24. November 2019

Mystischer Old-School-Krimi




Der Ich-Erzähler Sebastian Bell erwacht in einem alten Englischen Herrenhaus ohne jegliche Erinnerung. Mit Ausnahme eines Namens, der ihm im Gedächtnis blieb: Anna.
Er weiß nicht, wie er in das Haus im Wald kam und wer er überhaupt ist.
Er glaubt einen Mord zu beobachten und ein sehr langer Tag beginnt...

Ein klassisches Setting für einen englischen Kriminalroman, das alte Herrenhaus, in dem sich mehrere Personen befinden. Es ist nicht ganz klar, zu welcher Zeit die Handlung spielt, denn es gibt Autos und Telefon, aber keine weiteren signposts zur Einordnung.
Nichts und niemand ist so wie es auf den ersten Blick erscheint, zunächst ist vieles ohne erkennbare Zusammenhänge und je nach Blickwinkel und Perspektive im stetigen Fluss. Ein Butler, eine junge Erbin, ein Dealer, ein Anwalt, ein Erpresser, der Dorfpolizist, ein Lebemann geben sich als Charaktere ein Stelldichein, ebenso klassisch wie die gesellschaftlichen Zusammenkünfte, bei der die Personen agieren: Jagd, Dinner, Drink im Rauchsalon, englisches Frühstück und Bankett. Sebastian ist in einer Zeitschleife gefangen und soll einen Mord aufklären sowie einen zweiten verhindern, immer im Anzug eines anderen Charakters, um dem Haus entkommen zu können und für diachronen selbst eine Auflösung zu finden. Er hat keine Ahnung, wer Freund und wer Feind ist, welche Ereignisse relevant sind und welche er beeinflussen darf, um seine Aufgabe zu lösen.

Der Autor Stuart Turton spult die Geschichte im Roman „Die sieben Tode der Evelyn Hardcastle“ mit überaus großer Erzählfreude ab, verwirrend und mystisch mit vielen originellen Ideen greift er tief in die Trickkiste, auch wenn die Grundidee Erinnerungen an „Groundhog Day“ weckt.
Aber das macht nichts, denn der Zusammenhang bleibt undurchschaubar, originell und voller Überraschungen, bis zum Schluß. 
Sprachlich bietet das Buch eine gute Mischung aus Old-School-Kriminalroman mit modernen Elementen, was hervorragend zum Setting passt. Das Buch ist leist lesbar, allerdings erfordert es durchaus Konzentration, den Verwicklungen zu folgen, was mir als anspruchsvollen Leser sehr gefallen hat. Ich empfehle es ganz ausdrücklich zu lesen.




Stuart Turton
Die sieben Tode der Evelyn Hardcastle
Roman, gebunden, 605 Seiten
Erschienen bei Tropen-Verlag
Am 24. August 2019
ISBN 978-3608504217

Preis 24€

Skandalträchtiger Entwicklungsroman





Das Buch „Das Lied vom roten Rubin“ ist ein Entwicklungsroman, Teil einer Trilogie über Ask Burlefot, den der Norweger Agnar Mykle 1957 veröffentlichte und der jetzt in neuer Übersetzung vorliegt. Als skandalträchtig gilt das Buch, weil es wegen Sexszenen in Norwegen verboten wurde. Allerdings wurde der Autor vom Vorwurf, eine unzüchtige Schrift verbreitet zuhaben, von einem Osloer Gericht freigesprochen. Und dem Buch war und ist großer Verkaufserfolg in weniger puritanischen Ländern beschwert gewesen.

Das alles lenkt leider etwas ab von der Geschichte, die Sittengemälde von Norwegen in den 1930er Jahren und eine Entwicklungsgeschichte ist. 
ASK Burlefot ist mittlerweile Anfang 20 und Student an der Universität in Bergen. Man begleitet ihn von 1938 bis Frühjahr 1939, in direktem Anschluss an den Vorgängerroman „Liebe ist eine einsame Sache“, der ebenfalls in Neuübersetzung erschien. Man begleitet Ask im Studentenleben, lernt Mitstudenten und Professoren kennen, erfährt von seiner Mitgliedschaft und den Mitgliedern einer sozialistischen Verbindung und nicht zuletzt auch von seinen Eroberungen der Frauen.
Bedingt durch seine Vorgeschichte, auf die es im Roman einige Hinweise gibt, ist Ask ein unsicherer Zweifler in vielerlei Hinsicht. Er zweifelt bezüglich seiner Frauengeschichten, aber eben auch bezüglich der Richtigkeit der sozialistischen Ansichten, die den Materialismus in den Vordergrund stellen.

