4. Juli 2019

Berühmter Flüchtling





Der Schweizer Autor Lukas Hartmann hat in seinem Roman „Der Sänger“ ein Buch über den Tenor Joseph Schmidt geschrieben, das hervorragend recherchiert ist und ebenso spannend wie unterhaltsam von Leben des weltberühmten talentierten Mannes erzählt. Eine Fülle von Informationen und höchst interessante Blicke und Sichtweisen auf Flüchtlinge mit dem Verlust an Menschlichkeit und Identität machen das Buch zu weit mehr als einem guten historisch-biografischem Roman.

Der lyrische Tenor Joseph Schmidt vermag Konzertsäle zu füllen, ist Liebling bei den Damen und weit über Deutschland hinaus bekannt. Seine Kleinwüchsigkeit verhindert eine Bühnenkarriere, daher sang er mit großem Erfolg Rundfunkopern. Als Sohn orthodoxer Juden in Czernowitz geboren verließ er Berlin 1933, gab nur noch vereinzelt Konzerte in Deutschland, bis er 1938 endgültig versuchte, als Flüchtling in Belgien und Frankreich durchzukommen. Der Roman setzt 1942 ein, als es Schmidt nach Südfrankreich verschlagen hatte und er von dort aus versucht, in die Schweiz zu gelangen. Nach mehrmaligen und vergeblichen Versuchen, offiziell in die Schweiz einzureisen, gelingt ihm schließlich im Oktober 1942 der illegale Grenzübertritt. Er wird wie viele andere Juden, die auf diese Art einreisten, im Lager Girenbad bei Zürich interniert unter verheerenden Zuständen. Nicht nur Kälte, harte Arbeit und Nahrungsmittelmangel machen den Häftlingen das Leben schwer, sondern auch die Verachtung des Personals gegenüber jüdischen Insassen.
Die Verantwortlichen Schweizer Behörden legen ein menschenverachtendes Vorgehen an den Tag, rauben den Menschen ihre Identität und behandeln sie wie nutzlose und überflüssige Gegenstände statt wie hilflose und verfolgte Menschen, die mit nichts als dem Leben aus der damaligen Deutschen Hölle entkommen konnten. Hier räumt Lukas Hartmann mit der Großzügigkeit der Schweiz als neutrales Land während des Zweiten Weltkrieges auf, und der Antisemitismus ist hier weit verbreitet. Schmidt wird die dringend nötige medizinische Versorgung für die Behandlung seiner Herzkrankheit nach einer Kehlkopfentzündung im Hospital verweigert, und der Sänger stirbt schließlich an Herzversagen.
Seine Stimme, die einst Konzertsäle füllte und die Damenwelt betörte, konnte er da schon nicht mehr benutzen.

Lukas Hartmann erzählt dien letzten Abschnitt aus Schmidts Leben mit vielen Rückblicken ganz nahe an der Hauptfigur. Seine traurige Geschichte steht hier stellvertretend für das Schicksal vieler Juden, die nach der Grenzschließung im August 1942 keine Möglichkeit hatten, in die Schweiz auf legalem Weg zu fliehen, ihre Identität aufgeben mussten und als illegale Flüchtlinge interniert wurden. Gesundheitlich und psychisch zerrüttet, alles andere als ein Kämpfer, passiv und ergeben in sein Schicksal, verliert Schmidt alles, was ihn ausmacht, seine Stimme, seine Lebensgewissheiten und zuletzt seinen Status als Mensch.

Obwohl Lukas Hartmann sich sehr um emotionalen Zugang für seine Leser bemüht bleibt mit der Sänger Joseph Schmidt fern, trotz der bewegenden Bilder, die der Autor zeichnet. Vielleicht liegt es daran, dass der Autor versucht, seine Emotionalität besonders zu betonen, möchte den Leser Mitleid heischend unbedingt ganz nahe am traurigen Schicksal und am körperlichen und seelischen Verfall teilhaben lassen. Dabei schießt er in meinen Augen etwas über das Ziel hinaus, breitgetretene rührselige Situationen, insbesondere im letzten Teil des Romans, sind mir zu viel.

Lukas Hartmann benutzt als äußerst wirkungsvolles Stilmittel für die behördliche Kälte eingeschobene Passagen eines ranghohen Mitarbeiters der Eidgenössischen Fremdenpolizei, die das Erzählte unterstreichen und deutlich machen, wie wenig ein Menschenleben in der damaligen Zeit wert gewesen ist, wie unwichtig Menschlichkeit und Wärme im Umgang mit Flüchtlingen waren. Erschütternd, dass die Behörde und die Zeit austauschbar sind, wodurch diese Passagen auch aus dem Jahr 2019 stammen könnten, aus irgendeinem reichen Land mit Flüchtlingen.

