und Frauen durch die Familienbande. 
      Ebenso spannend und gespickt mit sehr vielen interessanten Details bewegt man sich durch die Enklaven der irischen Einwanderer in Amerika, die ganze Straßenzüge beherrschen, neu ankommende Familienmitglieder aufnehmen und versorgen und trotz des Willens nach Anpassung in der moderneren großstädtischen Welt an alten irischen Traditionen verbiestert und irischer als die Iren zu Hause festzuhalten.

      Es ist einfach eine wunderbare Art des Erzählens, die mich nicht zuletzt wegen der vielen interessanten Charaktere sehr schnell in ihren Bann gezogen hat und völlig gefangen hielt. Vorsichtig und allmählich öffnen sich Nora und Theresa des Leser, halten Überraschungen bereit, die für Spannung sorgen. Nebencharaktere sind nicht nur schmückendes Beiwerk und die verschiedenen Sichtweisen des Buches vermitteln einen nachhaltigen und glaubhaften Eindruck des Lebens der Familie. 
      Andeutungen und Schweigen, Geheimnisse und Rückzug, kurze Blicke hinter den Vorhang dienen bis zum Schluss der Spannung einer Geschichte, die viele Überraschungen parat hält. 
      Unlösbare Familienbande und der Versuch des Ausbechens, Bevormundung, Verzeihen und Verlust, Trauer, Glück und fast nicht tragbare Bürde stehen in diesem Buch so eng beieinander, sind so glaubhaft dreidimensional beschrieben, dass es manchmal beim Lesen schmerzt.

      Es ist einfach ein wunderbares, für mich rundum gelungenes Buch mit einer interessanten, bedrückenden und zugleich hoffnungsvollen Familiengeschichte, das ich ganz ausdrücklich zum Lesen empfehle.




      „All de Jahre“ J. Courtney Sullivan
      Roman gebunden, 464 Seiten
      Erschienen im Deutucke Verlag
      29.Januar 2018
      ISBN 978-3-552063662
      22,00 €

      4. April 2018

      Anrührende Umweltgeschichte





      „Du sagst, es ist unser Instinkt, für unsere Nachkommen zu sorgen. ... Aber eigentlich sorgen wir nur für uns selbst. Uns selbst und unsere Kinder. Höchstens noch für unsere Enkel. Diejenigen, die danach kommen, vergessen wir. Und gleichzeitig sind wir dazu in der Lage, Eingriffe vorzunehmen, die hunderte Generationen in der Zukunft beeinflussen, die alles zerstören, für alle, die nach uns kommen. Damit ist der Beschützerinstinkt doch wohl gescheitert.“

      Es ist ein äußerst wichtiges Thema, das Maja Lunde im zweiten Band ihres Klimaquartetts „Die Geschichte des Wassers“ abarbeitet. Nach ihrem großartigen Buch „Die Geschichte der Bienen“ versucht sie, an bewährtes anzuknüpfen und verbindet die Thematik Wasser mit sehr persönlichen Geschichten in verschiedenen Zeitebenen.

      Aus Norwegen im Jahr 2017 bricht die 70jährige Signe mit ihrem Segelboot „Blau“ auf in Richtung Frankreich, um dort ihrer Jugendliebe Magnus das in seiner Verantwortung abgebaute norwegische Gletschereis vor die Füße zu werfen. Sie ist von Kindheit an geprägt von der Wasserwelt Norwegens, den Fjorden und Gletschern, die sie jahrzehntelang als Umweltaktivistin und Journalistin zu schützen und zu verteidigen versuchte. 
      In Frankreich 2041 ist der junge Vater David mit seiner kleinen Tochter Lou auf der Flucht vor der Dürre und dem Feuer. Getrennt von seiner Frau Anna und seinem kleinen Sohn August gelangt er in ein Flüchtlingslager, das zunächst gut organisiert wie ein schützender Unterschlupf erscheint, trotz Rationierung von Wasser und Nahrung. Doch schnell ändern sich die Verhältnisse, die Dürre und die Feuer kommen näher und die Lagergemeinschaft zerbricht. David und Lou finden nahe dem Lager ein altes Segelboot, das sie zu ihrer geheimen und hoffnungsvollen Zuflucht machen.
      Neben den Zeitwechseln zwischen Gegenwart und Zukunft bestimmt außerdem die Vergangenheit von Signe die Geschichte, sie erinnert sich auf dem Segelboot an ihre Kindheit und an die Zeit, als sie als junge Frau stark, stur und geradlinig ihren Weg zum Schutz des Wassers ging, beeinflusst und getrieben von ihrem Vater und von ihrer ursprünglichen norwegischen Umwelt.