Witzig und mit scharfen Blick, gut lesbar und dank der Neuübersetzung in moderner Sprache liest sich das Buch gut weg. Der Autor gewährt einen tiefen Blick auf seinen Hauptcharakter und auf seine Begleiter, der oft vom Sarkasmus geprägt ist. Er beschreibt gesellschaftliche und menschliche Zwänge, in die seine Figuren geraten, voller psychologischer Hingabe, ohne die damals üblichen Tabus.

Der Roman spiegelt die Norwegische Gesellschaft Ende der 1930er Jahre wieder, allerdings rückt das gegenüber der Entwicklung der Figur Ask sehr in den Hintergrund. Die Diskussionen um Norwegens Neutralität, insbesondere unter den Sozialisten, ist mir etwas zu mager ausgefallen für einen Roman, der zwei Jahr vor der Besetzung Norwegens durch die Deutschen spielt und in dessem zeitlichen Rahmenfenster Diskussionen zur Neutralität, zu Bündnissen mit anderen nordischen Staaten und zur Aufrüstung zur Verteidigung der Neutralität des Landes an der Tagesordnung waren. Ein narzisstischer Kampfgeist und Zweifler erschien dem Autor wohl interessanter, von dem nach meiner Meinung ohne seine romantischen sozialistischen Ideen, von denen er sich im Laufe der Handlung immer mehr entfernt, für mich leider nicht viel Spannendes bleibt außer seinem Hang, seine Sexualität zu befriedigen, auch wenn den dabei beschriebenen Szenen für mich wenig Pornografisches anhaftet, wie dem Autor und seinem Verleger im Gerichtsprozesse vorgeworfen wurde und was zum Verbot des Buches in Norwegen führte.

Wenn man die Zeit, in der der Roman geschrieben wurde, erschien, ist es allerdings ein durchaus revolutionäres Buch, auch wenn davon heute leider nur noch wenig spüren ist, wie gesellschaftskritisch einer der wichtigsten Norwegischen Autoren schrieb. Vielleicht sollte man auch den ersten Band der Trilogie zuerst lesen, um der Hauptfigur mehr Tiefe abgewinnen zu können. Denn trotz der Hinweise und Rückblicke auf seine Vergangenheit blieb Ask für mich etwas zu blaß und wenig greifbar, was sicher nicht zuletzt daran liegt, dass von ihm in der dritten Person gesprochen wird.

Trotz meiner Kritikpunkte ist es ein lesenswertes drei-Sterne-Buch, dem bei der Einführung durch den Verlag sicher gut getan hätte, den Zusammenhang zu den anderen Bänden zu erwähnen und nicht auf der Skandalwelle zu reiten.

Der Autor Agnar Mykle verarbeitet in der Trilogie eigene Erlebnisse, alle drei Romane tragen autobiografische Züge. Er selbst besuchte Ende der 1930er Jahre die Handelshochschule in Bergen, war in den 1940er Jahren Journalist in der Arbeiterbewegung.
Nach dem Skandalprozess um das vorliegende Buch zog er sich zurück.
Seine Romane sind geprägt von Satire, Gesellschaftskritik und Abhängigkeiten, insbesondere auch durch sexuelle Zwänge.

