Wahrheit oder Fantasie? Der Autor José Eduardo Agualusa vermischt in seinem Roman „Eine allgemeine Theorie des Vergessens“ fantastische Elemente mit einer auf historischen Fakten basierenden Geschichte und schreibt ein wundervolles Buch ganz in der Tradition des magischen Realismus. Überwältigend erzählt der 1960 in Angola geborene Autor über die bizarren Verwicklungen des Bürgerkrieges und über den Blick von oben auf das Geschehen verbunden mit einem außergewöhnlichen Kampf ums Überleben.
"Man kann Fehler nicht wiedergutmachen. Vielleicht muss man sie einfach vergessen. Wir sollten das Vergessen üben."
Die aus Portugal stammende Ludovica lebt mit ihrer Schwester und ihrem Schwager im „Haus der Beneideten“, einem Appartement-Hochhaus in der Angolanischen Hauptstadt Luanda, bewohnt von Portugiesen. Mit der Nelkenrevolution 1974 ändert sich alles, die alte Kolonialmacht Portugal zieht sich aus Angola zurück und das Haus der Beneideten leert sich, und im November 1975 wird das Land unabhängig. Einen Tag vor dieser Revolution erschießt Ludovica einen Einbrecher in Notwehr und mauert sich allein in ihrer Wohnung ein, nachdem ihre Schwester und ihr Schwager kurz zuvor verschwunden waren. Seine Überreste begräbt sie auf der Dachterrasse ihrer Wohnung, die für die nächsten dreißig Jahre ihr freiwilliges Gefängnis ist. Sie schaut von oben dem Revolutionsgeschehen und dem Bürgerkrieg zu, ernährt sich von selbst angebautem Gemüse und Tauben, sammelt Regenwasser als Trinkwasser und verbrennt nach und nach alle Möbel und Parkettböden zum Kochen und Heizen.
„Es erscheint mir leichter, an Gott zu glauben, selbst wenn dies unsere begrenzte Wahrnehmungsfähigkeit übersteigt, als an die überhebliche Menschheit.“
Ludovicas Außenkontakt ist der Blick aus dem Fenster und das Radio, in der Wohnung schreibt sie in Tagebücher, und als ihr das Papier ausgeht, auf die Wände der weitläufigen Räume. Die aus ihren sozialen Zusammenhängen gefallene Ludovica hat ihren Hund Fantasma und den Affen Che Guevara als Begleiter.
Wasser und Strom kommen nach einer gewissen Zeit unregelmäßig, fallen aber schließlich endgültig aus. Ludovica vermisst lediglich das Radio.
Ludovica war nicht freiwillig nach Angola gekommen. Ihre Schwester Odete nahm sie mit, nachdem sie den Ingenieur Orlando, der in den Diamantminen von Angola beschäftigt und angolanisch-portugiesischer Abstammung ist, geheiratet hatte. Ludovica hatte schon in ihrer Heimat Portugal wenig Kontakt zur Außenwelt und war bei ihrer Schwester untergeschlüpft.
„Der Himmel Afrikas ist viel größer als unserer, erklärte sie ihrer Schwester: erdrückend.“
Das oberste Stockwerk des Apartement-Hauses befindet sich direkt unter dem gewaltigen Himmel Angolas. Wundervolle Bilder findet der Autor dafür, die vom Übersetzer weitergetragen werden. Der große und weite Himmel macht Ludovica jedoch oft Angst und zwingt sie in die Wohnung.
"Wenn wir im Schlaf davon träumen, zu schlafen, können wir dann, wenn wir wach sind, aufwachen in einer helleren Wirklichkeit?"
Anfangs hat man den Eindruck, dass Ludovica ihre Einsamkeit genießt, stoisch und regungslos die Veränderungen, bedingt durch die Revolution, von oben beobachtet und wertungsfrei in ihrer Wohnung den Kampf um das körperliche Überleben kämpft. Später macht sich die Einsamkeit bemerkbar, Ludovica ringt um ihren Verstand, sie fühlt sich wie Spinne und Fliege gleichzeitig. Sie teilt im Schlaf ihre Träume, und wenn Sie aufwacht, ist sie allein.
"Ins Paradies kommen Leute, die von anderen vermisst werden. Das Paradies ist unser Platz im Herzen der anderen."
Das Buch hangelt sich an Ludovicos Eingesperrtsein entlang, ist jedoch keinesfalls ausschließlich ihre Geschichte. Das Hochhaus, in dessen oberstem Stockwerk Ludovico dreißig Jahre lebt, ist vielmehr eine Schnittstelle vieler Einzelschicksale und Geschichten, die sich um den Bürgerkrieg nach der Unabhängigkeit Angolas drehen. Verfolgte und Verfolger gegen sich die Klinken in die Hand genauso wie gewöhnliche Verbrecher, Menschenrechtler und Landflüchtlinge, die in die Stadt kommen, um ihr Glück zu machen. Aus auf den ersten Blick ohne Zusammenhang erzählten Episoden und Geschichten kristallisiert sich im Verlauf des Buches ein fein gewobenes Netz heraus, das alle losen Enden auf großartige Weise verknüpft. Nichts bleibt offen, und man ist als Leser erstaunt und ehrfürchtig wegen dieser großartigen Erzählkunst. Insofern hat das Buch in keiner Weise meine Erwartungen erfüllt und ich bin sehr glücklich damit, denn ich hatte vordergründig Ludovicas Geschichte erwartet, und nicht diese bewegend, kunstvoll und teilweise sehr verrückt verwobenen Einzelgeschichten.
"Stühle machen ein Gespräch nicht besser, nicht einmal, wenn sie bequem sind."
Am Ende der Geschichte stehen alle Beteiligten erneut vor der Mauer zu Ludovicas Wohnung, detektivisch löst sich auch der letzte noch bestehende Knoten, unerwartet und gleichzeitig wunderbar, fantastisch und mit großer Freude am Fabulieren. Der Autor hat mit seinem Roman, der vor klugen Sätzen genauso strotzt wie vor Wortwitz, ein Stück Literatur geschaffen, das die Lust am Erzählen selbst feiert, bei dem Tragik mit einem lachenden Auge und Komik mit einer Träne im Knopfloch betrachtet wird, und das mit einer fast unvergleichlichen Leichtigkeit.
Und auch wenn sich bei ganz genauem Hinsehen an einigen Stellen zeigt, dass die Übersetzung besser sein könnte, handelt es sich bei diesem Roman um ein sehr lesenswertes Buch, das man in diesem Jahr nicht verpassen sollte und für das ich eine volle Leseempfehlung geben möchte. Ich jedenfalls bin glücklich, dass ich es gelesen habe und dass es genauso ist wie es ist.
Der Roman „Eine allgemeine Theorie des Vergessens“ stand 2016 auf der Shortlist des International Man Booker Prize und erhielt 2017 den International Dublin Literary Award, völlig zu recht, wie ich finde.
José Eduardo Agualusa: Eine allgemeine Theorie des Vergessens. Roman. Aus dem Portugiesischen von Michael Kegler. C.H. Beck, München 2017. 189 S., 19,95€
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