      „Das ganze Leben ist Wasser, das ganze Leben war Wasser, wohin ich auch sah, war Wasser. Es fiel als Regen von Himmel oder als Schnee, es füllte die kleinen Bergseen, legte sich als Eis auf den Gletscher, strömte in tausend kleinen Bächen den steilen Berghang hinab und schwoll an zu. Fluss Breio. Es lag spiegelglatt vor dem Ort am Fjord.“

      Ich muss zugeben, dass ich diesmal mit einer Erwartungshaltung gelesen habe, die ich mir sonst zu verkneifen versuche, denn mich hat das erste Buch der Autorin im vergangenen Jahr sehr beeindruckt und begeistert. Maja Lunde konnte das hohe Niveau leider nicht halten, zu kurz geraten sind für mich die faktischen Anteile zum Wasser und zu breit getreten die persönlich geprägten Geschehnisse, zu hoffnungsvoll ist mir die Geschichte, auch wenn es kein positives Ende gibt, und zu freundlich erzählt. Ich hatte fast das Gefühl, dass die Autorin vermitteln wolle, alles klärt sich irgendwie, und sei es auch nur vom kleinen privaten Glück bis zum nächsten, solange man die Hoffnung, die Menschlichkeit und das positive Denken nicht verliert, wird man zumindest vorübergehend gerettet. Mir fehlt hier der düster-melancholische Grundton, der mich beim ersten Roman durch die Geschehnisse trug.

      „Die Natur gehört uns nicht...Genauso, wie wir nicht ihr gehören. Das Wasser gehört uns nicht, niemandem gehört das Wasser. Und trotzdem machen wir einfach immer so weiter.“

      Trotz meiner Kritik ist es ein sehr gut geschriebenes Buch, das Signes Geschichte stellenweise atemlos erzählt und einen guten Eindruck der Machtlosigkeit persönlichen Handelns vermittelt, wenn die Mehrheit mit verbundenen oder fest zugedrückten Augen entscheidet. 
      Signe, die Kämpferin und Umweltaktivistin, ist allerdings ein Charakter, der letztlich aufgibt, und das nicht nur im Alter. Das ist enttäuschend zu lesen, aber eben auch realistisch und menschlich.
      David, zunächst von tiefer Niedergeschlagenheit und Dulden geprägt, stolpert anfangs fast durch die Geschehnisse. Er versucht, den Rest seiner kleinen Familie zu beschützen und setzt dabei Hoffnungen in augenscheinlich hoffnungslose Wege, die ihn gegen Ende des Romanes versöhnter mit seinem Schicksal erscheinen lassen. Auch das ist menschlich und vermittelt einen wirklichkeitsnahen Eindruck.
      Vielleicht ist es genau das, was Maja Lunde wichtig ist, neben dem Aufzeigen der Problematik und den Folgen unseres Handelns im Umgang mit Wasser? Dass Versöhnung und Annäherung ein guter Weg sein kann? Denn so wie sich Signe und Magnus trotz unversöhnlicher Standpunkte bezüglich Umweltproblematik annähern, so nähern sich in der Zukunft vormals getrennte soziale Gruppen, symbolisiert durch David und Marguerite.