Agnar Mykle „Das Lied vom roten Rubin“
Roman gebunden, 448 Seiten
Neuübersetzung
erschienen im Ullstein Verlag
am 27. September 2019
ISBN 978-3550050022

Preis 26€

Märchenspannung für Erwachsene




Ein bisschen skeptisch war ich, als ich das Buch zu lesen (und aus Zeitgründen parallel das Hörbuch zu hören) begann. Ich kenne den großartigen Film „Pan’sLabyrinth“. Ich mag die Geschichten von Cornelia Funke. Aber passen Guillermo del Torro und Cornelia Funke zusammen?
Ja, sie tun es, und zwar hervorragend! Herausgekommen ist ein Buch, das an der Schnittstelle zwischen Realität und Fantasy genau das Richtige Maß an realistischer Gewalt aus dem spanischen Bürgerkrieg in den 1940er Jahren und Fantasyelementen aufweist, die auf Märchen beruhen. Es ist sprachlich sehr angemessen für das Genre, auch für mich als anspruchsvoller Leserin, und es ist definitiv kein Kinderbuch.

Die 13jährige Ophelia und ihre hochschwangere Mutter ziehen in die spanischen Berge, zum neuen Stiefvater, dem Hauptmann Vidal, der dort mit seinen Falangisten-Truppen stationiert ist. wie im Bürgerkrieg zwischen Republikanern, die sich im umliegenden Wald verstecken und teilweise aus Vidals eigenen Reihen unterstützt werden, und den Anhängern des General Franco herrscht im Haus von Vidal viel Grausamkeit. Ophelia flüchteten magische Welten, die in den Wäldern um Vidals alte Mühle zu finden sind, und stößt dabei auf einen Faun, der ihr drei Aufgaben zur Lösung stellt, als Beweis dafür, dass Ophelia die vor langer Zeit verschwundene Prinzessin seines unterirdischen Reiches ist.

Das Fantasydrama „Pan‘s Labyrinth“ ist die Vorlage für den Roman von Cornelia Funke, die daraus ein magisches Märchen für Erwachsene gemacht hat. Das Buch überzeugt, wie schon die filmische Variante, durch den Realitätsbezug zum Spanischen Bürgerkrieg und ein Kind, das aus genau dieser grausamen Realität in eine ebenso grausame Märchenwelt flieht, dort jedoch mehr Chancen zum Überleben bekommt.

Poetisch und bildhaft schreibt Cornelia Funke die Geschichte, und auch wenn es manchmal ein bisschen zu melodramatische Formulierungen gibt passt die Sprache für mich insgesamt sehr zum realen und zum magischen Geschehen. Ophelia, die mutige Heldin der Geschichte, die in zwei Welten versucht, das Böse zu bekämpfen, findet leicht Zugang zum Herzen der Leser.
Wie im Märchen sind Gut und Böse natürlich klar getrennt, allerdings gelingen der Autorin ein paar Grauzonen, die die Geschichte spannender machen.

Ein lesenswertes Buch, das nicht kindertauglich ist, als Hörbuch ganz wunderbar gelesen von Tom Voigt, den ich als Hörbuchsprecher bisher nicht kannte, empfehle ich das Buch gerne mit vier  Sternen.

Das Labyrinth des Faun
Cornelia Funke, Guillermo den Torro
Gebunden, 320 Seiten
Verlag Fischer Sauerländer
Erschienen am 2.Juli 2019
ISBN 978-3-737356664

Preis 20 €

5. September 2019

Grausam und schön





Dicht und voller Poesie das Elend übertünchend schickt der italienische Autor Giosuè Calaciura in seinem Buch „Die Kinder des Borgo Vecchio“ den Leser in das Armenviertel von Palermo, irgendwann in der jüngeren Vergangenheit. Märchenhaft und Symbolträchtig setzt er Ungerechtigkeit, Armut und Trostlosigkeit gekonnt in Szene, emporgehoben von kleinen Freuden, die wie ein plötzlich auftauchender Sonnenstrahl am Wolkendrohenden Himmel Schönheit auch unter all dem Dreck und Gestank vermuten lassen und manchmal fast biblisch wirken.

