24. September 2020

Melancholie und Komik

 



Lapidar geschrieben, witzig und manchmal sogar klamaukhaft, dennoch voller Melancholie und Ernsthaftigkeit erzählt Jean-Paul Dubois die Geschichte von Paul Christian Frédéric Hansen in seinem preisgekröntem Roman „Jeder von uns bewohnt die Welt auf seine Weise“.


Der Erzähler Paul, Sohn eines dänischen Priesters und einer französischen Kinobetreiberin, sitzt im Gefängnis und berichtet von seinem bisherigem Leben und vom Leben jetzt im Gefängnis. Der Zellengenosse ist ein Hell‘s Angel, dessen Angst vor dem Haareschneiden ebenso wie sein allabendliches Klogang-Ritual Paul Hansen unfreiwillig miterleben muss. Der Roman setzt im Winter 2009 ein und spult rückblickend Pauls Leben seit seiner Kindheit in Toulouse ab. Als Sohn eines konservativen Vaters und einer links-anarchistischen Mutter wuchs Paul zwischen Kirchensonntagen mit dem Vater und anarchistischem Kino der Mutter auf. Die Ehe der Eltern zerbricht letztlich, als Pauls lebensfrohe Mutter einen pornografischen Film ins Programm nimmt, ohne Rücksicht auf die Diskreditierung des Priesteramts ihres Ehemannes. Mit dem Weggang des Vaters nach Kanada ändert sich auch Pauls Leben. Er folgt ihm in das Asbestverseuchte Thretford Mines, einer von Tagebaulöchern umgebenen Stadt in der Provinz Québec. 

In Kanada tritt Paul später seine Stelle als Wohnanlagenverwalter an und lernt seine große Liebe kennen, die er 11 Jahr später auf tragische Weise verliert. Sein Job als „Deux ex Machina“ wird ihm letztlich zum Verhängnis und führt zum Gefängnisaufenthalt.

Im Gefängnis erzählend, umgeben von seinen drei Toten, läßt Paul bei seinen Erinnerungen den Leser teilhaben an einem von Verlusten geprägtem Leben. Beginnend mit dem Tod der Großeltern 1958 bei einem Autounfall zieht sich das Unglück durchs Pauls Leben wie ein roter Faden. Gefolgt von der Trennung der Eltern 1975, nachdem der gesellschaftliche Wandel die Familie zersplitterte, und dem Absturz und dem Tod seines Vaters bis zum Tod seiner Frau, die seinem Leben Halt und Sinn gab, zeichnet der Autor ein tragisches Lebensbild, das ohne die Bodenständigkeit und die genaue liebevoll-verzeihende Betrachtung der Figuren mit all ihren Fehlern fast ein Zuviel an Melodramatik hätte. 


Dubois erzählt Pauls Geschichte ohne Eile, mit ständigem Wechsel zwischen Gefängnisalltag, der manchmal erstaunlich derb-humoristisch, manchmal sanft und voller Melancholie und Trauer getragen ist, und den Rückblenden mit Blick auf ein Leben, das trotz allen Schmerzes auch Aufbruchstimmung, Harmonie und Liebe beinhaltet. 

Im Hintergrund wird Pauls Geschichte untermalt von einem Gesellschaftsportrait verschiedener Epochen des vergangenen Jahrhunderts. Angetippt werden Umbrüche mit revolutionärer Grundstimmung Ende def 1960er Jahre, Rohstoffraubbau ohne ökologischen und humanistischen Blick bis in die 1980er Jahre und ein unmenschlicher und kalter Start ins neuen Jahrtausend.


Ich habe den mit dem Prix Concourt ausgezeichneten Roman sehr gerne gelesen. Sprachlich grandios und auf brillante Weise manchmal am kleinen „Zuviel“ vorbei geschlittert erzählt Jean-Paul Dubois eine Geschichte, in der sich Melancholie und Komik die Hand geben, nie rührselig und mit großer Liebe zu seinen Charakteren, deren große und kleine Fehler lebensecht zum Straucheln führen und die dennoch Größe haben dürfen.





Jean-Paul Dubois

Jeder von uns bewohnt die Welt auf seine Weise

Roman, gebunden 256 Seiten

Erschienen bei dtv 

am 24. Juli 2020

ISBN 978-3423282406

Preis 22 €

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