Joseph Schmidt als Figur ist für mich schlecht greifbar. Er liebt seine Mutter, ist seiner Familie zugetan, andererseits fokussiert er seine Sängerkarriere und lebt ein Leben vollkommen losgelöst von seiner Familie. Die Mutter kommt zu einigen Konzerten - das macht ihn glücklich, aber er besucht sie nicht und schickt den Geschwistern Geld, dass sie sich kümmern. 
Mag sein, dass die Musik sein Leben war, aber für mich wird das im Roman in keiner Weise deutlichen, in den Erinnerungen nicht und auch in der gegenwärtigen Situation nicht. Für mich stolpert Schmidt durchs Leben, in seiner guten Zeit geführt von seinem Agenten und den Frauen, die er liebte, während der Flucht hilflos und unterwürfig, und in beiden Fällen äußerst realitätsfern.
Ich weiß nicht, ob genau das gewollt ist, ob er einfach so gewesen ist und ob das in der Situation als Flüchtling normal gewesen ist. 

Ich habe die Geschichte selbst mit Spannung verfolgt, habe die vielen Informationen aufgesogen, aber berühren konnte mich das Buch nicht wirklich.



Lukas Hartmann
Der Sänger
Roman gebunden, 288 Seiten
Erschienen bei Diogenes
24.April 2019
ISBN 978-3257070521

Preis 22€


2. Juli 2019

Identitätssuche





Dicht, fesselnd und authentisch schreibt die französische Autorin Alice Zeniter in ihrem Roman „Die Kunst zu verlieren“ über das Schicksal der Harkis, also über algerischen Soldaten, die während des Unabhängigkeitskampfes auf Seiten der französischen Kolonialmacht standen. Die Autorin schickt in ihrem autobiografisch gefärbten Roman die Erzählerin, eine Französin mit algerischen Wurzeln, auf Spurensuche nach ihren familiären Wurzeln. Mitreißend und spannend, zeitgeschichtlich äußerst interessant und ganz nahe an den Personen ist das Buch, sehr lesenswert.

Naïma, die Erzählerin, wurde lange nach der Unabhängigkeit Algeriens in der Normandie geboren. 
Sie hat keinen Bezug zu ihren Wurzeln, sie lebt in Paris als Mitarbeiterin einer Galerie, ist Atheistin, war nie in Algerien und hat keine Verbindung zu dem Land, aus dem ihre Familie stammt. In ihrer Familie herrscht Schweigen über das Schicksal als Flüchtlinge, und es ist ihr unklar, ob ihr Großvater tatsächlich ein Harki war.

Auf Spurensuche nach ihren Familienwurzeln spannt sie den Bogen über drei Generationen. Beginnend mit Ihrem Großvater Ali, der in den 1940er Jahren auf Seiten der Alliierten im Zweiten Weltkrieg half, Europa zurückzuerobern, während der blutigen Algerischen Unabhängigkeitskriege verfolgt und nach Frankreich fliehen musste über ihren Vater Hamid, der in Algerien geboren ab 1962 zunächst in französischen Flüchtlingslagern und später im Banlieue aufwächst und es schließlich schafft, aus dem Flüchtlingsmilieu auszubrechen, bis hin zu ihrem eigenen Leben, weit weg von Algerien fühlt sie sich als Französin, wird aber seit den Anschlägen 2015 immer mehr als Araberin wahrgenommen.

Naïma reist schließlich im Auftrag der Galerie nach Algerien, und besucht dabei auch das Haus ihrer Familie in den Bergen. Trotz der Angst vor Attentaten fühlt sie sich zu Hause und aufgehoben, wenn sie auch nur eine Nacht bleiben kann.

Das Buch, das ein blutiges und gerne totgeschwiegenes Kapitel Französischer Kolonialgeschichte erzählt, ist nicht nur reich bebilderte und mitreißende Familiengeschichte über aus den Olivenhainen in den Bergen der Kabylei vertriebenen und mit knapper Not entkommenen Familie, bei den den Franzosen nur eine Statistenrolle zukommt. Die ehemaligen Kolonialherren und die verschiedenen Gruppierungen der Aufständigen sind hinsichtlich Blutrünstigkeit austauschbar, bis die Französische Regierung schließlich 1962 die Algerische Unabhängigkeit anerkennt. Vergessen sind die auf Seiten der ehemaligen Kolonialmacht kämpfenden Algerier, die als Harkis fliehen mussten, weil sie wie Naïmas Großvater ihrer alten Uniform aus dem Weltkrieg treu blieben. Ungewollt und abgestellt in Flüchtlingslagern irgendwo in Frankreich wird ihnen auch nach der Unabhängigkeit die Rückreise in ihr Land verwehrt, ihr Besitz bleibt enteignet und die Furcht um das Leben ist berechtigt.

Völlig zu Recht wurde der Roman für den renommierten Französischen Literaturpreis „Prix Concourt“ nominiert. Und auch wenn an manchen Stellen ein ganz klein wenig Kitsch durchzuschimmern droht ist das Buch eine eindrucksvoll persönlich erzählte Zeitgeschichte und Abrechnung mit dem Kolonialkrieg aus algerischer Sicht und der dabei auf der Strecke gebliebenen Harkis, sehr aktuell nicht zuletzt im Hinblick auf die Flüchtlingsproblematik und dem Herumschieben von Menschen.