Mimmo, Cristofano und Celeste fristen ein bedauernswertes und tristes Dasein im Borgo Vecchio, wo alle Träume im Schmutz erstickt sind, Armut und Gewalt das Leben bestimmen und Willenlosigkeit dem Ausbruch aus all dem Elend vereitelt. Die Kinder hegen dennoch heimliche Träume und vergöttern den Gauner Totò, weil er märchenhaft schnell alle austrickst, der Obrigkeit entkommt wie der Wind und scheinbar jenseits aller Grenzen agiert.
Die brutale Wirklichkeit fängt sie immer wieder ein, wenn Cristofano von seinem Vater allabendlich geprügelt wird und alle Nachbarn sein Schreien überhören, wenn Celeste Tage und Nächte auf dem Balkon verbringen muss weil ihre Mutter, die Prostituierte des Viertels, sich um Freier kümmert und die Tochter aussperrt und wenn Mimmos Vater, der Fleischer des Viertels, der Aufschneider und Betrüger, die Armen noch mehr ausnimmt. Wenn hingegen allabendlich der Brotduft durch das Viertel zieht, glätten sich alle Wogen des Tages, märchenhaft fühlt man sich beim Lesen, und kann dabei das Brot fast selbst riechen.

In der Gemeinschaft findet jeder seinen Platz, egal ob mit aller Brutalität oder voller Güte. Wenn Cristofano allabendlich verdroschen wird ist das sein Schicksal und das seines Vaters, vorgezeichnet und unabweichbar beide aneinander bindend.  
Die drei Kinder geben sich gegenseitig Halt, und obwohl sie der Kralle des Elends scheinbar nicht entkommen können, versuchen sie immer wieder, den Kreislauf zu durchbrechen.

Der Roman, der 2017 mit dem Premio Volponi ausgezeichnet wurde, besticht durch die grandiose poetische Sprache, mit der Bilder lebendig werden, mit dem Zwingen des Lesers, den Blick nicht abzuwenden von fast nicht auszuhaltender und nebenbei erzählter Not und Gewalt. Und die Geschichte kommt trotz des Elends oft märchenhaft und leichtfüßig daher. Man bekommt neben dem Zoom auf die Armut ein Gefühl für die Gelassenheit, die die Menschen das alles ertragen lässt.

Vieles wirkt vorsinnflutlich, anderes modern und dem Zeitgeist entsprechend. Es passieren wunderliche Dinge, die an Märchen erinnern, und symbolträchtige Ereignisse lassen an einen alttestamentarischen rachsüchtigen Gott denken. Grausamkeiten werden oft wie nebenbei angesprochen, finden manchmal keine direkte Erwähnung, fast ignorant steigt der Autor darüber hinweg, und sie wirken dadurch umso eindringlicher, weil sie so sehr zum alltäglichen Leben gehörend wirken.

Das Buch hat mich angezogen und abgestoßen zugleich, und ich kam mir manchmal wie in einer surrealen Italienischen Oper festsitzend vor. Sprachlich absolut fesselnd und grandios ist es ein  grausam schönes Buch, das sich in der Kitschecke ebenso bedient wie im Alten Testament, das Brutalität durch ständige abscheuliche Beschreibung aufzeigt, und ein fast opulentes opernhaftes Ende kann nicht trösten, will es auch nicht.
Ich habe mich schwer getan mit der Bewertung, mich letztlich für vier Lesesterne entschieden.



Giosuè Calaciura
Die Kinder des Borgo Vecchio
Roman, gebunden 153 Seiten
Aufbau Verlag 12. Juli 2019
ISBN 978-3351037902

Preis 18€

4. September 2019

Genie und Wahnsinn




Als „das Augenkrebsbuch“ kursiert der Roman von Angela Lehner “Vater unser“ in meinem Leseforum wharchareadin, und allein das Cover ist ein Schlag ins Gesicht - knallpink und rot, und auch schon der Titel gibt Anlass zu fragen, ob der echte Vater oder Gott gemeint ist. Dazu trägt bei, dass das Buch in drei Akte geteilt ist: Der Vater. Der Sohn. Der heilige Geist.
Knallig, rotzig und kraftvoll ist die erzählte Geschichte, bei der es um eine junge geistesgestörte Patientin im altehrwürdigen Spital „Otto Wagner“ geht.

