6. November 2016

Rezension zu "Golden Boy" von Aravind Adiga


Ein Blick hinter die Kulissen

Der Indische Journalist und Autor Aravind Adiga, der mit seinem Roman "Der weiße Tiger" den renommierten Man Booker Price 2008 gewann, hat in seinem neuesten Buch den Nationalsport Indiens - Cricket - thematisiert. 
Er verknüpft die Heilige Kuh Indiens mit dem gesellschaftskritischen Bild der Gegenwart dieses Landes, das keinesfalls zum schillernden Bollywood passen will. 

Mit satirischer, fast schelmenhafter Erzählart bowlt der Kosmopolit Adiga in schneller Abfolge literarische Bälle auf den Leser, die mich getroffen und betroffen gemacht haben, lachen ließen und mir großes Vergnügen bereitet haben. 

Der Zugang zum Roman ist nicht leicht. 
Als Kontinentaleuropäer hatte ich vor der Lektüre keine Ahnung von Cricket. Und auch in Bezug auf die Gesellschaft im heutigen Indien, insbesondere über den Rummel um den Nationalsport - über die Talentscouts, Wettbetrüger, windigen Geschäftemacher, ehrgeizigen Familien, die ihren Jungen durch Cricket gesellschaftlichen Aufstieg verschaffen wollen, Cricket-Gottheiten und Cricket-Clubs und deren Gepflogenheiten, bin ich nicht gut informiert. 

Doch die Mühe beim Einstieg hat sich sehr gelohnt und ich konnte einen grandiosen Entwicklungsroman über die Jugend der beiden Brüder Manju und Radha verfolgen. 

Indien, so der Autor im Anhang, kennt eigentlich nur zwei Religionen: Kino und Cricket. 
Nach der Lektüre bin ich geneigt, das zu glauben. 
Es gibt geheime Verträge mit Göttern, Hindu-Gottheiten und deren Tempel, in denen für den Erfolg im Cricket gebetet und geopfert wird, fast an Gebete erinnernde Rituale zu Beginn des Auftritts eines Schlagmannes auf der Pitch (der rechteckige innere Bereich eines Cricket-Spielfeldes), Gelübte für die Keuschheit zur Unterdrückung niederer Instinkte als Garant für den Aufstieg als Cricket-Star. 
Der Mythos lockt Jungen zum Aufstieg aus indischen Slums in ein besseres Leben, 
aus Schulmannschaften werden Spieler für die Indische Nationalmannschaft dieses einstigen Sportes der Oberschicht gewählt. 
Young Lions werden zu Cricketlegenden, Jungen aus der Provinz und aus armen Stadtteilen von Mumbai sind die hungrigsten und ehrgeizigsten, werden von Familie und Nachbarn gefördert, gefeiert und verehrt. 

Aravind Adiga erzählt die Geschichte zweier Brüder aus Dahisar, einem Slum in Mumbai, 
die von ihrem ehrgeizigen und verrücktem Vater Mohan Kumar ohne Einhaltung irgendwelcher Schamgrenzen zu Cricket-Schlagmännern herangezüchtet werden und auf dem Weg nach oben sind. 
Auf dem älteren Radha liegen alle Hoffnungen und Wünsche des Vaters und er wird bevorzugt gefördert, der jüngere und talentiertere Manju lernt und trainiert gemeinsam mit seinem Bruder widerspruchslos, eisern und diszipliniert, so dass er selbst mit gebrochenem Daumen auf der Pitch bleibt und Bälle weiterschlägt, als sei nichts gewesen. 
Manju stellt alle Bedürfnisse und Wünsche hintenan und verleugnet seine Persönlichkeit für den Erfolg, als dieser in Form eines windigen Förderers und Ivestors an die Tür klopft. 
Die Verhandlungen über die Finanzierung und Unterstützung von Radha und Manju zwischen Vater, Talentscout und Investor erinnern an einen Viehmarkt. 

Manju bekommt seine Cricket-Laufbahn, aber zu einem hohen Preis. Er gibt seinen Traum vom Studium der Naturwissenschaften auf genau wie er seine homosexuelle Neigung komplett unterdrückt, um Erfolg im Cricket haben zu können. 
Und der ältere Bruder Radha bleibt auf der Strecke, weil er es nicht schafft, die an ihn gestellten Erwartungen zu erfüllen, auf die schiefe Bahn gerät und nicht wieder zurück finden kann. 

Die beiden Brüder Manju und Radha sind sehr aufmerksam gezeichnete und komplexe Charaktere, die eindrücklich durch die Nebenfiguren unterstrichen werden. Die wichtigste dabei ist Manjus Freund Javed. Er ist fast ein ins Gegenteil gekehrtes Bild des jüngeren Bruders. Javed stammt aus reicher Familie, muss nichts beweisen, steht zu seiner Homosexualität und will auch Manju dazu bringen, sich seinen Neigungen und Wünschen zu stellen.
Er setzt Manju in einer Gesellschaft, in der Homosexualität unter Strafe steht, damit gehörig unter Druck, dem dieser nicht standhält und in den Schoß des Cricket zurück kehrt. 

"Ich kenne eigentlich niemanden, der Cricket schätzt. Ich meine, Lunchpause! Spiele, bei denen Lunchpausen üblich sind, sollte man nicht als Sport bezeichnen." 

Cricket ist zwar das Feld, auf dem der Roman angesiedelt ist, doch es geht um weit mehr als um den Sport. Cricket selbst ist der Schauplatz der Doppelmoral der indischen Gesellschaft, gibt Platz für den Zwist zwischen Tradition und Moderne, für soziale und gesellschaftliche Verbandelungen und Brüche. Aravind Adiga räumt mit Bezug auf das beliebte Spiel auf und hat den Daumen der Kritik tief in der Wunde, zum Beispiel auf Seite 116: 
"...Wissen sie, wir sitzen auf einer Zeitbombe: Weil Mädchen im Mutterleib getötet werden, fehlen unserer Bevölkerung ungefähr zehn Millionen Frauen....... Ich prophezeie ihnen, dass junge indische Männer zunehmend geistesgestört werden, weil sie keine Frauen zum Heiraten finden, und nicht einmal welche, mit denen sie sich paaren können. ...Nur eines kann uns vor diesem geballten bösartigen Hindu-Testosteron schützen: Cricket......". 

Das Buch strotzt von teils sehr zynischen oder schelmischen Lebensweisheiten, die nebenbei und lapidar dargeboten werden, wie auf Seite 54: 
"Rache ist der Kapitalismus der Armen: die Art und Weise, wie sie die ursprüngliche Wunde bewahren, unmittelbare Genugtuung aufschieben, die erste Beleidigung mit neuen Beleidigungen mästen, Bosheit investieren und reinvestieren und auf den perfekten Augenblick warten, um zurückzuschlagen." 

Ich empfehle das Buch allen, die keine Angst vor anspruchsvollen Romanen haben und für konzentriertes Lesen belohnt werden möchten. Auch für Nicht-Sportbegeisterte entpuppt sich das Buch als ein genialer Schmöker, der eine verrückt-tragische Familiengeschichte ohne klassisches happy end gespickt mit viel Kritik an der Indischen Gesellschaft erzählt, ich vergebe fünf Sterne.



Aravind Adiga
"Golden Boy"
Roman, gebunden, 335 Seiten
Aus dem englischen von Claudia Werner
Erschienen am 19.09.2016
ISBN 978-3-406-69803-3
21,95€

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