Alice Zeniter
Die Kunst zu verlieren
Aus dem Französischen von Hainer Kober
Roman, gebunden, 560 Seiten
Erschienen im Berlin Verlag
1. Februar 2019
ISBN 978-3827013736

Preis 25 €

Abgründig





Eine Protagonistin, ganz weit weg von meinem Lebensweg und mir völlig fremd, die mich dennoch nicht loslässt und fesselt, mich verärgert und frustriert und mein Mitleid erregt. Das schafft die preisgekrönte Autorin Leïla Slimani in ihrem Roman „All das zu verlieren“.

Adèle ist eine gelangweilte und getriebene Frau, sexsüchtig und haltlos auf der Suche nach dem ultimativen sexuellen Kick, um die Gleichgültigkeit und die Leere in ihr für einen Moment vergessen zu können.

„Sie will nur ein Objekt inmitten einer Meute sein. Gefressen, ausgesaugt, mit Haut und Haaren verschlungen werden.“

Wohl gebettet in eine geordnete bürgerliche Existenz ist Adèle eine rastlose, getriebene und letztlich gelangweilte und unglückliche Ehefrau eines Mediziners, die nicht nur ihre Ehe sondern auch ihr eigenes Berufsleben aufs Spiel setzt, um Befriedigung darin zu finden, genommen und begehrt zu werden. Sie will nicht geben, und wenn ihr kleiner Sohn quengelt, ist sie vordergründig genervt. Und obwohl sie sich in immer riskantere Abenteuer mit Fremden stürzt und sich allen Rettungsversuchen entzieht, möchte sie doch den Schutz der bürgerlichen Fassade nicht missen. 

„Sie wollte, dass sie sich nach ihr verzehren, dass sie bereit waren alles aufzugeben, für sie, die nie etwas aufgegeben hat.“

Unsympathisch und abschreckend wirkt Adèle auf mich, sie sieht nur die Gitterstäbe ihres goldenen Käfigs, wo Sicherheit und Glück sein könnten und wünscht sich Geld, das nicht nach Schweiß und Arbeit stinkt. Alles ist ihr egal, so mein Gefühl anfangs beim Lesen, sie lebt in der Schutzblase, die ihr Mann durch seine Arbeit um sie herum schafft, und setzt dennoch alle Regeln des Zusammenlebens außer Kraft, bis sie die Kontrolle verliert.
Ein Umzug von Paris aufs Land schafft einen bürgerlichen Scheinfrieden, dem Adèle aber wieder entflieht.

„Manchmal wirkt sie wie ein verstörter Vogel, der mit seinem Schnabel gegen die Scheiben stößt, seine Flügel an den Türklinken bricht.“

Völlig nebenbei, lapidar und zugleich grausam werden Adèles Süchte beschrieben, ohne nach der Ursache zu suchen oder diese zu benennen, ohne Auflösung und vor allem völlig ohne die einer Madame Bouvary anhaftenden Romantik. Eine modernes, hässlich verzerrtes Spiegelbild von Madame Bouvary hat die Autorin geschaffen, irgendwie in die heutige Zeit passend, zwanghaft getrieben statt frei und abartig grauenvoll statt angenehm verrucht und romantisch, Obsession statt der Liebe folgend.

Selbstverlust und Aufgabe der Kontrolle durch Sex sind hier von der Autorin Leïla Slimani eindringlich und wortgewaltig in Szene gesetzt. Zwei Jahre vor ihrem preisgekrönten Roman „Dann schlaf auch du“ ist dieser hier erstmals auf Deutsch vorliegende Debütroman der in Paris lebenden Autorin entstanden. Man spürt beim Lesen das Seziermesser, das sie schonungslos ansetzt, um gesellschaftliche Abgründe eindrucksvoll darzustellen, nachhaltig, ohne Schönmalerei, ohne Rückzugsmöglichkeit für ihre Figuren und für den Leser. Das Buch ist weit weg von Schönheit und Romantik, und obwohl ich an vielen Stellen angewidert von Adèles Verhalten war bin ich dennoch ganz nah bei ihr und empfinde am Ende Mitleid und fast so etwas wie Verständnis für ihre Situation, für die es letztlich keinen Ausweg gibt.
Großartig und äußerst lesenswert, aber so gar nichts für romantische Seelen möchte ich dieses Buch sehr empfehlen, das trotz der Thematik niemals pornografisch oder abgedroschen wirkt. Bravo dafür!


Leïla Slimani
„All das zu verlieren“
Übersetzt von Amelie Thoma
Roman gebunden, 224 Seiten
Erschienen bei Luchterhand Literaturverlag
13. Mai 2019
ISBN 978-3630875538
Preis 22€