Eva Gruber wird von der Polizei im Spital abgeliefert, weil sie eine Kindergartengruppe umgebracht haben soll. Sie trifft dort ihren Bruder Bernhard, ebenfalls Patient, den sie retten will.
Erzählt wird im Roman ihre Geschichte aus der Ich-Perspektive, über den Aufenthalt in der psychiatrischen Heilanstalt mit Rückblicken auf die Kindheits- und Familiengeschichte. Immer wieder taucht ihr Vater in den Erinnerungen auf, und auf ihn ist Eva nicht gut zu sprechen, beschließt sogar, ihn zu töten zu Bernhards Rettung.
Eva, die unzuverlässige Erzählerin, berichtet in Sitzungen ihrem Psychiater Dr. Korb aus ihrem Leben, im Ton der Straße, völlig respektlos und raubeinig. Es wird sehr schnell klar, dass sie eine völlig verdrehte Beziehung zur Realität hat, die Irrwege ihrer Familie durch die Augen einer Geistesgestörten sieht. 

Beim Lesen der Gespräche zwischen Eva und Korb, wie sie ihn nennt, fragt man sich zeitweise, wer von beiden der Gestörte ist, muss auflachen über den Schlagabtausch und kurz danach bleibt das Lachen im Hals stecken. Verrückt sind die da draußen, die sich scheinbar ohne Mühe einfügen und mitspielen ist der Ton hinter den Gesprächen zwischen Psychiater und Patientin.
Die Gesunden machen die Regeln und stecken das enge Feld der Normalität ab, wie der Pfleger, der Eva das Werfen der Bettdecke verbietet, oder der Lehrer, der sie schlug, weil sie vor lauter Angst glaubte, das Vater Unser nicht aufsagen zu können.

Schnörkellos und mit einer gut überschaubaren Menge an Personal erzählt die Autorin Evas Geschichte, die sich auch immer wieder auf die Schuld der Familie bezieht, von der Eva allerdings glaubt sie nicht zu brauchen, weder zum Leben noch zum Töten. 
Trotzig und energiegeladen spielt Eva ein Katz und Maus - Spiel mit den Ärzten und Patienten im Spital, manipuliert und lügt, hält mit aller Kraft gegen Tristesse und eingefahrenen Gleise. Voller Ironie beschreibt die Autorin Themen der Psychotherapie und das Milieu der Kindheit in Kärnten mit dem ländlichen Katholizismus und dem ungläubigen Vater mit Heiligenschrein von Jörg Haider im heimischen Arbeitszimmer.

Parodistisch und ironisch ergibt das ein äußerst unterhaltsames Debüt mit einigen Überraschungen, Klischees werden gekonnt umschifft, Fettnäpfchen gesucht und genüsslich darin herumgetrampelt, während völlig nebenbei Krankenhauspathos demontiert wird.
Mir hat‘s gefallen, sehr sogar.

Angela Lehner „Vater unser“
Roman gebunden, 284 Seiten
Erschienen bei Hanser Berlin
18. Februar 2019
ISBN 978-3446262591
Preis 22€

1. September 2019

Master of the Universe





In seinem Buch „Willkommen in Lake Success“ lässt der Autor Gary Shteyngart einen neureichen Hedgefondsmanager auf das arme Amerika prallen, im Greyhound-Bus quer durchs Land im Jahr des Wahlsieges von Donald Trump.

Unsympathisch und tragikomisch ist Barry Cohen, einstmals leuchtender Stern am Hedgefondshimmel, jetzt mit der Finanzaufsicht wegen Insidergeschäften im Nacken auf der Flucht aus seinem augenscheinlich perfektem Manhatten-Leben mit Frau und autistischem Sohn. Mit einem Koffer voller teurer Uhren landet er mitten in der Nacht an einer Greyhoundstation und macht sich auf den Weg zu seiner Jugendliebe aus Collegetagen.
Barry hat in seiner freudlosen Jugend hart daran gearbeitet, mit Menschen umzugehen, mit einstudierten Freundschaftssätzen begibt er sich unter seine Mitmenschen, die er nerdhaft und distanziert eher als Streichelzoo und Projekte denn als gleichberechtigt betrachtet.
Begeisterungsfähig stolpert er durch viele Begegnungen mit dem armen Amerika, ist mittellos, blind für die Gefühle anderer. Und auch wenn es oft den Anschein hat, dass er abstürzt landet Barry immer wieder auf den Füßen. Er sieht sich als Mentor für Junkies und Abgehalfterte, hat große Pläne für junge Drogendealer, die immer als Parallelspur neben der Realität verlaufen.