      „...die Kinder heutzutage werden von der Generation vor ihnen gefördert, auch sie kennen keinen Widerstand, ihnen ist alles egal, solange sie nur ihr iPhone7 zum siebten Geburtstag bekommen.“

      Ich habe das Buch gerne gelesen, trotz meiner Kritik. Es ist thematisch wichtig und aktuell, sprachlich gut umgesetzt, die Autorin erzählt kritisch und mit gut recherchierten Background vom für uns lebenswichtigen Wasser, verpackt in eine spannende Geschichte , und erinnert dabei eindringlich daran, was Reglementierung von Wasser bedeuten kann und in manchen Ländern heute schon bedeutet.

      Und auch wenn ich es nicht als ein großes Werk anspruchsvoller Literatur sehe, gebe ich eine Leseempfehlung mit 3,5 Sternen.




      Maja Lunde „Die Geschichte des Wassers“
      Roman gebunden, 480 Seiten
      btb Verlag 19.März 2018
      ISBN 978-3-442757749
      20,00 €

      2. April 2018

      Bittersüße Liebe




      Zwei 16jährige Mädchen in einem tristen Leningrader Satellitenvorort, miteinander verknotet, verwoben und verschlungen von Geburt an, sind sich selbst genug und zugleich unzufrieden mit ihren Körpern. Die eine, Lena, mit Spitznamen wie Bandwurm oder Rechen tituliert, zu lang und schlaksig, mit Glubschaugen, und ihre Freundin Oksana, deren dicker Hintern Anlass zu großem Spott auf dem Schulhof ist, teilten schon immer alles und entdecken ihre Körper nachts auf ganz andere, heimliche und zarte Art, bis Lena für eine Model-Karierre in Shanghai gecastet wird und Oksana daraufhin im Diätwahn einer Online-Community versinkt. 

      Die Mädchen treiben auseinander, und das, was Anlass zur Unzufriedenheit bot, ist plötzlich sehr gefragt. Lena stellt ihren dürren Körper Agenten und schleimigen Fotografen zur Verfügung und muss Entscheidungen treffen, wie weit sie bereit ist, für den Erfolg zu gehen. Oksana und ihre weibliche Formen, die sie mit Rezepten aus der Zeit der Leningrader Blockade abzuflachen versucht, finden zurückhaltende Bewunderung.

      Beide vermissen einander schmerzlich, und auf der Suche nach Trost setzt sich Lena mit der Belagerung und der Hungersnot von Leningrad ab 1941 auseinander, zunächst auf der Suche nach irrwitzigen Diätrezepten aus Ledergürteln oder Büchern für das online-Forum, das möglichst authentische Belagerungsernährung praktiziert, und süchtig nach Likes und Kommentaren, wendet sie sich bald den erschütternden Fakten und Geschichten aus dieser Zeit zu. 

      Als Lena nach drei Monaten nach Hause kommt, stellt sich unter anderem die drängende Frage, ob die Liebe und Sehnsucht der Mädchen füreinander heimlich bleibt oder nicht.

      Authentisch, mit Vorsicht und Verstand, gleichzeitig mit viel Witz und einer ordentlichen Portion Zynismus zeichnet die junge Autorin Wlada Kolosowa ihre Figuren, lässt sie durchs Erwachsenwerden stolpern und bleibt dabei ganz nahe am Leben. Ernste Themen wie (Homo)Sexualität, Magersucht, Pornografie, Schönheitswahn und nicht zuletzt der vorgezeichnete triste und hoffnungslose russische Alltag einer Plattenbau-Stadt werden angesprochen, und das in einer leichtfüßigen, aber dennoch nicht oberflächlichen Sprache, jung und zugleich abgeklärt und voller Leben.

      Der Roman hatte mich nach kurzer Zeit gepackt, hat mich positiv überrascht, obwohl ich anfangs kaum Erwartungen an das Buch hatte. Es ist ein sehr lesenswertes und etwas bitteres Buch über zwei Mädchen, die lieber ängstlich vor ihrer Liebe flüchten und sich falschen Idealen unterwerfen als zueinander zu stehen, ein Buch von zarter und verkannter jugendlicher Liebe, dem die für meinen Geschmack etwas übertriebene historische Faktenreiterei zur Hungersnot in Leningrad nicht wirklich geschadet hat.