Vom Sohn eines jüdischen Poolreinigers zum Superreichen und dann im Freien Fall in den Abgrund, kurz davor gestoppt und wieder aufgestiegen ist der turbulente Weg von Barry, die meiste Zeit begleitet vom Ticken seiner teuren Uhrensammlung, bis ihm auch diese letzte Verbindung zu seinem alten Luxus-Leben in einem Greyhound-Bus gestohlen wird. Mit immenser Leutseeligkeit und Naivität scheint Barry durch und in Begebenheiten zu taumeln, manipulativ und mitleiderregend, auf der Suche nach Glück und dem wahren Leben, großherzig im Kleinen und ein wahres Raubtier bei großen schmutzigen Geschäften. Widersprüchlich und zerrissen wie sein Charakter ist auch sein Handeln.

Gary Shteyngart nimmt seine Leser mit auf eine Wahnsinnstour durch Amerika kurz vor Trumps Wahlsieg. Er zeichnet ein Sitten- und Stimmungsgemälde des reichen und armen Amerika im Jahr 2016, bitterböse satirisch, schön und schäbig, oft nur als Blitzlichter am Rand von Barry‘s Greyhound-Tour. 
Man muss sich schon Zeit lassen beim Lesen, sonst übersieht man schnell ein paar Feinheiten, und das ist schwer bei der soghaften Art des Erzählens von Shteyngart.
Und man hat manchmal das Gefühl, dass man genau diesen Menschen lieber nicht begegnen möchte, die Barry trifft. Gary Shteyngart versteht es, den Finger immer wieder in die Wunde zu führen, keine der Figuren taugt wirklich als Sympathieträger, und das ist tatsächlich großartig umgesetzt. Man ist gefesselt, wenn auch manchmal voll Abscheu und Unglauben, doch manchmal voller Empathie für eine bestimmte Handlung Barry‘s. Es ist ein genialer Roman, oft völlig und mit ganzer Absicht überzeichnet, witzig und abgründig, satirisch und bitterböse.
Einzig der Schluß macht mich ein ganz klein wenig unzufrieden, denn Shteyngart versucht den Leser mit Barry zu versöhnen und hat letztlich Mitleid mit ihm. Aber das ist wohl einfach nur Geschmackssache.

Das Buch ist unbedingt lesenswert für alle, die böse augenzwinkernde amerikanische Satiren mögen, so wie ich.


Gary Shteyngart „Willkommen in Lake Success“
Aus denn Englischen von Ingo Herzke
Roman gebunden, 432 Seiten
Erschienen im Penguin Verlag
Am 15. April 2019
ISBN 978-3328600695
Preis 24€

25. August 2019

Wendezeit - Nostalgie





Warmherzig und humorvoll, leichtfüßig und mit einem Augenzwinkern erzählt Gregor Sander in seinem Roman „Alles richtig gemacht“ die Geschichte einer Männerfreundschaft rund um die Wendezeit.