      Das Buch „Fliegende Hunde“ ist in meinen Augen ein anspruchsvoller Debütroman, für den ich gerne vier Sterne vergebe.



      Wlada Kolosowa „Fliegende Hunde“
      Roman, gebunden
      224 Seiten
      Ullstein Verlage 9.März 2018
      ISBN 978-3-961010066
      20,00 €

      Wirklich gute Unterhaltung




      „...aber gibt es überhaupt so etwas wie künstlerischen Triumph, eine ganze Geschichte, eine richtige Art, durch eine Glasscheibe zu schauen? Es kommt immer auf den Lichteinfall an.“

      Ein ungewöhnliches Kunstwerk, geschaffen in den 1930er Jahren kurz vor Ausbruch des Spanischen Bürgerkrieges in Andalusien, gelangt als sensationeller Fund an eine Kunstgalerie ins London der 1960er  Gemälde verbindet die Geschichten zweier junger Frauen aus verschiedenen Zeiten, die der 19jährigen Künstlerin Olive Schloss, die 1936 in der Nähe von Málaga lebte und arbeitete, und die von Odelle Bastien, einer jungen Kreolin aus Trinidad stammend, die in London 1967 ihren Traum vom Schreiben verwirklichen möchte. Das surrealistische Gemälde, das dem Andalusier Isaac Robles zugeordnet wird, verwickelt Odelle in eine geheimnisvolle Geschichte über Wahrheit und Täuschung, über Sein und Schein und über geheimnisvoll gesponnene Fäden, sie sie zu entwirren sucht.

      Auf spannende und höchst interessante Art wird man beim Lesen zum einen in die Andalusische Hitze Südspaniens im Jahr 1936 zu Olive Schloss geführt, mit den gehrenden Konflikten zwischen Republikanern und Faschisten, zwischen denen sich die Familie Schloss zunächst scheinbar sorglos auf einer dörflichen Finca nahe Málaga dem südlichen Flair ergibt. Zum anderen begleitet man Odelle auf ihrer Spurensuche in London 1967 zwischen ihrem Job in der Skelton Kunstgalerie mit ihrer Vorgesetzten, der exzentrisch anmutenden Majorie Quick, und ihrem Verehrer und Besitzer des ungewöhnlichen Gemäldes Lawrie Scott. 
      Sehr geschickt schafft es die Autorin, das Geheimnis um die beiden jungen Frauen häppchenweise preiszugeben, das Tuch oft nur für einen kurzen neugierigen Blick zu lüften und dem Rätsel langsam näher zukommen. Beide Frauen sehen sich Konflikten in künstlerischer Hinsicht und auch bezüglich leidenschaftlicher Liebe ausgesetzt, die ihr Leben auf den Kopf stellen. 

      Glaubhaft verknüpft Jessie Burton die Geschichte mit den historischen Gegebenheiten in Spanien, bei denen die Gefahr durch die Faschisten in der lange republikanisch beherrschten Gegend um Málaga immer greifbarer wird und wo sehr persönlich motivierte Greueltaten von Faschisten und extremen Anarchisten an der Tagesordnung waren. 
      Und in London 1967 bekommt man die Borniertheit und knöcherne verstaubte ignorante Überheblichkeit und Dummheit der ehemaligen Kolonialmacht gegenüber einer Einwanderin aus der Karibik zu spüren, die sich trotz ihrer hohen Universitären Bildung zunächst als Schuhverkäuferin und später als Sekretärin verdingen muss.

      Mir hat die Geschichte um das Gemälde und um die beiden Frauen Olive und Odelle gut gefallen, als Unterhaltungsliteratur, die greifbare und dreidimensionale Charaktere mit glaubhaft nachvollziehbaren Konflikten erzeugt, eine gute, ungewöhnliche und stellenweise überraschende Geschichte spannend erzählt.

      Und auch wenn mir nach der Auflösung ganz am Ende des Buches einiges etwas zu schön gezeichnet war und sich etwas zu gut fügte, glitt das Buch im Rahmen dessen, als was man es sehen sollte - nämlich einfach gute Unterhaltung - nie in Trivialitäten und Klischees ab, was mich zu einer Leseempfehlung und die Vergabe von vier Sternen veranlasst.



      Jessie Burton „Das Geheimnis der Muse“
      Roman, Klappbroschur
      461 Seiten
      Insel Verlag 12.März 2018
      ISBN 978-3-458363293
      14,95 €

      Liebe und Emanzipation




      Fast hätte ich im Trubel der vielen tollen neuen Bücher dieses Frühjahr vergessen, einen stillen Roman zu rezensieren, um dessen Autor Bernhard Schlink ich schon länger herumtanze, von dem ich aber bisher nichts gelesen hatte. Und er hat mich positiv überrascht mit einem kargen Liebesroman einer Frau, die unabhängig ihren Weg geht und damit weitestgehend Erfolg hat.


      Hier meine Besprechung zum Buch, das ich bereits Anfang Januar gelesen hatte.

      Vom späten 19.Jahrhundert bis in die 1970er Jahr entspinnt sich das Schicksal der Protagonistin Olga in Bernhard Schlinks neuestem Roman, der mit viel Wärme und einen umwerfenden Bezug zum Zeitgeschehen in den Bann zu ziehen vermag.

      Erzählt wird das Schicksal eines deutsch/polnischen Waisenmädchens, das in Pommern bei der kühlen Großmutter aufwächst und sich abseits aller Konventionen in den Sohn des ortsansässigen reichen deutschstämmigen Gutsherren verliebt. Olga geht unter Berücksichtigung der damaligen Zeit einen sehr emanzipierten und ungewöhnlichen Weg. Aus ärmlichen Verhältnissen stammend schafft sie es, ohne entsprechenden Schulbesuch der Schule für höhere Töchter den Zugang zum Lehrerinnenseminar zu erhalten und später als Lehrerin zu arbeiten.
      Schon seit ihrer Kindheit ist sie eine einsame Außenseiterin, die Verbindung zu ihresgleichen sucht. Jenseits der üblichen Verbandelungen zwischen Grundbesitzern und armen Pächtern trifft sie sich mit Herbert, dem Gutsbesitzersohn, auf Augenhöhe, und die beiden verlieben sich ineinander.
      Olga hat den unabdingbaren Wunsch und Willen zur Unabhängigkeit, während Herbert rastlosen Bewegungsdrang verspürt und als Kämpfer nach Eintritt ins Garderegiment in die Ferne zieht, zuerst nach Deutsch-Südwestafrika in den Kolonialkrieg Anfang des 20. Jahrhunderts im heutigen Namibia. Olga steht diesem Kampf wie auch dem späteren deutschen Größenwahn sehr skeptisch gegenüber.
      Sie erlebt den ersten und schließlich auch den zweiten Weltkrieg, wird vertrieben aus ihrer Heimat und findet neue Heimat. Stets handelt sie so, dass sie ihre Ideale erhält und ihnen treu bleibt, im Gegensatz zu den ihr am Herzen liegenden Männern.

      Eindringlich und behutsam beschreibt Bernhard Schlink dieses Frauenschicksal einer klugen, belesenen, menschlichen Person, die leise und scheinbar mühelos lebt, aber dennoch gehört wird und ihren Weg verfolgt. Fast ein bisschen distanziert ist der anfängliche Stil, als man das junge Liebespaar Olga und Herbert aus der Ferne betrachtet, nahe und berührend hingegen der letzte Teil, als Olga selbst durch Briefe zu Wort kommt.


      Ein sehr lesenswertes Buch ohne ganz große Überraschungen ist Olgas Lebensgeschichte, dennoch nicht zuletzt durch den geschichtlichen Hintergrund spannend und anregend, einfach empfehlenswert.



      Bernhard Schlink „Olga“
      Roman, gebunden 320 Seiten
      Diogenes Verlag 12.Januar 2018
      ISBN 978-3-257070156
      24,00 €