Thomas und Daniel lernen sich auf dem Schulhof in Rostock kennen, und trotz oder wegen ihrer Gegensätzlichkeit werden sie Freunde. Thomas der Sohn einer kleinbürgerlichen Familie, deren Drogeriegeschäft zwar die DDR, nicht aber die Wende überlebt, fühlt sich zum raubeinigen furchtlosen Daniel hingezogen, dessen Mutter ihn nach einer Affäre mit ihrem verheirateten Chefarzt allein aufzog. Als Teenager kurz nach der Wende wohnen sie zusammen im heruntergekommenen Hafenviertel in Rostock, nostalgisch und frei unter dem Dach. Thomas beginnt nach der Armeezeit eine Ausbildung in Handel. Daniel lernt Koch, hat aber in Rostock keine Chance mehr zu arbeiten und zieht nach einem Zusammenstoß mit Neonazis nach Berlin. Einsamkeit in Rostock, die auch seine Freundin Kerstin nicht ändert, folgt er Daniel.
Berlin in der 1990ern zeigt den Freunden ungeahnte Möglichkeiten. Thomas bewegt sich in die konventionelle Richtung und studiert, Daniel tanzt mit Drogen und kleinkriminellen Machenschaften auf dem Vulkan. Ihre Wege trennen bei einer Irland-Reise die sie gemeinsam mit Thomas Freundin Kerstin und deren Freundin Manne, unternehmen. Daniel beschließt zu bleiben.
Jahre später taucht Daniel bei Thomas wieder auf, als dieser ein bürgerliches schmerbäuchiges Leben als Partner in einer Rechtsanwaltskanzlei in Berlin Moabit führt, das gerade aus den Fugen zu geraten droht. Seine Frau Stephanie hat ihn mit den beiden Töchtern nach einem Streit verlassen und er versteckt sich trinkend und rauchend eine Woche krank in seinem Haus in Berlin, der ehemaligen Libyschen Botschaft der DDR, bis ihn seine Kanzleipartnerin zurückpfeift. 
Genau zu diesem Zeitpunkt taucht Daniel wieder auf, und man begleitet ab diesem Zeitpunkt den nunmehr fast 50jährigen Thomas in der Gegenwart eine Woche lang durch seine Tage, angefüllt mit rückblickenden Kapiteln dazwischen, die die Geschichte von Thomas und Daniel erzählen.

Gregor Sander versteht es ausgezeichnet, die Stimmung vor und auch nach der Wende einzufangen. Er erzählt in einem nüchternen Ton ohne Pathos, mit viel Augenzwinkern, so dass ich ihm sehr gerne gefolgt bin und an vielen Stellen Erinnerungen ausgraben konnte, die mir ein Lächeln ins Gesicht gezaubert haben. Ich habe mich sowohl in Rostock (das ich kaum kenne) als auch in Berlin (das ich gut kenne) sehr zuhause gefühlt während des Lesens. Der Grundtenor des Aufbruchs und des Umbruchs, die Chancen für einen Neuanfang ohne das alte System hat Gregor Sander sehr gut wiedergegeben. Typische Geschichten, die überall im ehemaligen Osten passierten, verflechten sich kunstvoll und wie von selbst mit den persönlichen Erlebnissen von Daniel und Thomas, deren Geschichte aus Ostdeutscher Sicht gar nicht so ungewöhnlich ist.
Anker in der Zeit sind Ereignisse wie Rostock Lichtenhagen, als Neonazis tagelang Asylanten terrorisierten und alle zusahen, 9/11 oder auch der G8-Gipfel in Heiligendamm.
Schlimme Ereignisse, die genau wie der Niedergang, die hohe Arbeitslosigkeit und die Existenzangst im Osten eben mal nicht die Hauptrolle spielen, sondern zwar Erwähnung finden, aber die Grundstimmung nicht bestimmen, ohne dass diese einfach nur Freudentaumel wäre. 

Mir gefällt dieser Umgang damit sehr gut, denn für mich ist es ein sehr lesenswertes Buch, das genau hinschaut ohne zu urteilen und die Stimmung damals sehr gut einzufangen vermag. Und Gregor Sander kann erzählen, nimmt den Leser mit auf seine spannende Tour in die klischeefrei dargestellte Vergangenheit. Über die beiden Protagonisten Thomas und Daniel lässt sich streiten, genauso über die titelgebende Frage, ob sie alles richtig gemacht haben, denn natürlich wird vieles eben nicht richtig gemacht.
Das Buch bekommt von mir eine Leseempfehlung und vier Sterne. Ganz am Schluß war ich ein bisschen unglücklich damit, dass der Autor mich etwas zu schnell führte und Ereignisse sich überschlugen. Aber das ist Geschmacksache und schmälert meinen Lesegenuss nicht wirklich.




Gregor Sander „Alles richtig gemacht“
Roman gebunden, 240 Seiten
erschienen am 19. August 2019
im Penguin Verlag
ISBN 978-3-328606673

Preis 20 €